Gibt es das Wagnis noch?
Gibt es das Wagnis noch?
„Zum Erfolg verdammt“ ist ein Satz, den man im Operngeschäft immer öfter hört. Was das heißt? Das heißt, dass etwas so hoch gehängt wird, so monumental gecastet wird, so intensiv gehypet wird, dass ein Misserfolg nicht mehr in Frage kommt, nicht mehr sein darf.
Insgesamt produzieren Opernhäuser eher wenig Uraufführungen im Vergleich zum Normalrepertoire, daher lastet auf diesen Uraufführungen immer eine besondere Verantwortung. Die Komponisten zittern ihre Erstlingsoper könnte kein dauerhafter Erfolg werden (was sie – bittere Wahrheit – in 99,9999% aller Fälle ohnehin nicht wird, auch wenn es sich um ein Meisterwerk handelt). Die Intendanten zittern um Subventionen und Platzbezuschussungen. Die Dramaturgen um ihren nächsten Job. Die Regisseure zittern am wenigsten, da man ihnen bei Uraufführungen vielleicht am wenigsten auf die Finger schaut, man kennt das Stück ja noch nicht. Das Publikum zittert davor, nichts zu verstehen. Das verstehe ich nicht.
Und da heutzutage niemand mehr zittern will, wird alles dafür getan, sich abzusichern. Und dafür gibt es natürlich Mittel und Wege.
Man kann Stars anheuern, die Zugkraft beim Publikum haben. Große Namen, die davon ablenken, dass man vielleicht weder die Oper noch den Komponisten kennt. Man kann eine gigantische Werbemaschinerie anwerfen. Man kann einen Stoff wählen, den alle aus Film und Fernsehen kennen oder der „im Gespräch“ ist. Man kann einen Stoff wählen, den niemand stört, auch das geht. Am besten was Antikes oder von Shakespeare. Man kann auch etwas über das Dritte Reich oder Rassismus und Verfolgung machen, dann finden es zwar vielleicht einige nicht gut, trauen sich aber dann nicht, es zu sagen.
Erfolge werden heutzutage sehr oft „gemacht“, sie kommen dann nicht aus einer inneren Strahlkraft oder Wahrhaftigkeit eines Werkes. Diesen eigentlich wichtigen Attributen eines Werkes wird nicht mehr intensiv genug nachgelauscht, da man es noch nicht einmal mehr wagt, den scheinbar gescheiterten Stücken eine zweite Chance zu geben. Was wenig Hoffnung auf eine neue „Carmen“ macht.
Manchmal läuft diese Maschinerie so perfekt, dass man gar nicht mehr beurteilen kann, ob diese Wahrhaftigkeit da ist oder nicht. Man darf dann auch niemandem Unrecht tun. „South Pole“ von Miroslav Srnka (einem hervorragenden Kollegen, der feine und klanglich raffinierte Musik schreibt) an der Staatsoper mag hier ein Beispiel sein. Da führt das Regie-Urgestein Hans Neuenfels Regie, Petrenko dirigiert, Stars wie Hampson oder Villazon singen. Alles ist vom Feinsten, und es wird – natürlich – ein Erfolg. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass bei aller Freude über eine erfolgreiche neue Oper eines doch seltsam dünkt: Das Ganze ist eine Oper über zwei Südpolexpeditionen, bei der Männer alles riskierten und aufs Spiel setzten und dabei ihr Leben verloren. Es ist also ein Stück über ein großes Wagnis. Aber die Oper darüber ist eben überhaupt kein Wagnis, sondern zum Erfolg verdammt. Und man kann das keinem der Beteiligten zum Vorwurf machen, es ist einfach ein Zeichen der Zeit.
Gibt es das Wagnis überhaupt noch? Man kann philosophisch werden und argumentieren, dass wir in einer zunehmend unübersichtlicheren Zeit leben, in der quasi jeden Tag dutzende von Terrorgruppen miteinander absprechen wo sie mal wieder Unschuldige in den Tod reißen können um das obligate Tagesattentat zu begehen, auf das schon jeder Tagesschau-App-User wartet. Will man da nicht vielleicht das Wagnis aus den kontrollierbaren Bereichen wie Kunst und Kultur entfernen? Damit man wenigstens dort Ruhe hat?
Deswegen gibt es ja politische Korrektheit, denn Anzuecken wäre…ein Wagnis. Deswegen gibt es Zensur, denn aufzufallen wäre…ein Wagnis. Deswegen gibt es Kompositionsaufträge, Lehraufträge, Stipendien, Festivals und Preise, denn freies Komponieren ohne diese Absicherung wäre… ein Wagnis.
Wenn aber nirgendwo Wagnis ist, wie sollen wir dann aus unseren Erfahrungen lernen? Ein Kind lernt Laufen, weil es hinfällt. Es lernt Fahrradfahren, weil es mit dem Fahrrad umfällt. Es lernt sprechen, weil es erst lallt und stammelt. Das Scheitern ist keine Schande sondern eine Notwendigkeit um sich einmal vorwärts bewegen zu können.
Natürlich gibt es Bereiche des Lebens, in denen ein Scheitern wirklich unerwünscht ist. Wir wünschen uns nicht, dass der Pilot bei der Landung scheitert, daher hat er vorher bei hunderten Flügen assistiert und ist im Simulator ein paar Mal gegen die Alpen gekracht. Hier ist es vollkommen richtig, nicht scheitern zu wollen.
Aber warum darf man heute in der Kunst nicht mehr scheitern? Gibt es da irgendwas Ehrenrühriges daran? ALLE großen Komponisten sind immer wieder gescheitert. Und sind durch dieses Scheitern erst zu den Komponisten geworden, als die wir sie kennen.
Man stelle sich einen Richard Wagner vor, den man in die heutige Zeit überträgt und der einen prestigeträchtigen Erstlingsopernauftrag bekommt. Man würde alles tun, sich abzusichern, alles tun, um irgendein zu großes Ausschlagen des Pendels in irgendeine Richtung zu vermeiden. Hätte er sich unter diesen Umständen so entwickelt? Das ist doch der Punkt: Wagner wurde nämlich in einer Zeit groß, die so reich an Opernhäusern und Aufführungsmöglichkeiten war, dass er es sich leisten konnte ein halbes Dutzend Mal kläglich an seinen Opern zu scheitern. Um dann schließlich aus diesen Erfahrungen heraus seine eigene und unverwechselbare Tonsprache zu entwickeln.
Oder anders gesagt: Es gibt sehr interessante Misserfolge, aber auch vollkommen uninteressante Erfolge.
Wie auch immer: ich wünsche mir das Wagnis zurück. Eine experimentelle Oper in einer „Laborsituation“ auf einem Neue Musik-Festival aufzuführen, ist kein Wagnis, denn ich sage ja quasi schon vorher, dass ich nur ein bisschen was ausprobiere. Sie in Wacken vor einem Heavy Metal-Publikum aufzuführen? DAS ist ein Wagnis. Das zu Erwartende tun kann nie ein Wagnis sein, deswegen ist Neue Musik schon alt, bevor sie aufgeführt wird, einfach, weil man sie schon gleich „neu“ nennt. Was soll das überhaupt? Wir sollten doch vielleicht erst einmal schauen, ob das Ganze überhaupt neu ist, und es DANN ERST „Neue“ Musik nennen. Ständig wird das Neue deklariert und angekündigt, aber gar nichts ist neu, es ist immer dasselbe. Es muss ja auch nicht alles ständig neu sein.
Und zwischendrin, vollkommen unvermutet und überraschend kommt es dann doch: Das Neue. Und das ist immer ein Wagnis, denn man weiß ja noch gar nicht, ob das funktioniert. Gut so. Denn sonst wäre sein Funktionieren ja auch nichts wert, sondern nichts als eine Erfüllungspflicht, so wie ich erwarte, dass das Licht angeht, wenn ich auf den Schalter drücke.
Kunst ist aber weder ein Schalter noch eine Glühlampe sondern das große Unbekannte.
Es geht mir nicht um Provokation, um Schock oder Kontroverse. Es gibt große Kunst, die gerade in ihrer vermeintlichen Harmlosigkeit radikal ist (Satie). Und es gibt Provokateure, die die Provokation planen wie eine Steuererklärung.
Ich bin sicher: Der Weg des größten Wagnisses ist der interessanteste Weg. Nicht der sicherste aber der interessanteste. Im Scheitern kann der wahre Triumph verborgen liegen.
Mehr Wagnis wagen? Das könnte gehen.
Aber auf jeden Fall vorher ein bisschen absichern. Es könnte ja sonst zu gewagt sein.
Moritz Eggert
Komponist