Über das Verschwinden von Martin Gellrich

Ich möchte heute über Martin Gellrich erzählen. Martin Gellrich – oder Dr. Martin Gellrich. Oder doch Dr. Dr. Martin Gellrich?

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Mir gegenüber sagte Gellrich einmal, er habe drei Doktortitel. Ich wusste nicht so recht, ob ich ihm glauben sollte… Zuzutrauen wäre es ihm gewesen. Aber es könnte genauso gut anders sein.

Martin Gellrich

Martin Gellrich wurde 1953 in Bad Kissingen geboren und war Mitglied der Regensburger Domspatzen, deren Musikgymnasium er auch besuchte. Er studierte Klavier, Violoncello, Schulmusik, Musikwissenschaft, Psychologie, Musikpädagogik, Philosophie, Soziologie, Englisch und Französisch.

Seine wissenschaftliche und auch praktische Hauptbeschäftigung galt der Frage, wie Pianisten im 18. und 19. Jahrhundert Klavier geübt haben. Er veröffentlichte viele Aufsätze und Artikel – auch hier und hier, in der nmz. Eine Freundin von mir berichtet, sie habe Martin einmal getroffen, als er an einem alten Bechstein-Flügel mit einer Nachbildung jener „Übe-Maschine“ saß, die Robert Schumann einst die Hände kaputt gemacht habe.

Warum schreibe ich diesen Artikel? Nun, eine kurze Zeit lang – vor allem im Jahre 2003 – hatte ich mit Martin Gellrich zu tun. In welchem Zusammenhang, darauf möchte ich hier nicht näher eingehen. Es ist auch nicht interessant.

Martin Gellrich war ein merkwürdiger Zeitgenosse. Er konnte sich in Theorien richtig reinsteigern. Mit Emphase – aber manchmal auch mit Wut.

Einmal saß ich am Klavier – und übte Schuberts „Moments musicaux“. Martin war dabei – wollte mich unterrichten. Ich weiß noch, wie wir darüber diskutierten, wie man den schlichten Anfang des ersten Stückes in C-Dur spielen sollte. Martin war der Auffassung, dass die Pianisten im 19. Jahrhundert rhythmisch sehr flexibel, quasi improvisatorisch spielten, mit saftigen Akzenten, Oktavierungen, Verzierungen, Ausschweifungen… Er spielte mir den Anfang des C-Dur-Stückes vor. Fast hektisch, unruhig. Dabei ist dieses erste Stück ein Ruhepol, eine Natur-Meditiation, so dachte ich. Irgendwas habe ich von dieser Klavierstunde aber mitgenommen: Es muss Leben in den Beginn hinein! Und tatsächlich – da hatte Martin nicht Unrecht – spielen mir viele Pianisten unserer Zeit viel zu „clean“, zu brav, zu diktiert.

Im Juli 2004 wurde in der Berliner Zeitung ein Artikel veröffentlicht. Martin Gellrich hätte eine spätklassizistische Villa in Berlin-Dahlem gekauft. Er hatte damals vor, dort ein alternatives Musikinstitut einzurichten. Ich konnte das kaum glauben – und wir hatten zu dieser Zeit auch schon keinen Kontakt mehr. Vor allem konnte ich mir nicht vorstellen, wo Martin das viele Geld für die Villa hätte haben können. Und tatsächlich erschien im März 2005 ein Artikel, der besagt, dass der Kauf der Villa durch Gellrich geplatzt wäre. Er wäre seinen „vertraglich geregelten Verpflichtungen“ nicht nachgekommen.

Was ist aus der Villa in der Koselerstraße 8-12 geworden? Laut diesem Artikel sind ab 2007 mehrere Stadtvillen auf dem Gelände erricht und das Haus selbst zwischen 2009 und 2010 instand gesetzt worden.

Die letzten Suchmaschinen-Ergebnisse zum Namen „Martin Gellrich“ sind schon viele Jahre alt.

Ganz vergessen habe ich Martin nicht. Denn er war ein besonderer Mensch. Ein Mensch, der aber auch sehr unangenehm werden konnte. Ein Einzelgänger, ein Verrückter. Ein Besessener. Jemand, der es anderen nicht einfach machte – dem es selbst aber auch wohl nicht sehr einfach gemacht wurde. Einmal erzählte mir Martin, er habe das Angebot einer Professur am Salzburger Mozarteum abgelehnt. Und wieder wusste ich nicht, ob ich ihm glauben sollte.

Damals fragte mich Martin, ob ich möglicherweise seinen Band mit den späten Beethoven-Sonaten versehentlich mitgenommen hätte. Ich verneinte das, stellte aber viele Monate später fest, dass der Band tatsächlich bei mir im Regel stand.

Neulich nahm ich diesen Band, dessen Herkunft ich schon fast vergessen hatte, wieder zur Hand. Denn im letzten Sommer sprach mich jemand auf Martin Gellrich an. Dieser Herr war der festen Überzeugung, dass Martin schon vor ein paar Jahren verstorben sei. Jedenfalls käme Post an Gellrichs Adresse in Berlin-Moabit zurück. Ich war verwundert, dass man dann einfach davon ausging, Gellrich weile nicht mehr unter den Lebenden, ja, sei freiwillig aus dem Leben geschieden.

Aber zuzutrauen wäre es ihm.

Ich bin nachdenklich geworden. In unserem feinen Musikbetrieb begegnen wir ja vielen Charakteren, die „schwierig“, besessen, auch mal aufdringlich sein können. Menschen, die wir ausgrenzen, mit denen wir lieber nichts zu tun haben wollen. Zumal, wenn sie beispielsweise keinen institutionellen oder anders gearteten Einfluss haben. Ja, unser hehrer Musikbetrieb steckt voller Opportunismus. Und wenn dann jemand stirbt, dann sind wir plötzlich – wie ich – „nachdenklich“ und emotional. Und geben vor, so etwas wie Trauer und ehrliches Mitleid zu empfinden. Vielleicht schreiben wir sogar einen Nachruf.

Ich habe – wie gesagt – recherchiert. Tatsächlich ist von Martin Gellrich im Netz nichts Aktuelles zu finden. Ich habe ein paar Emails geschrieben, an Leute, die eventuell mehr wissen könnten. Ein Detektiv bin ich auch nicht. Ich würde mir nur wünschen, dass Martin Gellrich noch lebt. Habe aber das Gefühl, dass dem nicht mehr so ist.

Dann soll dieser Artikel eben ein Nachruf sein. Ein Nachruf auf einen vergessenen, einen verrückten – aber auch einen beeindruckenden, talentierten Musiker.

Martin: Ich würde dir gerne deinen Beethoven-Sonaten-Band zurückgeben. Persönlich. Ich lege ihn dir notfalls auch auf dein Grab.

Martin Gellrichs Beethoven-Sonaten-Band, den ich ihm nie zurückgegeben habe

Martin Gellrichs Beethoven-Sonaten-Band, den ich ihm nie zurückgegeben habe

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

6 Antworten

  1. Wendelin Bitzan sagt:

    Ist / war Martin möglicherweise verwandt mit einem Herrn namens Armin und des gleichen Familiennamens?

  2. Ich hatte ja ein paar Mal in Bad Kissingen zu tun, und irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor…sehr mysteriöse Geschichte, ich hätte da aber auch einige Fälle zu berichten!

  3. Armin Gellrich sagt:

    Mein Bruder Martin lebt zur Zeit im Raum Nürnberg…

  4. haimo sagt:

    Hallo Martin hallo Armin!

    Seit Jahren suchen wir Euch beiden.
    Die Rede ist von W. Blaschka und H. Herrmann
    Martins Klassenkamerad in Etterzhausen.
    Wir leben in München und engaieren uns sehr stark
    bei in der Aufarbeitungs Problematik im Kaff.
    wennihr Euch bitte bei mir meldet
    mailto.hhh.aufarbeitung.etterzhausen@cablemail.de
    Vielen Dank
    Haimo

  5. Francisco Monteiro sagt:

    Hat jemand Prof. Martin gefunden? Was macht er jetzt? E-Mail?
    Ich wurde gern ihm zu eine Konferenz einzuladen