Donaueschingen 2015 – die ersten zwei Tage
Gute Unterhaltung, das ist mein Stichwort dieses Jahr für Donaueschingen. Wort-, Klang- und Sprachfetzen, egal wo man sich befindet, gerade wenn ältere Semester plauschen: „Isch ‚abe ein Sdück für die Carolin geschrieben.“ Oder: „Ich habe beim Henze studiert, war aber nicht schwul.“ Oder: „Die spielle hierr nur z’Erholig.“ Oder: „Immer muss der XXX auffallen und seinen Stiefel durchziehen.“ Oder, und so weiter. Bessere Unterhaltung bot am Samstag Morgen das Nadar-Konzert. Mirror Box Extensions von Stefan Prins war für mich wie mein naives Kasperletheater mit fünf Jahren: damals begeisterte mich in der Schwanensee-Ballett-Inszenierung die Unmengen an Gaze-Vorhängen, die immer wieder herunterfielen, wenn es düster wurde. Mit selbstgemalten Bühnenbild und staubigen, alten Gardinenfetzen, transparentem Papier auf der Taschenlampe, Kasperle als der weiße Schwan und der Teufel als der schwarze ging es zur Sache. Jeder Besucher meines Zimmers musste das ertragen.
Ohne Kasperle und Teufel wurden permanent Gaze-Vorhänge durch die Nadar-Musiker bis in den tiefsten Bühnenhintergrund hin und her gefahren. Auf ihnen sah man Live-Aufnahmeübertragungen, vorgefertigte Spielaktionen, mit denen die Musiker zusammen spielten oder ihr Projektions-Double alleine liessen. Das machte allein schon gute Laune. Doch es ging um die Frage, wie Instrumente, digitale Mittel prothetische Fortsetzungen des Körpers sind, wo es zusammen geht, wo es noch nicht so synchron klappt. Wunderte man sich zuerst über die Publikums-Tablets, die in die Luft gehalten wurden, als klickte man Lomos, war bald klar, dass dies die Spiegelprothesen der Musikeraktionen ins Publikum waren, die man sonst nie so hautnah sehen würde, wie ausdifferenziertes Pappbecherschaben, zuletzt das digitale Klickgeräusch der Fotoapp der Tablets. So verflossen die Grenzen zwischen Bühne, Realität und Publikum. Wären neben den fein austarierten Aktionen die Töne noch fein ausgehört gewesen, wäre es nicht nur meisterlich. Oktaven und Tritoni aus der guten alten neuen Einfachheit liessen Ratlosigkeit in Bezug auf die wenigen althergebrachten Medienelemente vermuten.
Bluff von Michael Beil war das angenehmste Stück im Programmheft: endlich einmal kein Text zu einem neuen Stück! Die Mode der Kostüme und Anzüge der Musiker, Tonaufnahmerotlicht, Schallplattenkratzen der Samples, Liebesgeflüster aus Doris-Day-artigen Filmen, Easy-Listening-Fetzen a la James Last, Rollentausch zwischen wirklich gespielten Instrumenten und auf Projektionen gezeigten, alles in immer gleichen, strengen Zeitfenstern von wenigen Sekunden, wiederholt traurig-kreisende Blicke von Pianistin und Cellist, Musikerjoggen, englische Entschuldigungen für technische Pannen, alles Original und im Playback, „Hello“ und „I love you“ Sprachpannen, „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ Fehlaufnahmen, am Ende ängstlich dreinblickende Musiker unter dem Hörspielaufnahmerotlicht, als hätten sie eine Reise nach Jerusalem verloren: diese Artistik der Interpreten, diese Nostalgie – schlichtweg bezaubernd!
Verzaubernd am Nachmittag das Theorie-Oper Happening von Patrick Frank. Das grosse Thema war die Deformierung von Freiheit, die Aufgabe von moralischen Qualitäten hin zu neoliberalen Quantitäten: so wurden Körperwerte von Musikern und Komponisten gemessen, die Geschlechterverteilung der Klogänge, die Reaktionen der Besucher, die selbst über unterirdisches bis Welt-Niveau Entscheidungsbuttons drücken durften. Das Ganze in zwei Räumen: in der Turnhalle die Musik, die Thesentexte und Zitate der Schauspieler, das Publikum auf Bierbänken mit über viereinhalb Stunden dann doch sehr blähenden Brezen, interpolierende philosophische Lesungen in einem Diner-Festzelt neben der Turnhalle. Wer den Aufforderungen zum Schneller, Höher, Größer nachkam, erlebte exklusiv Cagesche Posaunenmusik für 20 Zuhörer in der Saaldusche oder konnte in den Pausen einen Full-Service in Anspruch nehmen, um sich z.B. halbnackte Regentänze vortanzen zu lassen. Am Ende war dann klar, dass wir aus der Dystopie der Freiheit wieder Wege finden müssen, bevor wir uns in den Kulturtod controllen lassen. Dazu war dieses grandiose Happening vielleicht schon ein kleiner Beitrag. Besonders fein war das „Commission Sharing“ Franks mit den Kollegen Trond Reinholdtsen und Martin Schüttler, die exponiert eigene Werke in den Frankschen Rahmen einbrachten. Reinholdsten peitschte die Musiker vom Ensemble Contrechamps durch Variationen über den Ruf „Liberté“, die Bedeutungsschwere dieser Rufe schien ihm und seinen Performern der Norwegian Opera in Kostümen wie Gartenzwergmonster oder fressende Pflanzen das Hirn nach aussen zu stülpen, wie es ihre getragenen Masken vermuten liessen.
Die absolute Befreiung in Orgie führte zu Suhlen in Matsch, Schaum und Pasta, die Performance sprengte sich von der Filmleinwand in den Raum, hinaus in die Natur vor der Turnhalle, wo der Komponist und seine Mitstreiter bis zur finalen Explosion am Ende des Abends als gelbe Zombies unsinnige Verrichtungen mit Zivilisationsmüll durchführten. Das Vexierspiel von Live-Musik und Opernsynthie und Piepsstimmen in höchster Absurdität, weitestgehend ausnotiert, sprengte jegliche Vorstellungskraft. Vornehmer dagegen Franks eigene postmoderne Schnitte von Chopin und Schubert, soigniert in Bezug gesetzt, lösten im Normalpublikum Diskussionen nach Auktorialität aus, derweil Martin Schüttlers „I need you love“, das mit dem vom Sampler gesungenen Titel, den zerfallenden zarten und harten Klängen von Blech und Streichern, Gongs und Drummachine sowie Synthie unglaublich traurig machte: was hilft uns all das Austreiben von Romantik und Mythos durch den Vernunftpathos und Analysetrieb in der Neuen Musik, wenn uns dabei die Liebe zu uns, zur Musik abhanden kommt. Berührend auch die jungen Komponisten in seinem Dunstkreis, gerade den Zahnspangen entwachsen, derweil in den hinteren Reihen ein japanisch-schwäbischer bleicher Geist, wohl Anfang dreissig, mit Zahnspange diabolisch grinste – ich wollte doch das Kasperletheater sein lassen… Wie meinerseits selbstverliebt!
Denn selbstverliebt ins Mediale waren wohl die Stücke des ensemble mosaik Konzerts, ins Konzept des Sounds, ins Vorführen der Technik, die ich im Stream während des Schreibens dieses Textes nachhöre. Orm Finnendahls AST und Carlos Sandovals Miniaturen machen dabei den grössten Eindruck. Selbstverliebt war irgendwie auch der Abschluss des ersten Orchesterkonzerts mit Johannes B. Borowskis Sérac, einer Hommage an Gletscherbezwinger, die von herabhängenden Eisteilen erschlagen und verschüttet worden sind, Natur und Tod nebeneinander. Eigentlich eine spannende Sache. Und zuerst war ich auch beeindruckt, wie klar und gekonnt der Komponist orchestriert, verschiedene Bedeutungsebenen in Klangabstufungen übereinander legen kann. Das führte er auch im letzten Drittel nochmals vor. Doch die wundersamen Flageolett-Glissandi im hohen Register der tiefen Streichersaiten, die nach Kaffehaus-Soli-Derivaten klangen, standen formal zu unverbunden im Raum, wurde der geplante Einsätzer zu einem realen Mehrsätzer und neben der Virtuosität seltsam leer, trotz des hohen, menschlichen Anliegens.
Klar, Orchesterwerke sind hier die Publikumsmagneten. Wenn dann das Publikum bei Richard Ayres No. 48 night studio bald mitschunkelt, brav zu den braven eingespielten Sprachwitzen lacht, ohne dass ein Punkt des im Halse-Stecken-Bleibens eintritt, könnte sich die Notwendigkeit eines besonderen Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen erübrigen. Respektive versteht man nach den klangfreundlichen Medienvirtuositäten von Beil oder eben Ayres Orchestermusik nicht, warum angeblich einfacher komponierende, durchaus konzeptuell denkende Komponisten der mittleren Sechziger Jahre nicht wahrgenommen werden.
Die Notwendigkeit der Orchesteraufträge stellte allerdings Yoav Pasovsky Pulsus alternans unter Beweis, für zweigeteiltes Orchester, in unterschiedlichen Metren, mit einem Subdirigent, der mir wie ein aus den Augen verlorener Münchner Komponist vorkam, klar vom SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg unter Peter Eötvös gespielt. Die Pulsationen und die schönen, konventionellen Klänge erzeugten einen faszinierenden Sog. Allerdings hatte es eben auch ein wenig von minimal music ohne melodische Patterns. Oder es wirkte wie die schönkomponierte Variante von Johannes Kreidlers TT1, von dem das Publikum wohl enttäuscht war. Denn nach Kreidlers Worten entstand damit ein „feines Werk“, kein Plus oder Minus auf Repertoirewerke, kein Knaller. Mikrotonale, sich selbst quasi abzählende Klaviersamplerepetitionen kreisten durch den Raum, scharf von Zither und Schlagzeug und zarten Streicherabstufungen konturiert. Man kann die Wirkung des Werkes durchaus als meditativ bezeichnen. Allerdings Meditation im Sinne einer wachen Vernunft auf dem oberen Rand von Struktur. Dennoch war es vom Bezugswerk Spahlingers „akt, treppe hinabsteigend“ genauso weit entfernt wie Borowski von Riehms Tränen des Gletschers, beides Werke meines ersten Donaueschingen-Besuchs 1998, von den schockierenden Intensitäten, die ich damals erleben konnte.
Dennoch zeigte sich Kreidlers Erfahrung im Umgang mit der Bedeutung des Medialen, des strengen Ordnens, das eben den wachen Zustand seiner Musik im Gegensatz zu den Versuchen des nun zu Ende gehenden Mosaik-Streams markiert. Das Problem liegt wohl darin, dass Pasovsky, Borowski und Kreidler erst in ihren Mittdreissigern hier Orchesteraufträge erhielten und hoffentlich bald wieder erhalten: ihre Vorbilder durften allesamt in ihren Zwanzigern und frühen Dreissigern sich ausprobieren. Aber kein Wunder, wenn letztlich Risiken gescheut werden, wenn das Publikums beinahe schunkelt. Da gehört grundsätzlich durchgelüftet!
Ein wahres Wunder erlebte, wer das Oktett von Georg Friedrich Hass mit dem formidablen Trombone Unit Hannover erleben konnte. Harmonik, Melos, Form, Klang, Retrospektive, Blick nach vorne, Kraft, Zartheit – alles da! Ein Kosmos!!
Komponist*in