Mehr Choropern! Aufbruch in die Breite des Publikums mit Marlowe
Erinnert man sich noch an meinen „rant“ gegen das Ewiggestrige in „Läppische Kunst – von der Schwäche tonaler Kunstmusik im 21. Jahrhundert“? Die meisten lasen wohl nur „Läppische Tonalität“ statt „Läppische tonale Kunstmusik im 21. Jahrhundert“: der Text richtete sich gegen Menschen, die heute noch ausschliesslich mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts an ihren Walzern, Sonaten und Charakterstücken weiterstricken, Relevanz einfordern, aber nicht ein Jota die Dur-Moll-Tonalität weiterentwickelten, wie es z.B. Orff und Schostakowitsch oder Pettersson ziemlich einzigartig unternahmen. Oder eben gegen Leute, die zwar eine andere Art jener Tonalität nutzen, also zweit verwerten statt neu auszubauen und sich in soften Langatmigkeiten verlieren und Dur-Moll jegliche Gefährlichkeit austreiben. Provokant zusammengefasst: selbst Orff, Schostakowitsch und Pettersson oder Pärt und Co. werden zur Kuschelklassik reduziert, was dann kleinere Geister zur Legitimation ihres ästhetischen Stillstands und Einmauerns einsetzen und den offenen wie subkutanen harmonischen Strukturen in der Neuen Musik die Existenz absprechen, sie vielleicht in ihrer Scheuklappenmentalität unter all den Konzepten und Verschleierungsmethoden der Neuen Musik mangels Erfahrung nicht zu entdecken vermögen: was nicht sein darf, das nicht sein kann.
Bevor nun wieder unendliche Kommentare dazu ausbrechen, sei mir ein Schwenk gegönnt: ein faszinierender Komponist, der zwischen unterschiedlichsten Genres pendelte und dabei ohne Ausnahme Kunstmusik hoher Qualität schuf, war Peter Kiesewetter. Er schied seine Musik in Geistlich und Weltlich. Und nicht so deutlich in Schwer und Leicht im Sinne des Gehalts. Das Geistliche ist mehrheitlich schweren Gehalts, das Weltliche hat dies auch inne und ist feingliedrig im Leichten abgestuft, z.B. von der frühen expressionistischen „Agonia“ bis hin zu seinem „Tango für Orchester“, mit dem er sogar einen Preis für Unterhaltungsmusik gewann, dennoch im Selbstverständnis der Ausarbeitung durch und durch Kunstmusik, wie die Topoi des „heissen“ argentinischen Tanzes abgerufen werden, aber doch aufgebrochen werden. Kunst entsteht eben immer dann, wenn einem ein eigener Umgang mit Vorgegebenem einfällt, man sichere Pfade verlässt, sich blank zeigen kann, ohne auf des Kaisers neue Kleider verweisen zu müssen, Stichworte dazu wären Dringlichkeit, Ehrlichkeit, Verletzlichkeit.
Ein paar Stufen tiefer lass ich nun meine Ästhetik-Hose herunter und steige vom hohen Ross: ja, ich habe neben expressionistischen, mikrotonalen und quasi-konzeptuellen Ansätzen in den letzten Jahren ein tonales Projekt verfolgt: die „Comic(al) Chorus Oper“ Edward II. nach Christopher Marlowes „The Troublesome Reign and Lamentable Death of Edward the Second“. Mit viel Spass und noch mehr feinen Momenten habe ich letztes Wochenende die Uraufführung hinter mich gebracht. Eigentlich wollte ich nach meiner ersten grösseren Oper „Narrow Rooms“ mich mit diesem Stoff befassen. Aber irgendwie ging es nicht von der Hand. Beziehungsweise war mir bald klar, dass Edward für mich nicht als Literaturoper im Sinne Aribert Reimanns oder Detlev Glanerts funktionieren könnte, aber auch nicht in der neueren Tradition zwischen Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ oder Adriana Hölszkys „Bremer Freiheit“, eher irgendwo zwischen Olga Neuwirth und Christina Jost, so unvereinbar die sich betrachten würden…
Wegweisend war für mich schliesslich ein absolut abseitiges Feld: die Wiederentdeckung des Chores für antike wie heutige Dramen durch Einar Schleef, nicht als Kommentarebene, sondern als Portagonist, und sei es die chorische Besetzung von ursprünglichen Solo-Rollen. Dazu bietet ein Chor immer die Möglichkeit ihn auch als lebendige Szenerie einzusetzen. Dies macht aus einer schwerfälligen Musiktheatermaschinerie einen ungemein mobilen vielgliedrigen Körper. Zeit mich darin auszuprobieren, bot mir mein Revuechor, die Münchner Philhomoniker. Das war zuerst Selfmade-Laientheater. Zusammen mit der Regisseurin Martina Veh haben wir diesen schwulen Chor inzwischen in einen ambitionierten und flexiblen Apparat verwandelt, immer noch Laien, aber ganz bei der Sache, meist mehr als ein Standard-Opernchor. Das setzt den Stücken auch den zeitlichen Rahmen: neunzig Minuten Text, Musik und Szene zu lernen sind das Maximum. Das heisst, Stoffe in dieses Zeitfenster zu bekommen!
Dies machte ich zum ersten Mal anhand einer Umkomposition von Händels „Giulio Cesare“, wo kurzum „Arien zu Männerchören und Rezitative zu Schlagern“ wurden, aus vier Stunden wurde eine Spieldauer von siebzig Minuten. Ähnlich erging es nun Marlowe: aus mindestens drei Stunden Schauspiel blieben bei Derek Jarmans Film noch 130 Minuten, in meiner Chorversion nur noch achtzig Minuten. Das Resultat ist eine Travestie: ungezählte aufwändige Schlachtenbilder werden in wenigen Sekunden durchgehechelt, die Rollen auf vier, fünf Chorstimmen eingedampft, emotional verdichtende Soloszenen auf das unbedingt Notwendige eingeschränkt. Das Drama wird zur Komödie. Das zwang mich zu einer Musik, wie ich sie bisher noch nicht komponierte: wild durch die Stile switchen, möglichst genau der Szene angepasst, im Wechsel sich aber nicht abnutzend, sondern Kontraste schaffend, sich nicht in Tableaus zu verlieren, Dinge direkt und lakonisch beginnen und beenden. Das Verrückte: trotz dieser komischen Momenten bleibt das Stück eine einzige Talfahrt bis zur analen, glühenden, tödlichen Lanze im Allerwertesten Edwards, sind die staatlichen wie privaten Kämpfe der Protagonisten ganz nah an den heutigen Handlungsmustern dran: homosexuelle bessere Gesellschaft, Geldgier, Homophobie, manipulierte Meinung, Petitionen, staatlich sanktionierte Gewalt – da gibt es bei Marlowe kaum etwas zu aktualisieren. Der Originaltext Marlowes kam dabei natürlich unter die Räder. Wobei: jede szenische Konstellation ist selbst im deutschen Reim-Dich-Friss-Mich-Text exakt an die Vorlage angelehnt, von ihr abgeleitet.
Hochkulturelle Nischenkultur wird so einem Publikum zugänglich, das sich sonst nur in Kinos traut. Natürlich ist das mein ganz persönlicher Pfad, der sich zufällig ergab. Die Frage ist aber, ob es nicht an der Zeit wäre, statt Musicalmärchen und Kinderopern, jenseits von einfachen Literaturkürzungen und gezähmter und dadurch eigentlich unnötiger expressionistischer Musik, ähnliche Wege, wie ich ihn ging, mit neuen und alten Stoffen zu suchen. Wie gesagt, es erschliesst durchaus ein opernfernes Publikum, ohne die Schwere, das allgemein Parabelhafte für schwierige Fragen des Lebens aufgeben zu müssen, wie es all die filmmusikalisch gefärbten Musicals und auf Vermittlung reduzierten Kinderopern machen.
Komponist*in