Es gibt keine Krise der Klassik (II)

Die Krise der Klassik – oder: Warum innovative Konzertformate?

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Hier geht es zu Teil I dieses Artikels.

Im Zusammenhang mit der vermeintlichen „Krise der Klassik“ wird häufig, zu häufig auf die „Überalterung des Konzertpublikums“ hingewiesen. Ich zitiere wiederum aus dem hiesigen Blog. Aus einem Artikel, der erst wenige Tage alt ist:

In Wahrheit wird klassische Musik immer existieren – und solange es Menschen gibt, wird es Menschen geben, die klassische Musik machen und hören. Klassische Musik ist schön. Sinfonik und Oper braucht – im Gegensatz zur Popmusik – keine elektronische Verstärkung. Es ist der authentische Sound des Orchesters, die unverstärkte Kraft des Heldentenors, auf die wir stolz sein sollten. Klassische Musiker sind die wahren Könner. Nur leiden wir Klassikmenschen unter einem Dauerkomplex und prophezeien ständig unser eigenes Verschwinden. Und wir brauchen unsere Senioren! Alte Menschen sind weise, entspannt und liebenswert. Alte Menschen sterben niemals aus. Sie wird es immer geben, sie sind die Basis unserer Musikkultur hierzulande.

Ja, mit klassischer Musik kann man sich unendlich lange befassen. Niemand versperrt jedoch den Zugang zu ihr. Junge Menschen wollen häufig einfach nicht in ein klassisches Konzert. Da helfen keine Vermittlungsprojekte. Wer nicht will, der will nicht. Ja, lasst uns diverse Hürden abbauen – aber lasst uns dabei nichts kleinreden und so tun, als bräuchten wir nach jedem Sinfoniekonzert einen DJ, der uns wenigstens ein bisschen hipper macht. Wir sind hip genug. Und werden es immer sein. Ewiglich, immerdar!

Sehr wohl, klassische Musik ist anstrengend. Aber die Anstrengung lohnt sich – siehe Holger Noltzes Buch von der „Leichtigkeitslüge“. Klassische Musik ist unendlich reich, in ihr steckt das ganze Leben. Lasst uns neu in klassische Musik verlieben, lasst uns in die Menschen verlieben, die wir im klassischen Konzert neben uns sitzen haben. Keine Musik transportiert amouröse Emotionen besser als Musik ohne Worte. Klassische Musik ist Musik der Gedankenfreiheit – in ihr hat alles Platz. Lasst uns mehr freuen! Lasst uns fröhliche Gesichter machen! Ab jetzt. Sofort, unverzüglich.

Aber wer behauptet eigentlich, dass wir uns „öffnen“ müssen, weil wir sonst aussterben? Wer wünscht sich innovative Erlebnisformen im Zusammenhang mit der Kontemplation klassischer Musik aufgrund angeblich drohender Todesszenarien?

Der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle schreibt schon ganz zu Beginn seines Vorwortes zu einem von ihm herausgegebenen Sammelband [Martin Tröndle: Worum es gehen soll, in: Martin Tröndle (Hg.): Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, 2. erw. Auflage, Bielefeld 2011, S. 9-20, S. 9]: Auf breiter Front gilt, dass das klassische Musikereignis – gleich ob Konzert-, Oper- oder Kammermusik – an Relevanz verloren hat, und zwar als ästhetische wie als soziale Institution. Dies ist mittlerweile allgemein bekannt und hat in den letzten Jahren zu einer Vielzahl an Publikationen und Programmen in den Bereichen Audience Development, Music Education und Musikvermittlung geführt.

Erster Satz – und dann gleich ein Fehler. Was heißt denn „Relevanz“? Meint Tröndle, dass der Ruf, die öffentliche Meinung über die – ideelle, also nicht wirtschaftliche – Bedeutung klassischer Musik negativ zu bewerten sei? Das kann es nicht sein, wie Umfragen und Statistiken – beispielsweise hier kurz erwähnt – nahelegen.

Oder meint er wirtschaftliche Relevanz? Auch das Argument würde nicht ziehen. Vor wenigen Tagen wurden beispielsweise die Verkaufsstatistiken der Berliner Orchester und Opern veröffentlicht. Grob gesagt: Überall sind die Zuschauerzahlen ansteigend. Ein allgemeiner Trend der letzten Jahre. Die Säle sind voller, es werden mehr Tickets verkauft.

Tröndle diagnostiziert eine „Krise des klassischen Musikereignisses“ also nicht nur ohne Anamnese; nein, er liegt auch bei den Symptomen falsch.

Und genau das will ich sagen: Innovative Arten, über Musik zu sprechen, neue, entdeckenswerte Musikformate kreieren und so weiter: damit beschäftige ich mich nicht aus dem Grund, dass ich glaube, die Klassik würde demnächst „aussterben“. Das mache ich nicht aufgrund irgendwelcher Verkaufszahlen oder wegen drohender Szenarien. Ich mag schlichtweg anders, ja, vielleicht plastischer, verständlicher – aber nicht im Sinne einer Vereinfachung – über Musik sprechen. Aber das tue ich ganz aus freien Stücken, aus einem ganz positiven Gefühl heraus. Weil ich es will. Weil es eine andere Art ist, Musik zu präsentieren. Noch nicht einmal zur „Ergänzung“ der normalen Konzertform, nicht als Alternative im Sinne einer Konkurrenz, sondern nur: weil es geht – und weil es auch schön ist.

Morgen noch mehr.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. Sehe ich zum Teil anders. Es geht nicht nur um z.B. Wirtschaft. Eine sehr gute und erhellende Diplomarbeit zum Thema „Krise in der Klassik Konzertformate“ zeigt in Zahlen und Deutung, was ich meine (PDF zum Download):

    https://www.google.de/url?q=https://musikwirtschaftsforschung.files.wordpress.com/2009/03/diplomarbeit_kleinberger_neue_konzertformate_final.pdf&sa=U&ved=0ahUKEwijud_Lt8vSAhVKAZoKHboXBMkQFggLMAA&sig2=WU18H-TmzodgVMJ2kJ_p_Q&usg=AFQjCNHNQiejgCPOuhgZ2qaBaKszMqWoiA