Bach sitzt neben mir am Stammtisch

Der Musiktheoretiker Clemens Kühn hat viele Bücher geschrieben, die im Hochschulbereich gerne verwendet werden. Manche Dozenten raten davon ab – aber bei vielen steht es auf der Literaturliste.

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Ich habe früh angefangen, Kühn zu lesen. Und mir hat es immer gefallen. Die Frage ist, ob seine Bücher (z. B. „Formenlehre der Musik“ oder „Analyse lernen“) für den Hochschulbetrieb wirklich geeignet sind.

Seit Beginn des Sommersemesters unterrichte ich Formenlehre an der Hochschule für Musik FRANZ Liszt Weimar. Und ich habe den Studenten empfohlen, sich Kühns „Formenlehre der Musik“ zuzulegen. Meiner Meinung nach sollten Lehrwerke der Musik genauso sein: immer auf der Suche (der GZSZ-Kenner singt innerlich weiter: „…bist du deine Sehnsucht stillst“), anregend, eine Aufforderung zum selbst denken. Das kann zum Problem werden. Denn Studenten wollen Fakten – verständlich. Aber genau da fängt es an: jungen Musikstudenten sollte man beibringen, dass musikalische Formen nur ganz selten nach dem „Schema F“ funktionieren. Manchmal haben Sonatenhauptsätze gefühlt fünf Themen, immer wieder gibt es Mischformen, bei denen nicht genau gesagt werden kann, ob die Form nun eher „Sonatenrondo“ oder doch lieber (wie es Kühn in manchen Fällen empfiehlt) „Ronatensondo“ oder „Sondoronate“, entschuldigung: „Rondosonate“ genannt werden soll.

Ich empfehle dann immer, die Form „Uwe“ oder „Karl-Jürgen“ zu nennen. „Sie können ‚du‘ zu der Form sagen und sie bei Facebook hinzufügen. Das ändert nichts. Sie sollten Formen so individuell beschreiben können – mit den entsprechenden Begriffen, die wiederum teilweise auswechselbar sind und fast immer in mehreren Varianten zur Verfügung stehen-, wie diese selber erscheinen. Zeigen Sie mir einfach, dass Sie Musik gut beschreiben können – und dabei die historischen Begriffe kennen. Wenn Sie dabei zu keinen konkreten Ergebnis kommen, muss das kein ‚Fehler‘ sein. Im Gegenteil.“

In den letzten Tagen habe ich viel Bach am Klavier gespielt. Das ist banal, das sollte man eigentlich keinem erzählen. Weil das ja jeder macht (sofern er gut vom Blatt spielen kann). Aber irgendwie habe ich die Liebe zu Bach neu entdeckt. Auch das ist total banal, das geschieht wahrscheinlich 523.184 Mal pro Jahr weltweit. Wenn ich aber über diese „neue“ Liebe rede, merke ich, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Weil ja völlig klar ist, dass Bachs Fugen großes Tennis sind. Und immer wieder denke ich an ein paar Sätze aus Kühns Buch „Analyse lernen“ (Kassel 1993, S. 35): „Perotin ist nicht angewiesen auf meine Anerkennung, und Beethoven sitzt nicht neben mir am Stammtisch. ‚Die Passage zeugt von kompositorischer Meistschaft‘: Schulterklopfen dieser Art ist hohl. Die Sprache von Analyse darf animiert sein und animieren, aber sie spare sich jedes Gönnerhafte.“

Das finde ich hart – obwohl ich das gut nachvollziehen kann.

Aber ich liebe Bach – und Schütz und Corelli und Frescobaldi. Und das darf man auch so sagen. Laut. Vor Studenten. Mein musikwissenschaftlicher Zugang zur Musik ist von Liebe gekennzeichnet, genauso wie meine Tätigkeit als Musikvermittler (siehe meine Reihe „2 x hören“ am Konzerthaus Berlin). Und das ist vielleicht ungewöhnlich. Ich liebe Musik – aber ich mag es auch, darüber zu reden (obwohl mir neulich bei „2 x hören“, nach der ersten Interpretation der letzten Beethoven-Klaviersonate op. 111 durch Igor Levit, kurzzeitig die Stimme versagte). Musik wird aber immer besser sein als das Sprechen darüber. Und das ist hart. Sehr hart. Das sollte man immer mitdenken, vielleicht sogar laut aussprechen.

Vielleicht habe ich meine Liebe zur Musik in den letzten Wochen einfach nur neu entdeckt. Aber jetzt, wo ich darüber geschrieben habe, kommt es mir so vor, als hätte ich in diesem Text kein einziges neues Wort gesagt. Und trotzdem ist alles neu. Und wird immer anders.

Hörempfehlungen des Tages:

Johann Sebastian Bach: Bist du bei mir, BWV 508
Heinrich Schütz: Stehe auf, meine Freundin, SWV 499

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. cardillac sagt:

    Fantastisch formuliert! Für MICH absolut nachvollziehbar!
    Bravo!