Wo sind Zimmermanns Soldaten des 21. Jahrhunderts – trotz musikalischer Überwältigung auch nicht in München 2014
Sonntag letzter Woche hatten „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann in München Premiere. Im Herbst 2012 stemmte die Bayerische Staatsoper Jörg Widmanns „Babylon“ als eine das Opernensemble ziemlich herausfordernde Aufgabe, damals noch unter Kent Nagano, der dies grandios im Griff hatte. Nun wurde es der erste Höhepunkt unter dem neuen GMD Kirill Petrenko. Und er wie das Haus übertrafen sich damit selbst! Die Partitur Zimmermanns verlangt zuerst dem Ensemble alles ab: knapp 30 Solisten, um die 100 Musiker, Chor, Statisterie, ein Sprecher, ein paar Tänzer. Diese müssen allesamt metrisch wie rhythmisch extrem anspruchsvolle Partien bewältigen. Dazu in weiten Intervallen springende Linien. Das würde schon genügen um analog zu Mahlers „Symphonie der 1000“ von einer „Oper der Heerscharen“ zu sprechen. Dazu verlangt Zimmermann verschiedene Singarten, vom monotonen Singsang über das lyrische Arioso bis zum Schrei, vom Sprechen und Rufen des Einzelnen über expressive Terzette bis hin zu Riesenensembles, und das nicht nur von Szene zu Szene, sondern Moment zu Moment vom einem ins andere Extrem changierend.
Das setzten die Sängerinnen und Sänger der Produktion hervorragend um. Im Falle der Partie der Marie durch Barbara Hannigan sogar so klar, dass der Kritiker der NZZ sie im Vergleich zu ihrer Schwester Charlotte, gesungen von Okka von der Damerau, als nicht geeignet für das Nationaltheater bezeichnete: wohl aufgrund der grossartigen Differenzierungen zwischen leicht detonierten Psalmodiervortrag ihrer Briefe und dem Jubilieren, Kokettieren und Ausbrechen ihrer Stimme und nicht einem Dauerespressivo anhängt, wie es zum Beispiel die Marie unter Ingo Metzmacher der Salzburger Festspiele an den Tag legte, war jener Berichterstatter nachhaltig irritiert. Also eine Meisterleistung aller Beteiligten der musikalischen Seite dieser Produktion, egal ob im Rosenkavalier-artigen Terzett von Gräfin, Marie und Charlotte, den kleinen Szenen auf mehreren Ebenen wie das Finale des zweiten Aktes oder in den grossen Szenen wie der Wirtshausszene oder des „Marie fortgelaufen“-Bildes und dem Finale des letzten Aktes, das ohne Scheu die Originalzuspielungen Zimmermanns einsetzte, endlos dauerte, statt dem Atompilz einen viel heftigeren Atomblitz riskierte und statt mit der Laterne der Stuttgarter Kupfer-Inszenierung mit dem Megafon schaukelte.
Barbara Hannigan musste ihre stimmlichen Wechsel in der Regie von Andreas Kriegenburg mit manchmal eigenartigen Zuckungen unterstreichen: gab sie am Anfang wie am Ende eine beinahe Barlach-artig die Hände zum Himmel ausstreckende Betende, bewegte sie sich zombiehaft, wenn sie ihre Lust nach ihren bürgerlichen und soldatischen Liebhabern überkam. Zeigt Kriegenburg bereits im Vorspiel der Oper in den Käfigen des Einheitsbühnenkreuzes Folter und Vergewaltigung überdeutlich, bleiben diese Zuckungen erst einmal ein Rätsel. Erst später merkt man, dass Marie nicht nur ein Opfer von militärischer Gewalt ist, worauf man manchmal diese Rolle reduziert vorfindet. Sie läuft von Anfang an Sturm gegen die Schranken ihrer Gesellschaft, möchte diese nonchalant mit ihrem Konzept von freier Liebe durchbrechen. Das misslingt erst in dem Moment, wo ihre Liebhaber sie als Objekt weiterreichen: so hat sie die Society nicht verändert, sondern bekommt von ihr die Rolle als sexueller Zeitvertreib und kontrollierte Triebabfuhr des militärischen Personals zugewiesen.
Das erinnert an das noch scheiternde sexuelle Aufbegehren der Adenauerzeit, bevor es Mitte der Sechziger Jahre nicht mehr aufzuhalten war. Und da beginnen auch die heutigen Probleme mit einer Oper wie „Die Soldaten“ eine ist. Kriegenburg durchbrach den Schleier der Geschichte nicht, konnte das Stück über die Atomangst des Kalten Krieges und stilisierte Naziuniformen nicht hinaus in das Hier und Jetzt übersetzen. Denn heute wäre diese Marie vielleicht eine emanzipierte Bordellbesitzerin, eine teuer gebuchte Domina mit Auftritten in TV-Talkrunden. Unsere Soldaten selbst sind demnächst vielleicht alle Beamte einer Dienstherrin mit KiTa-Anschluss. In gewisser Weise eine andere Zukunftsvision der Lenzschen Pflanzschulen für Soldaten und aus der damaligen Gesellschaft gefallenen Frauen. Das aufregende an Zimmermanns Partitur wiederum ist trotz aller musikalischer und szenischer Durchorganisation das Provisorische, welches sich gerade im Schluss manifestiert. Wie gesagt, der Atomblitz der Kriegenburg-Petrenko-Produktion war beeindruckender als ein Atompilz oder Salzburger Felsenreitschule-Quadriga-Tingeltangel. Wie heutzutage aus Osteuropa Frauen in unsere Bordelle verschleppt werden, wie sich die westliche Soldateska im Nahen Osten aufführt, das fiel unter dem Tisch.
So bleiben die Münchener Soldaten 2014 ein monumentaler, denkmalsartiger Allgemeinplatz, der trotz mancher Extreme in gutdeutscher Vergangenheitsbewältigung verhaftet bleibt und das Tagesaktuelle der Uraufführung genauso wenig wie die meisten Inszenierungen der letzten Jahren in die Jetztzeit übersetzt. Zwar ist soldatische Gewalt immer grausam und für die Leidenden willkürlich. Die heutige blutspurenfreie, drohnengelenkte und durch demokratische legitimierte Institutionen angewandte Folter und Gewalt mit den Soldaten Zimmermanns zu verknüpfen und so ein Memento-mori für uns Europäer und Deutsche im 21. Jahrhundert zu schaffen, das steht noch aus. Sieht man die heute vorwiegend leisen und gesanglich-lyrischen neuen Opern, so sind die Soldaten aller Modernität zum Trotz, die nun von immer mehr Staatsopern virtuos bewältigt wird, doch ein Dinosaurier der Oper des 19. Jahrhunderts? Wobei mit Recht behauptet werden kann, dass Zimmermanns Dimensionen weniger in der Masse denn in der Konstruktion vielleicht einmal fortgeschrieben werden. Oder auch nicht.
Heute im Internetstream: http://www.bayerische.staatsoper.de/tv/
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