FRÜHLINGSABEND Eine in Form eines Theaterstücks verfasste Kritik zu Nikolaus Brass‘ Biennale-Oper „Sommertag“, im Stil von Jon Fosse

FRÜHLINGSABEND
Eine in Form eines Theaterstücks verfasste Kritik zu Nikolaus Brass‘ Biennale-Oper „Sommertag“, im Stil von Jon Fosse

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1. Szene (Vorspiel)

Besucher 1: Hey, lass uns doch heute Abend zu dieser Biennale-Premiere gehen. Das wird bestimmt super!
Besucher 2: Es ist ein schöner Frühlingsabend.
Besucher 1: Das stimmt. Komm, wir müssen los.
Besucher 2: So ein schöner Abend. An diesem Abend würde ich gerne diese Oper anschauen. Das interessiert mich.
Besucher 1: Dufte! Also los, wir gehen….
Besucher 2: Ich komme mit. Ja. Vielleicht. Ja. Lass uns gehen.
Besucher 1: (runzelt die Stirn)

2. Szene (vor dem Theater)

Besucher 1: Ich kenne jeden einzelnen dieser Leute hier.
Besucher 2: Ich kenne niemanden.
(sie holen eine Karte).
Besucher 2: Jetzt darf ich auch diese Oper sehen. Ich glaube es regnet ein bisschen. Aber ich bin nicht sicher. Vielleicht bin ich aber doch sicher. Ja.
Besucher 1: Äh….ok.

3. Szene (im Theater)

Besucher 1: Ich bin schon gespannt.
Besucher 2: Das ist ein schöner weißer Raum. Es ist wie immer, wenn ich dich besuche. Dann holst Du mich ab. Wenn du fertig bist, mit deinen Sachen.
Besucher 1: Äh, sag mal, ist alles ok mit Dir?
Besucher 2: (schweigt)
Besucher 1: (schweigt auch. Die Musik beginnt)

4. Szene

Besucher 1: Schau mal, da sind lauter Musiker und Sänger in diesem Raum, aber irgendwie scheint immer nur einer von ihnen zu spielen. Die ganze Musik ist einstimmig. Langsam geht mir das auf die Eier. Und warum sind da immer so einzelne Sätze projiziert an die Wand? Muss man wirklich so spannende Sätze lesen wie „Ging meine Freundin sich hinsetzen“? Und was macht eigentlich dieser dicke Typ hinter uns die ganze Zeit?
Besucher 2: Das ist ein Butoh-Tänzer.
Besucher 1: Aber der tanzt doch gar nicht?
Besucher 2: Es scheint mir, dass dies die Essenz des Butoh-Tanzes ist. Nichts zu machen.
Besucher 1: Also mich nervt dieser Typ ein bisschen. Warum macht der da überhaupt mit? Welche Rolle spielt der?
Besucher 2: (schweigt ergriffen)
Besucher 1: (seufzt)

5. Szene

Besucher 1: (schaut auf die Uhr)
Besucher 2: Du bist ungeduldig.
Besucher 1: äh ja, vielleicht. Passiert hier eigentlich irgendwann mal was?
Besucher 2: Darum geht es nicht. Vielleicht. Ja.
Besucher 1: Warum redest Du eigentlich immer so komisch? Das ist ja richtig unheimlich!
Besucher 2: (starrt in die Ferne) Sicher ist sicher.

6. Szene

Besucher 1: Ich habe das Gefühl, dass die Zeit sich unendlich dehnt. Und ich glaube, dass ich nicht der einzige bin, der das fühlt.
Besucher 2: (schweigt ergriffen)
Besucher 1: Schau Dir doch mal die ganzen Leute um uns herum an! Der Kritiker hinter uns ist schon 3 mal in den letzten Sekunden unruhig auf seinem Stuhl herumgerutscht. X da vorne ist eindeutig eingeschlafen. Und ich glaube Y schreibt gerade eine SMS an seine Freundin.
Besucher 2: (schweigt ergriffen)
Besucher 1: Das Libretto habe ich ja schon gelesen. Also, da ist dieser Typ, der ist irgendwie in den Fjord hinausgegangen um sich zu ertränken. Und seine Frau ist darüber immer noch unglücklich. Und Jahre später denkt sie nochmal daran, als sie sich mit einer Freundin trifft. Aber so komisch wie die beiden reden kann ich ja verstehen, dass der Typ sich ertränkt hat. Vielleicht aus Langeweile? Warum sieht das Bühnenbild eigentlich aus wie von Ikea? Wenn ich in sowas leben müsste, würde ich mich auch ertränken. Warum sieht in Norwegen immer alles aus wie von Ikea?
Kritiker: Pschhhht!
Besucher 2: Ikea ist aus Schweden.
Besucher 1: Ach so. Aber ich find’s trotzdem langweilig.
Schauspielerin springt plötzlich in die Szene und ruft fröhlich: „Ihr habt’s aber schön hier!“
Publikum: (lacht nervös)
Besucher 1: Das war jetzt der lebendigste Moment des Stückes bisher. Leider ist er schon wieder vorbei.
(ein langes Klarinettensolo beginnt. Mit Vierteltönen.)
Besucher 1: Wenn ich noch einmal so ein Sologewichse mit Vierteltönen hören muss, muss ich kotzen.
Kritiker: Pschhhhht.
Besucher 1: Tschuldigung.
Besucher 2: Du verstehst nichts. Du hast nichts verstanden. Vielleicht regnet es. Ja. Es geht um die Stille zwischen den Worten. Die musst Du selber mit Bedeutung auffüllen. Ja. Ja ich glaube ja. Einfach nur so. Das hat einen ganz einfachen Rhythmus.
Besucher 1: A propos Rhythmus, der fehlt hier definitiv auch. Es fehlt eigentlich so ziemlich alles. Hast Du dieses Schlagzeugsolo gehört? Das war das Steifste und Unrhythmischste was ich je…..
Besucher 2: Morgen regnet es vielleicht auch. Aber dann vielleicht auch wieder nicht. Ja.
Besucher 1: Ja.
Kritiker: Ja.
Sängerin: Jaaaaaaaaaaaaaaaaaa (2 Minuten lang)

7. Szene

(Die Zeit dehnt sich aus zu einem schwarzen Loch, das jegliche Lebensenergie aus dem Publikum saugt. Immer mehr Zuschauer sacken seitlich weg oder schauen glasig.)
Besucher 1: Ich glaube, das geht jetzt schon über Anderthalb Stunden. Gefühlt 3 Stunden. Oder mehr.
Besucher 2: So eine schwere zähe Trauer. Manchmal trauere ich. Es ist schön zu trauern. Ja.
Textprojektion: ABER DIR GEHT ES GUT
Besucher 2: Ja, vielleicht geht mir auch gut. Aber vielleicht auch wieder nicht. Ich weiß nicht.
Besucher 1: Also ich finde das ist alles eine prätentiöse Scheiße ohnegleichen.
Besucher 2: Und während wir warteten. Wuchs meine Unruhe. Irgendwann. Vielleicht. Ja.
Besucher 1: Also ich finde das ist alles eine prätentiöse Scheiße ohnegleichen.
Besucher 2: Ein schöner Frühlingsabend heute. Später wird es vielleicht ein Sommerabend sein. Oder auch ein Sommertag. Das ist schön.
Besucher 1: HÖRST DU ÜBERHAUPT WAS ICH SAGE???????????
Besucher 2: Nein. Ja. Vielleicht.
Besucher 1: (greift sich an den Kopf)

8. Szene

(In der Musik passiert fast nichts mehr. Die Sänger haben aufgehört zu singen. Der Butoh-Tänzer hat sich 2 Millimeter bewegt. Textprojektion: EIN SCHÖNES ALTES HAUS.)
Besucher 1: stöhn….
(Ein Bratscher steht auf und beginnt ein endloses Solo.)
Besucher 1: Ok, also jetzt auf dem Höhepunkt des kompletten Energiestillstandes hat sich der Komponist entschlossen, ein weiteres retardierendes Moment einzufügen, nämlich…ein fucking Bratschensolo. Ich glaub’s nicht.
Besucher 2: Ich find’s wunderschön.
Besucher 1: Es ist ja nicht so, dass es nicht schön ist. Es ist ja nicht so, dass der Bratscher schlecht spielt. Es ist auch nicht so, dass irgendeiner der Musiker oder Sänger schlecht ist, die sind alle ganz toll. Aber das ändert nichts daran, dass es SO UNGLAUBLICH LANGWEILIG IST!!!!!
Besucher 2: Finde ich nicht. Du verstehst es nur noch nicht.
Kritiker: Pschhhht. Ruhe da vorne!
Besucher 1: Dieses Bratschensolo existiert doch nur aus dem Grund, dass man es in einem Kammermusikkonzert nochmal verwenden kann. Das ist so wie mit den Stockhausenopern – im Grunde lauter Einzelstücke, die man dann nochmal verwerten kann. Oper als industrielle Fertigung.
Bratscher: (geigt und geigt und geigt und geigt)
Besucher 1: Das hört ja gar nicht mehr auf. Wie lange geht das schon? 10 Minuten? 20 Minuten? Schau mal, die Sänger sind schon in ihren Stühlen zusammengesunken. Die können auch schon nicht mehr!
Besucher 2: Mir geht es sehr gut. Doch.
Bratscher: (geigt weiter)
Besucher 1: (verzweifelt) ächz….

9. Szene

(Das Bratschensolo ist zu Ende, aber das Stück hat quasi wieder von vorne angefangen)
Besucher 1: ok, also die warten jetzt immer noch auf diesen Typen oder was? Aber der ist doch tot! Tot! Tot! Der kommt nicht wieder! Der will auch nicht wiederkommen in diese Ikealangeweilescheisse hier!
Besucher 2: Sei ruhig. Nein. Ja.
Besucher 1: Das Libretto mitzulesen ist wie das Paradox des Zenon zu erleben – je näher man dem Ende kommt, desto weiter ist man davon entfernt.
Kritiker: Jetzt aber Ruhe da vorne (rutscht unruhig hin und her)
Besucher 1: Gib‘s zu, Du langweilst Dich doch auch.
Besucher 2: Langeweile ist etwas das ich nicht begriff. Und er auch nicht. Und auch nicht du. Ja. Nein. Vielleicht.

10. Szene

(Das Stück ist zu Ende. Frenetische Bravorufe von einem kleinen Teil des Publikums, der Rest hängt apathisch in den Stühlen oder ist verstorben)
Besucher 1: (verbittert) Manchmal verzweifele ich an der Menschheit.

11. Szene (Premierenfeier)

Mitarbeiterin des Kulturreferats: Das war das beste Stück Musiktheater, das jemals auf der Biennale erklang.
Besucher 3: Also mit Fosse hatte das doch nicht das Geringste zu tun.
Besucher 4: Banause! Ein Meisterwerk haben wir hier gehört! Ein Meisterwerk!
(Besucher 1 und 2 stehen etwas abseits. Besucher 1 schweigt ausnahmsweise)
Besucher 2: Was ist mir dir los, mein Freund? Hat Dir das Stück nicht gefallen?
Besucher 1: (mit einem Ausdruck unendlicher Qual) Ich muss hinaus in den Fjord. Jetzt sofort. Ich kann nicht mehr.
Besucher 2: Vielleicht ist dieser Abend ohne Zweifel ja auch irgendwann vielleicht ja nein doch mein Freund bleib nein geh komm her geh weg irgendwie dann aber doch auch mal.
Besucher 1: Sag ich doch.
(Er geht in den Fjord hinaus. Er ertrinkt.)
Ende

Moritz Eggert

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