„Vastation – Wüstung“ von Samy Moussa – Versuchsanordnungen zu Klang und Linie
„Eine Melodie soll dein Führer sein“, gab am Mittwoch anlässlich der Eröffnungs-Oper der 13. Musiktheater-Biennale ein Zen-Meister noch in Marko Nikodijevics Oper der Titelfigur Claude Vivier mit auf ihren Weg aus dem traumhaften Zipangu zurück in die Wirklichkeit des Kompositionsgeschäfts. Und in der Tat beherzigte dies auch Nikodijevic, rang sich expressiven Melos für Vivier ab, fand im eigenem Herzen und vergangenen Vorbildern Anregungen, wie er zwischen Worten und Sound seinen persönlichen Katalysator einfügen kann. Das macht aus einer notenschreibenden Person auch heute noch einen Komponisten oder eine Komponistin, egal ob geflüstert, gespuckt, gehaucht oder rezitatitvisch oder arios gesungen wird: als der wichtigste Urvater der europäischen Oper Claudio Monteverdi über den damals neuartigen nur für sich stehenden Dur und Mollakkorden der begleitenden Instrumente den Gesang von handelnden und sich mitteilenden Protagonisten setzte, spielte er je nach Ausdruckslage mit diese Akkorde ausfüllenden oder hart sich an diesen abarbeitenden Setzungen der Singstimmen, simplifiziert ausgedrückt. Damit gab er diesen Rollen Persönlichkeit und erarbeitete sich so seine eigene Künstlerpersönlichkeit. Ob nun tonal, atonal, spektral oder geräuschhaft: das Erfüllen und Gegenarbeiten an Harmonik oder reinem Klang durch den Gesang zieht sich wie ein roter Faden von damals bis heute durch die Musik, egal ob Kunstmusik oder Entertainment: ob nun in der Geräuschwelt eines Helmut Lachenmanns ein Sänger oder Sprecher mit dem Ensemble oder gegen dieses japst oder eine Soulröhre mit oder gegen das Playback singen darf, das macht gesamtzivilisatorisch betrachtet keinen Unterschied.
Samy Moussa fällt aus diesem kulturellen Kontext im halbleeren Carl-Orff-Saal des Gasteigs in der zweiten Aufführung nicht heraus, wenn im zweiten Akt seiner Oper „Vastation – Wüstung“, eine Koproduktion mit dem Stadttheater Regensburg, die Präsidentin Anna, gespielt von der herausragenden Vera Egorova, am Sterbebett ihres angeschossenen Mannes (Jongmin Yoon) jammert. Er lässt hier ein paar Töne der Gesangsstimme zu, die sich gegen den regelrechten „Mollsound“ des Orchesters stellen dürfen, das sich formidabel unter der Leitung des Komponisten schlägt. Im Umfeld dieses dritten Aktes darf auch die Präsidentinnentochter Lola (bezaubernd, Anna Pisareva) wenige Koloraturenansätze von sich geben. Das stärkste Moment der Musik ist zuvor die Einleitung zu diesem Akt, aus der man das Moussa-Vorbild Gerard Grisey vernimmt, wie es sich durch alle seine Orchesterstücke zieht. Wo Grisey allerdings differenziert mit extremen Mikrotönen arbeitet und Dur-artige Klänge eben nur dem „Dur“ der Dur-Moll-Harmonik angenähert sind, wird es bei Samy Moussa zur Erfüllung der Tradition. Das ist natürlich in unserer Zeit wiederum kein Problem. Aber man muss was daraus machen. Grisey kitzelte aus den immer weiter sich vom Grundton entfernenden und in mehr als nur mit Halbtönen unterteilten Oktaven trotz deren drohender Katatonie aberwitzige Linien heraus, arbeitete mit der immer grösseren Entfernung von der Klangbasis auch gegen diese an wie früher und heute die massgeblichen tonal arbeitenden, ja sogar die bewusst mit klanglich wie linear mit Dissonanzgraden hantierenden sogenannten atonalen Komponisten. Um so mehr verwundert es, dass für manchen Kritiker tonale Anflüge und daraus nicht herauskommender Gesang genügen, um die Tradition dräuend oder begeistert am Horizont aufziehen zu sehen. Sind diese nicht in der Lage, ihre überbordenden Repertoireerfahrungen mit den Mängeln der tonalen Arbeit dieses Stückes abzugleichen?
So bleibt der wunderbare hochzynische Ansatz der Geschichte des Autors Toby Litt von einer Präsidentin und ihrer Familie Utopie, die in einer orwellartigen Demokratie per todsicheren Kriegsgewinn die anstehenden Wahlen gewinnen möchte. Dazu lässt sie den Feind mit einer Klangwaffe besiegen, die Moussa nicht vertont, die zwar kaum jemand hinrafft, dafür aber viel zu Viele wahnsinnig werden lässt. Das erinnert an die physisch spurenlosen, psychisch um so krasseren Folterungen der USA im Krieg gegen den Terror oder die Schallwaffen der Containerschiffe gegen somalische Piraten, die denen das Gehör rauben. Die Regisseurin Christine Mielitz lässt dazu Milizen, Zivilmiezen und Bürgermänner aufmarschieren, die ihre Vorbilder in den Filmen zu Gattaca, Tribute of Panem, Thor und Star Trek haben. Der Lover der Präsidentin (Cameron Becker) sieht aus wie der Elf Legolas aus dem Herr der Ringe oder Loge aus den unzähligen Nibelungeninszenierungen des Wagnerjahres 2013. Als nach dem Familien- und Kriegsdesaster das Militär (vorne weg Seymour Karimov als Colonel) den übertechnisierten „situation room“ verlässt und mit Laserwaffen putscht, beenden immer größer werdende Zahlenkolonnenprojektionen (Bühnenbild, Dorit Lievenbrück) aus dem Anfang des ersten Matrix-Filmes die neunzig langen Wüstungsminuten.
Komponist*in