Panoptikum der Wiedergänger – die Oper „Vivier“ eröffnet die Münchener Opernbiennale
Wo man den Premierenabend in der Muffathalle auch hinschaute, überall sah man Menschen als Wiedergänger gehender und vergangener Menschen. Als zur Premierenfeier der städtische Kulturreferent Hans-Georg Küppers dem scheidenden Intendanten Peter Ruzicka für die langjährige erfolgreiche Leitung der Biennale dankte, sah man unter den Gästen mit Manos Tsangaris auch einen seiner beiden Nachfolger. Bevor der Abend begann, glaubte man im Orchestergraben am Horn den Wiedergänger des kürzlich verstorbenen Berliner Komponisten Friedrich Schenker zu erkennen, der seinerseits ja auch Posaunist gewesen war.
Der Komponist Marko Nikodijevic, seit heute Träger des Musikautorenpreises 2014 in der Kategorie Nachwuchs, und sein Librettist Gunther Geltinger legten „Vivier – ein Nachtprotokoll“ als Lebensrevue des kanadischen, 1983 ermordeten, schwulen Komponisten Claude Vivier an. Es begann mit einer SM-Liebesszene, in welcher sein Lover ihm mit einer Schere Wunden zufügt und endete mit einer ebensolchen Szene und über 40 Messerstichen, die dem masochistischem Komponisten das Leben kosteten. Nun ist eigentlich jeder Komponist per Berufung Masochist: ein Orchesterwerk, eine Oper oder eine Kantate zu komponieren kostet viel Lebenszeit, die man trotz aller modernen Kommunikationsmittel doch sehr einsam und manchmal höchst depressiv am Schreibtisch verbringt.
Das Adoptivkind Vivier erlebte dies schon vor seiner Zeit als Komponist. Während seiner später abgebrochenen Priesterausbildung begeisterte er sich wohl mehr für den Darsteller des Sankt Sebastian als die Heiligengeschichte dahinter, was zu seinem Rauswurf aus dem Seminar führte. Dies war eines der stärksten Bilder in der Inszenierung von Lotte de Beer, was wohl auch am leidenschaftlichen Tenor Musa Nkuna lag, der den Sebastian und viele Rollen darüber hinaus sang wie auch seine sehr schön überzeugenden Kollegen Malte Roesner und Daniel Holzhauser in all den vielfachen Nebenrollen. Im weiteren Verlauf der Oper begegnet Claude Vivier, sehr expressiv und mit tiefer Hingabe vom Countertenor Tim Severloh gesungen und durchlebt, Peter Tschaikovsky, an einer Oper über diesen scheiterte Vivier. Weitere Stationen von Musik und Biografie sind Japan sowie eine Begegnung mit Marco Polo, beides inspirierte Vivier zu weiteren wichtigen, zum Teil unvollendeten Werken. Weiter geht es durch Pariser SM-Schwulen-Clubs, wo Vivier meinte Mozart und Merlin zu begegnen, auf einer nächtlichen Metrofahrt flirtet er mit einem Banlieue-Jugendlichen, der dann sein Mörder wird.
So provokant wie bunt dieser Reigen wirkt, so wirft vor allem dessen textliche Gestaltung manche Fragen auf. Einerseits ist das Libretto Geltingers gereimt wie ein Theatertext der alten Meister, was vor allem in den Club-Momenten an den Rande der Erträglichkeit führt. Zwar schreibt Marko Nikodijevic dazu eine harte Musik, die in ihrer Triebhaftigkeit an Techno erinnert. Da aber elektronische Instrumente und raue, authentische Rap-Stimmen fehlen, überzeugen vor allem die Momente, welche die Solisten des Kammerchores München wie Sänger von Heinrich Schütz‘ Exequien klingen lassen, grundiert von einer verführerischen Begleitung von vibratolosen Streichern, Gongs und Weingläsern. Was auch nicht ganz zusammenkommt, sind verdoppelnde Text- und Musikstellen, in denen Vivier „ich fühle“ direkt aussingt, wo doch der Sänger dies sowieso bereits ausdrückt.
Man hätte sich manchmal eine klarere Trennung von chorischen Kommentar und solistischen Handeln gewünscht. Dafür war der Plot wie die Inszenierung trotz traumhafter, schwebender Momente zu realitätsnah, erinnerte es an Polittheater der frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Erfrischend war allemal, wie Nikodijevic in der Neuen Musik verpönte Anklänge an Carl Orff mit dem Repertoire der Spieltechniken eben genau dieser Neuen Musik kombinierte. Nach der Erfahrung seines Opernerstlings darf man weiter gespannt sein. Für das koproduziernde Staatstheater Braunschweig und dessen Orchester unter der klaren Leitung von Sebastian Beckedorf ist es eine großartige musikalische und denkerische Herausforderung für das Normalpublikum fernab der Festivalspezialisten und Szenekenner der Premiere.
Komponist*in