Alternative Komponistenbiografien: Jossi Bach, 1949 – 2014

 

Jossi (eigentlich Johann Sebastian) Bach wurde am 31.3.1949 in Eisenach geboren. Sein Vater arbeitete als Organist in der Lutheranischen Kirche, seine Mutter als Stenotypistin im Eisenacher Motorenwerk.

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Obwohl sich schon früh zeigte, dass es sich bei dem jungen Bach um eine außergewöhnliche musikalische Begabung handelte, durchlief er wie alle anderen Kinder der DDR das staatliche Kindergarten- und Schulsystem. Eine Eingabe seines Musiklehrers der dritten Klasse, ihm besondere Förderung angedeihen zu lassen, wurde von der Obrigkeit ignoriert, da die Stasi sowohl bei seinem Vater als auch bei seiner Mutter „staatszersetzende Tendenzen“ festzustellen meinte (seine Mutter war kurz vorher  in den Streik der Eisenacher Motorenwerke im Jahre 1953 verwickelt gewesen und verlor daraufhin ihre Anstellung).

Privat erhielt Bach erste Unterweisungen im Komponieren von seinem Vater,  zumindest bis zum Jahre 1961, als Werner Bach an den Folgen einer Alkoholvergiftung starb. 1959 entstand seine erste Komposition „Sehnsucht nach Freiheit“ (Kantate für 4 Stimmen und Akkordeon), die jedoch unaufgeführt blieb. Die Schulzeit durchlief Bach ohne größere Auffälligkeiten, er galt als in sich gekehrter und eher schweigsamer Zögling. Mit 18 – direkt nach Abschluss der Schule – verbrachte er ein Jahr in einer Kolchose in Sibirien, da seine Mutter inzwischen ebenfalls mit einem schweren Alkoholproblem zu kämpfen hatte und mit der Erziehung ihrer 4 Kinder nicht mehr zurecht kam. Nach seiner Rückkehr verließ Bach daher das Elternhaus und suchte eine Arbeitsstelle in der Stadt Weimar. Auf Empfehlung eines Freundes seines Vaters bekam er tatsächlich eine Anstellung als Wachmann auf einem Werkgelände. Doch die Musik ließ ihn nicht los – jede freie Minute benutzte er zum Komponieren, und er füllte Notenheft um Notenheft mit unleserlichen kontrapunktischen Studien, die ihm den Spott seiner Kollegen einbrachte. Weiterhin arbeitete er völlig autodidaktisch, hatte jedoch seine Grundkenntnisse im Instrumentieren und in Harmonielehre inzwischen verfeinert.

Ein erster Kontakt mit Komponisten des Berufsverbandes der DDR in Weimar verlief anscheinend desaströs: Bach spielte mehrere Klavierstücke vor, die in jederlei Hinsicht der herrschenden Ästhetik widersprachen. Fritz Geißler – damals Vorsitzender des Komponistenverbandes – empfand die Vorführung trotz des virtuosen Spiels von Bach als „Zumutung“. Auch die Aufführung der „12 Seezeichen für Violine und E-Orgel“ in einer kleinen Galerie am Stadtrand geriet zum Desaster, da anwesende Stasi-Kräfte die Aufführung unterbrachen und das Publikum nach Hause schickte. 1962 lernte Bach die junge Vietnamesin Nsiung-Hu kennen, die sich für einen Studienaustausch in Weimar aufhielt. 1963 wurde der Sohn Karl Hung geboren, 1 Jahr später die Tochter Magda Hoa.

Trotz der vielen musikalischen Frustrationen gründete Bach mit einem Arbeitskollegen, Willy Trabwitz, 1964 eine Band, die sich an der damals aufkommenden englischen Popmusik orientierte. Erste Kompositionen für Band entstanden, zum Beispiel die progressiven Rock-and-Roll Hymnen „Well Tempered“ und „For Magda“. Die Arrangements zeichneten sich durch eine hohe Komplexität und Dichte der Stimmführung aus. Zum Teil nahmen die Arbeiten Bachs einige der späteren gewagteren Entwicklungen der Beatles voraus, allerdings war Bachs Wissen um das Schaffen der berühmten englischen Band naturgemäß begrenzt. Die Band „Harlekin“ probte vor allem spätnachts, in einer stillgelegten Fabrik. Zwischen 1964-1965 spielte „Harlekin“ ca. 3 Konzerte, über die aber wenig bekannt ist. 1965 kam der Sohn Friedemann Tung zur Welt.

1971 verlor Bach seine ruhige Arbeitstelle aufgrund eines Streits mit einem Vorgesetzten und suchte nach einer neuen Anstellung. Durch die Empfehlung eines Freundes bekam er eine Stelle als Keyboarder in der Tanzkapelle des Friedrichstadtpalastes. Mit dem Umzug nach Berlin (1972 Geburt der Tochter Henny Thao) begann eine schaffensreiche aber auch kraftzehrende Periode im Leben Bachs. Schnell machte er sich einen Namen als besonders fixer Arrangeur und zuverlässiger Bandleader. In zum Teil atemberaubender Geschwindigkeit schrieb Bach wöchentlich neue Medleys, Revuemusiken sowie Bearbeitungen bekannter Songs und Schlager, die ihn schnell in der Berliner Tanzmusikerszene bekannt machten. Nebenher half er in einer Kirche als Organist aus, wobei er die besondere mikrotonale Stimmung eines alten vernachlässigten Harmoniums dazu nutzte, sein gewichtigstes kontrapunktisches Werk, die „48 mikrotonalen Studien für akzidentelles Naturtonharmonium“ schrie,  das aber zu Lebzeiten unaufgeführt blieb (bis heute). 1974 wurde der Sohn Paul Fjodor geboren, jetzt mit seiner zweiten Frau, der russischen Showtänzerin Natascha Komarova, da Nsiung-Hu bei einem Besuch ihrer Familie während des Vietnamkriegs anscheinend verschleppt oder umgebracht worden war.1979 löste sich „Harlekin“ aufgrund mangelnden Interesses auf, nun experimentierte Bach mit Tonbandkollagen und elektronischer Klangerzeugung.

Bis zur Wende blieb Bach seinem Job treu, und Berlin wurde zur prägendem Stadt in seinem Leben. Zwischen 1983-1989 wurden vier weitere Kinder geboren, zuletzt der Sohn Gottfried Lew, der 2008 an einer Überdosis Heroin starb. Bach fand immer weniger Zeit zum Komponieren, da seine Frau nun eine Stelle als Beamtin angenommen hatte, um die Familie besser ernähren zu können. Die Wende kann als tiefer Einschnitt in seinem Leben betrachtet werden – Bach war zuerst begeistert und suchte den Kontakt zu Westkollegen. Die erste Euphorie machte aber einer zunehmenden Ernüchterung darüber Platz, dass die musikalische Ästhetik im Westen einen ganz eigenen Weg gegangen war, der mit seiner Arbeit ebenso wenig kompatibel war wie die Staatskunst der ehemaligen DDR. Dennoch gab es einige Aufführungen Bachscher Werke bei den Darmstädter Institutskursen (Raum 203) und bei einem Oldie-Open-Air-Festival in Gütersloh, wobei aber die Aufführung der „John’s Passion“ für Hammondorgel und Flugzeugmotoren aufgrund eines Stromausfalls abgebrochen werden musste.

Die Jahre 1990-2007 werden im allgemeinen als die „dunklen“ Jahre in Bachs Biografie bezeichnet. Nur wenige Werke sind aus dieser Zeit überliefert.

Nach einigen harten Jahren als freischaffender Arrangeur in der zunehmend unübersichtlicheren Berliner Musikszene kam – völlig überraschend – Bachs größter Moment, als er als Mitglied einer Tanzkapelle („Checkpoint Charlie Berlin Swing Orchestra“)  den Neujahrsempfang im Kanzleramt musikalisch gestalten durfte, da der Bandleader sich den Daumen gebrochen hatte. Ob es zu einem Gespräch mit Kanzlerin Merkel anlässlich der Aufführung seines frei bearbeiteten und durchaus experimentell zu nennendem „Beatles-Medley“ und „Stones-Medley“ kam, ist nicht überliefert. Seine Bandkollegen waren auf jeden Fall erstaunt über seine großartigen Improvisationskünste auf der Farfisa-Orgel.

Dennoch sah Bach in Berlin keine Chance mehr und zog 2008 nach Leipzig, wo er als Barpianist in mehreren Etablissements arbeitete, die dem Rotlichtbezirk zuzuordnen sind. Auch unter diesen erschwerten Bedingungen entstanden originelle Werke, zum Beispiel die „Dolly-Buster-Variationen“ oder „Die Kunst des F*****“, alles Auftragswerke des stadtbekannten Luden Kaiserling. 2010 wurde er bei einer Drogenrazzia verhaftet, jedoch wieder freigelassen. 2011 machte sich ein schweres Augenleiden bemerkbar, das ihm das Schreiben von Noten zunehmend unmöglich machte. 2012 erbarmten sich einige junge Komponistenkollegen des Forum zeitgenössische Musik Leipzig und sammelten mit Hilfe eines Aufrufs in einer Lokalzeitung genug Geld um Bach eine nötig gewordene Augenoperation zu ermöglichen, die auch erfolgreich verlief. Von neuem Schaffensdrang erfüllt machte sich Bach wieder an die Arbeit, doch auch diesen vor Lebensfreude strotzenden letzten Werken blieb eine größere Aufmerksamkeit erspart.

Am Anfang des Jahres 2014 wurde Jossi Bach direkt vor dem Gewandhaus von einem BMW mit polnischem Kennzeichen überfahren und verstarb noch am Unfallort. Der Fahrer beging Fahrerflucht.

Moritz Eggert

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2 Antworten

  1. cardillac sagt:

    Der JOSSI hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem berühmten künstlichen Bach-Sohn P. D. Q. BACH, den einstmals der amerikanische Musikwissenschaftler Peter Schickele erfand und für den er recht lustige Werke komponierte: ua.a die Kantate „Iphigenia in Brooklyn“

  2. Sandeep Bhagwati sagt:

    Lieber Moritz,

    danke für diese St. Bach Passion (DDR Version) um einen der vielen Gebrochenen und Vergessenen. ( sein Lebenslauf erinnert ja mich etwas an Vsevolod Petrovich Zaderatsky (1891-1953), der seine 24 Präludien und Fugen ja im Gulag auf heimlich requirierte amtliche Telegrammformulare schrieb! ).

    Was Du dezent verschweigst: Einer von Jossi’s zeitweiligen Förderern, und einer der wenigen, mit denen er sich kurz nach der Wende auch im Westen verstand, war der aus Argentinien stammende Siemens Manager, der als Komponist unter dem Pseudonym Athanasio Khyrsh bekannt wurde, leider aber schon 1990 unter ungeklärten Umständen verstarb. Dass darauf dann die sog. dunklen Jahre Jossi’s folgten, legt nahe, dass die beiden mehr verband als nur Kompositorisches. Und auch der depressive Song „Ach, war’s nicht gut, Khyrschen’s Essen?“ von 1992 deutet ja darauf hin.

    Waren es eigentlich die darauf folgenden Luden-Jahre in Leipzig, als er sich als „Thomas Kant, Orgelspieler“ stylte ? Oder verwechsele ich da was ?

    Gibt es denn irgendwo Partituren von Jossi, vielleicht in deinem Notenregal, auf dass ich sie mir mal bei einem Besuch anschauen kann ?