Kein Klassik-Publikum ohne Experimente – bitte mehr lebende Komponisten in Euren Programmen!
Der klassisch-romantischen Konzertkultur mit soften Einsprengseln an zeitgenössischer Schonkost geht es in der Akzeptanz durch knapp 90% unserer Bevölkerung eigentlich ganz gut, so eine Umfrage der Hamburger Körber-Stiftung, um nicht ganz uneigennützig die eigene Vermittlungsbedeutung herauszukehren – genug problematisch im immer unübersichtlicher werdenden Musikvermittlungsmarkt. Kein Grund zur Sorge? Etliche der Befragten meinten, Konzerthäuser müssten mehr für das Verständnis ihrer Musikkultur tun. Das verwirrt. Einerseits Akzeptanz, was für ein wackliger Begriff, der schnell in deren Entzug umschlagen kann, andererseits Konsumentenunzufriedenheit? Jetzt müssten bei allen Orchesterintendanten die Alarmglocken schellern. Jeder Discounter würde sofort sein Sortiment und Verkäuferlächeln neu sortieren und Socken mit Blasmusik feilbieten. Ob das den Erfolg all der philharmonischen und weiteren Blechschäden erklärt? Damit lässt sich wohl vor allem älteres und ländliches Publikum begeistern. Wenn am Ende ein Protagonist der Stiftung erklärt, dass es in Zukunft vor allem auf „charismatische und glaubwürdige Vermittlerpersönlichkeiten“ ankommen würde, steigen in mir Gruselbilder von üblichen Sandwich-Konzerten (romantische oder klassische Ouvertüre, ähnliches Solokonzert, abschliessende Symphonie eines Herrn B. oder M.) auf, die nicht von den landläufigen Ego-Fuchtlern sondern von Florian Silbereisen-Musikantenstadl-Klonen moderiert und portioniert werden: wenn es um die Anbindung im Sinne des demographischen Faktors vor allem um noch mehr Senioren ginge, wäre dies ein Weg, wie allmählich Kinos für Senioren entstehen – mit verstellbaren Sesseln und Häppchen statt Cineplex-Enge und Maxi-Popcorn-Menüs. Ja, wenn in diesen Palästen ein Jugendlicher Popcorn verstreut, wird er vom Saalpersonal dezent hinaus bugsiert.
In den Konzerthäusern geht das wohl bisher ganz ohne Nachdruck. Die Jugend bleibt einfach gänzlich fern. Ihnen seien die Inhalte zu unverständlich, so die Körber-Stiftung. Ausserdem sei die Atmosphäre zu „elitär-abgehoben“. Was das in mir auslöst, sind noch grauenhaftere Assoziationen, gegen die Silbereisen einfach nur hübscher Trash ist: Statt in Frack und Kostüm hocken die Musiker in neuesten H&M-Klamotten auf der Bühne, der Dirigent oder gar die Dirigentin trägt mindestens eine tiefsitzende Jeans mit herauslugender Boss-Short und einer Basecap mit der Aufschrift, sündteuer in Goldlettern, Music-Boss. Die erste Geigerin trägt ein Arschgeweih und auf der Silberketten-behangenen Brust des Paukers ist im V-Ausschnitt seines T-Shirts der aufwändig gestaltete Hauttintenschriftzug „Tymp“ zu erahnen. Oder was weiß ich. Klar, Programmhefttexte, die aus dem o.g. Sandwichprogramm nach mehr als 200 Jahren Sekundärliteratur zu all den Werken des Repertoire den neuesten intellektuellen Dramaturgensülz herauszudestillieren versuchen, als sei Musikverstehen die Kunst eines musikwissenschaftlichen Sommeliers, langweilige Anzüge der Herren und widerliche Parfüms der toupierten Damen sind wahrlich ein Grund, Konzertsäle zu meiden. Allerdings smartphonverliebte Jugendliche und ihre Duftversuche genauso.
Was könnten weitere Folgen sein? Manche Orchester und Veranstalter bemühen sich inzwischen, einigermassen bunt interessante, selten gespielte Stücke zusammenzuwürfeln, fischen da aber auch immer wieder in Klassikradio-Häppchen-Untiefen. Riskanter wäre es, bisheriges Repertoire mit Film, Neuer Musik und Pop-Bearbeitungen zu mischen. Da stellt sich wohl Vielen gerade der Nackenkamm auf. Wenn man sich mehr trauen würde, die Programme wirklich aufzubrechen, natürlich auch da unbekannte Schumann-Klavier-Konzertstücke einbaut und trotzdem verführerische Popular-Perlen einstreut, können Alle nur gewinnen. Vor allem bekämen lebende Komponisten eine Chance, über allfällige notwendige Arrangements und Potpourris und in klugen Programmen, die eben auch für Avanciertes an älterer und ganz neuer Neuer Musik als Urmutter zulassen, häufiger mit Orchestern arbeiten zu können. Denn um bei den Supermärkten mit Blasmusik oder ohne zu bleiben: ohne einen knalligen „Neu“-Stern geht es auch nicht! Denn die jungen Leute wird man eben nicht durch Nachahmung von Free-TV-Formaten gewinnen, sondern wenn auf allen Registern und Ebenen frischer Wind durch die Konzertsäle weht.
Und dazu braucht es keine dramaturgischen Moderatoren, die Komponisten selbst werden mit Wort und Klang begeistern! Also meine Schreiers, Kreidlers und Scheuers – wo sind Eure U2-Arrangements und Madonna-Variationen und der Link dazu in eigenen, spritzig-geistigen eigenen Werken? Oder anders, bevor alle nicht Genannten mir Parteilichkeit unterstellen: liebe Intendanten, wäre das nicht mehr als ein Kopfschütteln wert? Fragt uns, wir werden Euch solche Stücke und vielleicht auch mal richtige Burner schon liefern – mit netten Familienkonzerten gewinnt Ihr keinen einzigen späteren Hörer, nur wohl bald auch verliehene Musikvermittlungsmedaillen.
Komponist*in