„Futuristengefahr“ [5] Neue Musik vs. Zukunftsmusik

Wenn Sie bis jetzt diese Serie verfolgt haben, so werden sie sich zurecht fragen: Wer ist er, dass er so bestimmt argumentiert. Weiß er es denn, was „Neue Musik“ ist? Natürlich nicht. Wie jeder Mensch, der sich intensiv mit Neuer Kunst beschäftigt, zweifelt auch der Autor dieses Blogs immer wieder am Fortgang der Musik, verlässt ein Konzert enttäuscht oder schüttelt über manche Entwicklung den Kopf. Die dezidierte Haltung gegenüber den vorgestellten Schriften wurzelt jedoch in der Überzeugung, dass es nicht die wohlfeile Einstellung, „das meiste neue ist nichts“, oder die ungefähre Suche nach einem Allgemeinmenschlichen, Gefühligen oder gar Natürlichen sein kann, die den musikalischen Diskurs voranbringt. Ebensowenig liefern Schönheitsformeln, Hirnforschung oder Anthropologie den Schlüssel zur ästhetischen Erfahrung.

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Jeder Mensch hat eine andere Hörgeschichte, eine andere Hörbiographie, die sein Musik-Erleben anders beeinflusst. Diese individuelle Erfahrung kollektiv zu teilen, ist ein Kern des sozioästhetischen Zusammenhangs, den wir Musik zu nennen pflegen. Diesen nicht zu zerstören, indem man zur vermeintlichen Intaktheit eines höheren Organismus Teile herausschneiden will, sollte im Interesse jedes Hörers sein. So viel Musik wie heute war nie. Und vielleicht trifft ja die „futuristische“ Aussage von Hans Pfitzner viel eher auf unsere heutige Zeit, als auf seine eigene.

Busoni erhofft sich von der Zukunft alles für die abendländische Musik und faßt die Gegenwart und Vergangenheit auf als einen stammelnden Anfang, als die Vorbereitung. Wie aber, wenn es anders wäre? Wenn wir uns auf einem Höhepunkt befänden oder gar der Höhepunkt schon überschritten wäre? Wenn unser letztes Jahrhundert oder unsere letzten anderthalb Jahrhunderte die Blütezeit der abendländischen Musik bezeichneten, die Höhe, die eigentliche Glanzperiode, die nie wiederkehren wird und der sich ein Verfall, eine Dekadenz anschlösse, wie die nach der Blütezeit der griechischen Tragödie? […] Ob nicht die Aufgabe unserer Zeit anstatt die Sechsteltöne zu suchen, in rasendem Tempo vorwärtsstürmen zu wollen, jedes Errungene einem Neuen zuliebe vernichten zu wollen – ob nicht vielmehr die Aufgabe unserer Zeit eine liebevolle Besinnung wünschenswert erscheinen ließe auf das, was entstanden ist und was gegenwärtig entsteht und zwar nicht nur auf das, was an der Oberfläche schwimmt? Der Irrtum herrscht zu jeder Zeit vor, aber er hat immer eine andere Färbung. Die Signatur der vergangenen Zeitepoche mag Philisterei gewesen sein, die Signatur der heutigen ist sie nicht, viel eher das Gegenteil. Die vorhergehende Zeit fragte bei allem Neuen: Ist mir das bequem und verständlich? Die gegenwärtige frägt: Werde ich mich nicht als rückständig blamieren? Das ist der ganze Unterschied.

„Neue Musik“ ist ein enger Begriff für ein weites Feld. Weiten wir also den Begriff. Suchen wir die Zukunftsmusik.

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Musikjournalist, Dramaturg

Eine Antwort

  1. J. Marc Reichow sagt:

    Übrigens empfiehlt es sich – Dank für eine so angeregte Viertelstunde, Patrick -, Busonis „Entwurf“ noch einmal ohne Pfitzners gehässige Brechung zu lesen. Busoni selbst nämlich spricht erstaunlicherweise nur in zweieinhalb Passagen, eine davon ein E.T.A. Hoffmann-Zitat, von der „Zukunft“.

    Tatsächlich handelt seine Ästhetik von der Suche nach dem Unbekannten, von der Freiheit und der Befreiung der Musik (von Tonsystemen, Temperaturen, Notationsformen) und zielt – wenn irgendwo hin, dann – ins Nirwana, jenseits des bloßen Futur.

    Selbst das ist allemal zukunftstauglicher weil: weniger verlogen als Pfitzners polemisch konstruierter und eindimensionaler Futuristenbegriff, der auf der Verleumdung fußt, Busoni wolle „jedes Errungene einem Neuen zuliebe vernichten“.

    Wirklich: Pfitzner bleibt nutzlos für alle Zukunft.