Chinesisches Stichwörterbuch (4)
Chinesische Kompositionen
Wie klingt eigentlich chinesische Neue Musik? Da chinesische Musiker international immer erfolgreicher werden (zumindest die, deren Namen man sich gut merken kann, z.B. Tan Dun oder der Wunderpianist Peng-Peng Gong), kann man dies natürlich leicht selber beim Neue-Musik-Festival seines Vertrauens nachprüfen. Im Grunde kann man sagen, dass Chinesen wahnsinnig schnell lernen, aber gerade deswegen oft so klingen wie etwas, das man schon kennt (wie gesagt, sie lernen schnell, und man hört dann auch, von wem sie es gelernt haben).
Allseits beliebt sind zum Beispiel erweiterte Spieltechniken und die daraus resultierenden Klänge, die dem chinesischen Musikdenken sehr nahe kommen. Helmut Lachenmann gilt nicht nur hier sondern auch in China zu Recht als Gott, auch dank des Goethe-Instituts. Und schließlich gibt es zum Beispiel ja auch in der chinesischen Oper allerlei Geräusche und „Spezialeffekte“.
Wir wurden beauftragt, als Gastensemble drei Stücke örtlicher chinesischer Komponisten zu spielen. Zumindest zwei der Stücke machten unserer Sopranistin einige Sorgen, denn einerseits waren die „Lyrics“ nur in chinesischen Schriftzeichen notiert, und andererseits erreichte der Tonumfang selbst für einen Koloratursopran schwindelerregende wenn nicht sogar unsingbare Höhen. Schweren Herzens sagte sie also diese zwei Stücke ab, und wir waren sehr gespannt, wen uns unsere Gastgeber als Ersatz schicken würden.
„Pièce de Resistance“ war vor allem das mysteriöse Werk „LEO“ von Shi Ziwei , das einen Sopranpart besaß, der selbst der Königin der Nacht die Schweißperlen in die Stirn getrieben hätte.
Skurrilerweise waren allerdings alle anderen Parts sehr einfach, fast läppisch zu spielen, so musste ich zum Beispiel als 2. Pianist eigentlich immer nur in Triolen mit einem Besen auf diverse Klaviersaiten schlagen, hierzu musste die Sopranistin dann ständig „Ja, Ja, Ja!!!!“ stöhnen. Honi soit qui mal y pense.
Wir wunderten uns allerdings über das in den Noten mehrmals auftauchende Instrument „Banshee“, denn der Name bezeichnet normalerweise einen irischen Geist, dessen unheimlicher Gesang Menschen töten kann – also genauso wie Bono von U2. Was genau sollten wir also da spielen?
Des Rätsels Lösung: Mit „Banshee“ war tatsächlich „auf den Klaviersaiten“ gemeint, also genauso wie in Henry Cowell’s berühmten Klavierstück „Banshee“, bei dem der Pianist auf den tiefen Basssaiten rumrubbelt, bis diese aufkreischen.
Nach dieser Logik müsste man in Zukunft also auch die kleine Trommel „Bolero“ nennen.
Mit Spannung erwarteten wie bei der ersten Probe die Sopranistin, die sich als kleines freundliches und extrem schüchternes Pummelchen erwies. In der Folge wurde diese arme Sopranistin von sowohl Komponisten als auch Qiqi erbarmungslos bei den Proben gequält, zurechtgewiesen und angebrüllt. Wie in China üblich, reagierte sie darauf weder renitent noch betroffen, sondern mit keinerlei sichtbaren Gefühlsregung, um nicht ihr „Gesicht zu verlieren“. Sie sang fast den gesamten Part eine Oktave (manchmal sogar zwei Oktaven) zu tief, was ich für eine bei Sängern übliche Stimmschontaktik bei den Proben hielt.
Beim Konzert war die Arme dann so nervös, dass sie mit dem Rücken zum Publikum sang, übrigens immer noch eine Oktave zu tief, und mit noch mehr zitternder Stimme als bei den Proben. Ich schämte mich fast, sie mit meinem Besen anpeitschen zu müssen: „Ja!, Ja!! JA!!!“ sang sie keuchend, im Rhythmus meiner Schläge.
Der eher ein bisschen mitleidige Applaus dauerte 2,345 Sekunden. Aber der ominöse „LEO“ war wohl befriedigt worden (es ging wohl um das gleichnamige Sternzeichen).
Alternative Möglichkeiten der Neue-Musik-Finanzierung
Obwohl wir jeden Abend rührend von unseren Gastgebern umsorgt wurden, gab es dennoch Situationen, an denen wir uns mutig alleine durch die Straßen wagten. Nicht, dass das in China besonders gefährlich ist. Besonders oft kamen wir dabei an folgendem Schild vorbei, dass augenscheinlichen „Trompete spielen verboten“ zu heißen scheint, aber dann doch leider nur „Hupen verboten“ bedeutet. Bei anderer Gelegenheit schlichen wir durch die engen Gassen einer Art Slum während es hinter den Türen mysteriös klapperte und klackerte: illegale Mah-Jongg-Partien um Geld, wie ein Blick durch den Türspalt uns verriet.
Irgendwann lockte uns aber doch unsere Hotelbar, die das gesamte erste Stockwerk einnahm. Immer wieder sahen wir aus der Lobby nach oben, wenn wieder einmal seltsame Gestalten die Freitreppe herunterwankten – scheinbar gab es dort eine Art Transvestitenvarieté, anders waren auf jeden Fall die als Frauen verkleideten Männer und die besoffenen Geschäftsmänner die ihnen hinterherliefen nicht zu erklären. Das machte die ganze Sache natürlich noch interessanter. An anderen Abenden wiederum schien der Laden merkwürdig still und kein Mucks war zu hören.
Wie schon erwähnt wohnten wir in einem Hotel, dass dem Szechuan-Conservatory of Music gehörte. Daher gab es auch einen weißen Flügel in der Lobby (der ab und zu mal von selbst Clayderman-Melodien spielte) und so genannte „Themenzimmer“, die man sich als Ehe- oder Liebespaar mieten konnte, und in denen das Bett die Form einer Violine hatte.
Eines Abends betraten wir also unerschrocken zu viert das mysteriöse Bar-Etablissement. Wir betraten einen abgedunkelten und muffigen Raum – eine Lichtorgel beleuchtete eine heruntergekommene Bühne, auf der ein paar traurige weiß gekleidete Frauen eine Art Karaoke-Show abhielten. Schnell wurden wir von einem Kellner (der ganz außer sich schien, dass vier Europäer – darunter drei Frauen – die Bar betraten) und führte uns an den Tisch ganz vorne vor den traurigen Frauen. Das war uns dann doch zu mulmig, daher verlangten wir einen Tisch am Rand des Saales. Die Bühne war umgeben von Separées, in denen chinesische Geschäftsleute zu residieren schienen.
Eilfertig brachte uns der Kellner zwei riesige Fässer Bier (kein Witz!) – aus Angst vor einer astronomischen Rechnung lehnten wir erst einmal ab und er verschwand wieder. Inzwischen hatte einer der Geschäftsleute einem Kellner etwas ins Ohr geflüstert und dieser lief nun auf die Bühne und hängte einer der traurigen singenden Frauen ein riesiges weißes Herz um. Diese schaute nun noch trauriger drein und wurde vom Kellner zum Tisch mit den Geschäftsleuten geführt, wo sie sich auf den Schoß des dicksten und hässlichsten setzen musste. Dieser sagte dann irgendetwas auf chinesisch in die Runde, was alle zum Lachen brachte. Dann stand er (die traurige Frau an der Hand) auf und machte sich mit ihr vom Johlen seiner Freunde begleitet auf den Weg in eine Kammer die sich praktischerweise hinter der Bühne befand, auf der sich währenddessen weitere traurige Frauen bereit für ihren Auftritt machten. Bei einem der hinteren Räume öffnete sich eine Tür, und ein Mann mit einem Eimer und einem nassen Wischmopp kam heraus.
Wir schauten uns kurz an, standen auf, und verließen auf dem schnellstmöglichen Weg die Bar, bei der es sich ziemlich eindeutig um eine Art Bordell handelte.
Pikant natürlich der Gedanke, dass dieses Bordell Teil des universitätseigenen Hotels ist und sicherlich auch Einnahmen generiert, die dem Konservatorium von Chengdu zugutekommen. Man stelle sich vor: eine deutsche Hochschule betreibt direkt neben dem Unterrichtsgebäude ein gut florierendes Puff und finanziert damit sein Neue-Musik-Festival!
Von den Chinesen können wir noch viel lernen.
Karaoke im chinesischen Musikhochschulenbordell
Moritz Eggert
Komponist
Großartig! Mehr davon :-)