Chinesisches Stichwörterbuch (2)

Musikuniversität Chengdu

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Zuerst einmal eine Zahl: 1200. Ihr denkt: Studierende? Haha. Nein: natürlich: LEHRKRÄFTE! 900 Professoren und 300 Lehrbeauftragte beschäftigt die Musikuniversität Chengdu, oder genauer: Die Universität für Musik und darstellende Künste, aber so heißen die Dinger bei uns ja auch. Mir wurde nie gesagt, wie viele Studenten es dort gibt, aber da eine Umrundung des Campus ca. eine halbe Stunde dauert, während der man an mehreren Hochhäusern, mehreren Verwaltungsgebäuden, einem riesigen Sportplatz und noch mehr Hochhäusern vorbeikommt, schätze ich mal es dürften so um die 15.000 sein, also eine kleine Stadt. Plus sicherlich noch einmal mindestens 500 Menschen, die in der Verwaltung arbeiten. Und sicherlich maximal eine Toilettenputzkraft (siehe unten).

Chengdus Musikuniversität ist nicht nur die größte des Landes, sondern auch die größte der Welt. Wo andernorts Übezellen zu finden sind, gibt es hier ÜbeHOCHHÄUSER, wobei die Stockwerke jeweils von einem Instrument belegt sind. Es gibt also ein Stockwerk für Mundharmonikaspieler, eines für Akkordeonisten, und die Pianisten haben nicht nur eines sondern mehrere Stockwerke, damit irgendwann mal wieder so ein putziges Lang-Lang-Äffchen herauskommt. Es gibt einen großen Konzertsaal, der so groß ist wie die Kölner Philharmonie, dazu kommen ca. 25 weitere Konzertsäle, die zum Teil exakt gleich aussehen. Jeder dieser Säle wird rund um die Uhr von einem eigenen Pförtner bewacht, der in einem kleinen Raum direkt neben dem Saal wohnt und den ganzen Tag Fernsehen schaut. In all diesen Sälen finden rund um die Uhr Proben und Konzerte statt. Als wir einmal einen Proberaum suchten, verirrten wir uns in einem der riesigen Gebäude – am Ende eines langen dunklen Ganges stießen wir auf vollkommen unvermutet auf einen weiteren Konzertsaal, in dem ein 8-jähriger Junge gerade sämtliche Chopin-Etüden spielt, vor ca. 300 Leuten. Es ist zu vermuten, dass in Chengdu zu jeder beliebigen Tages-und Nachtzeit ein 8-jähriges Wunderkind in irgendeiner der Gormenghastartigen Hallen gerade sämtliche Chopin-Etüden spielt, und zwar vorwärts und rückwärts gleichzeitig.

Der große Vorteil dieser Massen von Studenten liegt auf der Hand und macht sich beim „Autumn Music“-Festival angenehm bemerkbar: während nämlich in Deutschland bei einem hochschuleigenen Neue-Musik-Festival gerade mal eine Handvoll Studenten vorbeischlurfen würde, muss man diese Anzahl in Chengdu einfach mit 100 multiplizieren, und schon kriegt man den großen Saal voll. Es ist also vollkommen egal, was man macht: irgendwer kommt immer! Dies eröffnet natürlich auch der drögesten zeitgenössischen Musik ganz neue Perspektiven…

Auf dem Campus gibt es außerdem mehrere Supermärkte, Waschsalons und Kinos wie Restaurants. In jedem der Supermärkte gibt es auch eine Garküche, in der rund um die Uhr merkwürdige gestreifte Würste in einem wenig vertrauenerweckenden Sud vor sich hinbrutzeln. Diese Würste sind bei den Studenten sehr beliebt, und werden auf einem kleinen Holzspieß aufgespießt aus der Hand gegessen.

Übehochhaus 3B (nur für Flötisten)

A propos Würste…

Toiletten

Man hat ja im Laufe seines Lebens schon vieles gesehen – wer kennt nicht ländliche Plumpsklos, zwielichtige Bahnhofstoiletten und abgeranzte Pissoirs. Aber man hat nichts gesehen, ich wiederhole: NICHTS, wenn man nicht einmal im Leben chinesische Toiletten kennengelernt hat. Tatsächlich sind chinesische Toiletten so grauenhaft, dass man den Willen zum Leben verlieren kann. Das hat durchaus mit Musik zu tun, denn wenn man so ein richtig depressiv abgefucktes Stück schreiben will, über das dann Kritiker schön etwas schreiben können, muss man es einfach nur „Toilette. Chendgu. 2012 – Fragmentkonstellation Formant 3…“ nennen.

Chinesische Toiletten sind – ähnlich wie ganz alte Klos in Paris – erst einmal vor allem Löcher im Boden, auf die dann aus diversen Körperöffnungen etwas draufgetröpfelt wird (festere Absonderungen sind bei dem was man in China so isst eher selten). Meistens in eine grüne Tüte hinein (oder öfter auch daneben, als eine Art verpflichtendes Graffiti des Vorgängers). Was die Frage aufwirft, wer irgendwann einmal diese grüne Tüte auswechseln muss. Da dies aber nie geschieht, muss die Frage nicht gestellt werden.

Dabei zuschauen tuen einem dann mindestens 20 Menschen, da Türen in chinesischen Toiletten grundsätzlich kaputt oder nicht existent sind. Und damit meine ich jetzt auch die Türe zur Toilette selber, was bedeutet, dass zum Beispiel die Musikstudenten der Universität Chengdu täglich ihren Professoren beim Kacken zuschauen können, wenn sie auf dem Weg in ihr Übezimmer sind. Das ist keineswegs übertrieben, es ist wirklich so! Es ist auch möglich, aus dem Klo heraus Vorübergehende anzusprechen und mit Ihnen zu reden, was die Chinesen auch gerne tun. Überhaupt ist es gerade unter Mädchen Brauch, die Toilette gemeinsam nicht nur zu besuchen, sondern sich auch bei der Benutzung intensiv gegenseitig zuzuschauen und eventuell auftretende Verdauungsphänomene ausführlich zu kommentieren.

Ach ja: Hände gewaschen wird danach nie, weder von Männlein noch Weiblein, das Wasser funktioniert selten, Seife gibt es nie, und zum Abtrocknen hält man die Hände wedelnd in die Luft, sodass noch mehr Keime von ihnen aufgenommen werden können. Auch eine Form der Bevölkerungskontrolle.

Die Büros der Administration der Musikuniversität Chengdu sind geschickt direkt gegenüber den stets offenen und unerträglich stinkenden Toiletten platziert, sodass die meisten bürokratischen Studentenangelegenheiten nur mit Gasmaske oder eisernen Nerven erledigt werden können. Die anwesenden Bürokraten bekämpfen den Gestank mit Kettenrauchen, was die Sache irgendwie noch schlimmer macht.

Kurz gesagt: Ein grundsätzliches Umdenken in Sachen öffentliche Toiletten würde ganz sicher der chinesischen Tourismusindustrie eine Umsatzsteigerung von 100% gestatten. Aber die sind ja wahrscheinlich schon reich genug.

Was selten zu sehen war: Eine vorbildlich gepflegte chinesische Toilette (man beachte den kleinen Schrein links, für die Toilettengötter)

Applaus

Applaus in China darf als ein sehr wenig ausgeprägtes Begleitmerkmal eines Konzertes angesehen werden. Der durchschnittliche Applaus in einem Konzert beträgt 1,3456 Sekunden, also fast weniger als es braucht, vom Klavierhocker aufzustehen. Chinesische Musiker sind es daher gewohnt in vollkommener und für uns Abendländler peinlicher Stille die Bühne nach dem Spielen zu verlassen. Wir stellten bei unserem Konzert mit 15,2 Sekunden einen absoluten Applausrekord her, über den noch lange gesprochen wurde, zumindest wurden wir daraufhin überall wie Filmstars begrüßt.

Die Länge des Applauses sinkt dann noch einmal beträchtlich bei „offiziellen“ Veranstaltungen. Mit so einer begann nämlich auch das Festival. Obwohl eindeutig experimenteller und avantgardistischer Musik gewidmet, begann das Festival nämlich erst einmal mit einem pompösen offiziösen Festakt., wie es sie seit der DDR in Europa wohl nicht mehr gibt. Zuerst tauchte ein Redner auf, der in blumigen Worten den Beginn einer neuen Ära, ja einer neuen Epoche beschwor, die nun mit diesem Festival eingeleitet würde. 1,245 Sekunden Applaus. Dann traten offiziös gekleidete Damen und Herren auf und sangen einen kitschigen kommunistischen Chor. 0,879 Sekunden Applaus. Ein weiterer Herr trat auf, dankte dem Chor (kein Applaus) und sprach von dem Beginn eines neuen Zeitalters in der chinesischen Kunst (0,79 Sekunden Applaus, etwas tröpfelnd). Danach trat wieder der Chor auf und sang erneut ein kommunistisches Arbeiterlied (vielleicht ist es auch etwas ganz anders, aber so steif wie die rumstanden, konnte es eigentlich nur ein kommunistisches Arbeiterlied sein). (0,678 Sekunden Applaus). Erneut trat ein Redner auf, etc. pp…Das Ganze dauerte gefühlte vier Stunden. Gottseidank blieb dies das einzige Konzert in dieser Art, die folgenden Konzerte waren dann ganz normale Neue-Musik-Konzerte.

Bei diesem Eröffnungskonzert lernten wir auch die – absolute Seltenheit in China! – perfekt amerikanisches Englisch sprechende 15-jährige Caroline (eigentlich Yijia, aber alle Chinesen geben sich zusätzlich einen westlichen Namen, damit wir uns diesen merken können) und ihre schüchterne Freundin ??? kennen (Yai-Ji? Ji-Yia? Yia-Jia?), zwei Jungstudentinnen die sichtlich fasziniert von unserer blonden Sopranistin Anna Lucia Richter waren und daraufhin nicht mehr von unserer Seite wichen. Ich fragte Caroline, ob die Studenten eigentlich diese offiziellen Konzerte mögen. Sie antwortete, dass tatsächlich alle diese Konzerte abgrundtief hassen, aber „man sei es halt so gewohnt“.

Dann fragte sie mich, ganz unschuldig, „So what do you guys think about Hitler?“ .

So what do you guys think about Mao?

Moritz Eggert

(Fortsetzung folgt)

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