Iamus komponiert. Und ein Dramolett von Stefan Hetzel.

Es ist eigentlich schon ein Weilchen soweit – die Computer komponieren ja schon seit einiger Zeit mit, nicht nur erst seit MaxMSP. Doch nun komponieren sie anscheinend so gut, dass Menschen sie nicht mehr als Computerkomponisten erkennen können, berichtet zumindest dieser Artikel:

Stefan Hetzel hat sich davon zu einem Gastartikel anregen lassen. Hier ist er:

Vor kurzem las ich mit großem Interesse, aber ohne rechte Begeisterung in dem Bändchen „Musik, Ästhetik, Digitalisierung“ aus dem Jahr 2010, welches im Wesentlichen eine Debatte zwischen den Komponisten Claus-Steffen Mahnkopf und Johannes Kreidler abbildet. Einige Argumentationen beider Seiten kamen mir merkwürdig bekannt vor. Schließlich kam ich darauf, warum: In mancherlei Hinsicht wiederholt sich hier die Kontroverse zwischen dem „Humanisten“ und dem „Technokraten“ über das Thema „Künstliche Intelligenz und musikalische Komposition“, die ich in meinem Dramolett „Interaktivität“ bereits 1998 in eine, äh, populäre, wenn auch nicht populistische Form zu fassen versuchte.

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Die Kontrahenten meines damaligen Textes hießen freilich Konrad Boehmer und Clarence Barlow, denen ich die Soziologen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann als Sekundanten zur Seite stellte. „Interaktivität“ stellte nichts anderes als eine leicht dramatisierte Collage aus Originaltexten dieser Autoren da.

Ich nahm mir das Dramolett noch einmal vor und aktualisierte es maßvoll als „Interaktivität 2.0„. Einige wenige Schlüsselbegriffe aus der Mahnkopf / Kreidler-Debatte, die in der Urfassung nicht vorkommen (wie etwa „das Nicht-Identische“) wurden eingefügt. Im Wesentlichen blieben die Argumentationsgänge jedoch unverändert.

Da mir der Text zu lang für einen Blog-Artikel erscheint, habe ich ihn in voller Länge nur auf meiner Homepage publiziert. Im Anschluss jedoch ein kleiner Ausschnitt, der ja evtl. zum Weiterlesen animiert. „Interaktivität 2.0“ in voller Länge gibt’s hier.
Interaktivität 2.0
Künstliche Intelligenz und musikalische Komposition
Dramolett in vier SzenenPersonen:
H Der Humanist
T Der Technokrat
K Der Kompositionsschüler

SZENE 2

Mensa der Musikhochschule. Orangefarbenes Plastikgestühl. Weiße Resopaltische mit angeschlagenen Ecken. Ein paar Stunden später.

K Also ich finde Komponieren am Computer einfach spannend! Man weiß vorher nie so richtig, was dabei herauskommt. Außerdem geben einem die vielen Optionen einfach ein gutes Gefühl. Du stehst drüber, du beobachtest, wie das eigenständig läuft, was du selber programmiert hast, du fühlst dich wie … wie …

H bitter lächelnd … Gott?

T intervenierend … ja klar, jetzt unterstellen Sie uns natürlich gleich mal wieder die üblichen macht Anführungszeichen mit den Fingern „technokratischen Allmachtsfantasien“! Sehen Sie nicht, dass das ein Totschlagsargument ist, das ich genausogut auf Ihre rousseauistische Gutmenschenpädagogik anwenden könnte? – Abgesehen davon dürfen Sie sowieso nicht alles, was mein Schüler hier sagt, auf die Goldwaage legen. Er ist zweifellos hochbegabt, aber seine Entwicklung blickt K prüfend an, dieser blickt beschämt zu Boden ist eben …

H sarkastisch … noch nicht abgeschlossen, mag sein. Aber unter Ihrer Obhut, da bin ich mir ganz sicher, wird er reifen! zornig, lauter werdend Allerdings nicht zum Künstler, sondern zum … zum … Programmiersklaven mit Tunnelblick, zum … zum Freak!

T verärgert Ich bitte um ergebenst um Argumente!

H auftrumpfend Kybernetische Kunst, wie Sie sie praktizieren und lehren, verkörpert doch letztlich genau das, was sich der fantasielose Kleinbürger schon immer unter Moderner Kunst vorgestellt hat: Da bastelt sich halt einer seine Welt – wie eine Modelleisenbahn! Da hat einer eine Idee, und die wird dann umgesetzt, um jeden Preis, mit dem denkbar größten technischen Aufwand. Ich nenne das schlicht Materialisierung beschränkten Bewusstseins! Und, wissen Sie was, im Grunde ist Ihnen doch klar, dass Sie sich damit Ihr eigenes Grab schaufeln, dass Sie damit an Ihrer Selbstabschaffung als Komponist arbeiten! Ich verstehe einfach nicht, wieso Sie ständig so tun, als hätten Sie dabei auch noch Spaß! angeekelt Das hat etwas geradezu Perverses, etwas von Selbsthass!

K aufbegehrend Äh, wenn ich …

T fährt K über den Mund Ist schon gut, aber jetzt lassen Sie mich mal antworten! H zugewandt, mit großer Sanftheit, als spräche er mit einem Kind Ihre eloquente Habermas-Paraphrase in allen Ehren, aber sie kämpfen hier als Don Quijote gegen Windmühlen …

H sarkastischdigitale Windmühlen sozusagen …

T holt tief Luft Lassen Sie mich einfach mal erklären, warum!

H lehnt sich zurück. Der Plastikstuhl gibt ein lautes Knarzen von sich. Nur zu, ich bin gespannt.

T mit weit ausholender Gebärde Dazu muss ich ein wenig allgemeiner werden und das Terrain der Neuen Musik verlassen. Also – warum sind Algorithmen, also Rechenvorschriften, in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen heutzutage auf dem Vormarsch? Was ist der Grund ihres beispiellosen Erfolgs?

H lässig Ihre … Banalität?

T sehr ruhig Falsch. Die Ursache liegt in der zunehmenden Ablösung von Interaktion durch Gesellschaft.

H verständnislos Ich verstehe nur Bahnhof. Geht’s auch ein bisschen weniger kryptisch?

T dozierend Interaktion, also der herkömmliche soziale Austausch menschlicher Individuen, spielt doch ganz klar eine immer geringere Rolle bei der Lösung wirklich wichtiger gesellschaftlicher Probleme, oder?

H plötzlich gelangweilt, mit deutlich ironischem Unterton … ach so, Sie sprechen vom guten alten Tod des Subjekts! Sehr originell.

T unbeirrt In gewisser Weise ja. Allerdings nicht im Sinne des Poststrukturalismus‘!

H sarkastisch abwinkend … natürlich nicht …

T verärgert Ich bitte Sie doch, mich nicht durch ihre ständigen Nebenbemerkungen zu unterbrechen … wo war ich? Ach ja, sehen Sie, es ist doch so: Nüchtern betrachtet, ist es für die Evolution einer Gesellschaft doch einfach belanglos, ob die allermeisten dieser menschlichen Interaktionen nun aufhören oder weitergehen oder was auch immer, oder?

H fassungslos Das ist … zynisch!

T siegesgewiss Das ist nicht zynisch, das ist Luhmann!

H lässt Luft ab Luhmann. Natürlich.

T verärgert Sie halten nichts von Luhmann, das war mir schon klar!

H kühl Ach, mein Gott, … ein vereinsamter Witwer … im Reihenhaus … in Bielefeld …

T empört Na, auf dieses Niveau wollen wir uns doch jetzt bitteschön nicht begeben! Ich reduziere ja Habermas auch nicht auf seine physiognomischen Besonderheiten!

H einlenkend Ok, ja gut, dann lassen wir das, bitte fahren Sie fort!

T wieder Tritt fassend Versucht man sich einmal die Gesamtheit aller menschlichen Interaktionen heutzutage vorzustellen, wird einem schnell klar: Hier herrscht eine Art anarchisches Grundrauschen, das lediglich Spielmaterial für die Evolution der Gesellschaft liefert.

H ratlos Das mag ja alles sein, aber was hat das mit Neuer Musik zu tun – jetzt kommen Sie doch bitteschön mal zur Sache zurück!

T unbeirrt Was ich sagen will, ist: je stärker sich eine Gesellschaft ausdifferenziert, …

H verdreht die Augen … dieses Luhmann-Sprech … angeekeltscheußlich!

T … desto häufiger erscheint uns diese Masse an menschlichen Interaktionen als trivial, weil einfach nicht mehr an relevante gesellschaftliche Bereiche anschließbar, …

H genervt Wenn Luhmann doch nur irgendwo mal definiert hätte, was er eigentlich unter „Anschlussfähigkeit“ versteht! So wabert das so undefiniert überall herum und jeder versteht darunter, was er will!

T … also spielt es letztlich gesellschaftlich keine Rolle, ob diese trivialen menschlichen Interaktionen nun weitergehen oder aufhören! Sie sind einfach irrelevant!

K bewundernd Klingt toll! Aber was bedeutet es? grübelt eine Weile Je komplexer eine Gesellschaft, desto unwichtiger wird die menschliche Interaktion für ihren Fortschritt …

T saugt an seiner Zigarre Exakt.

K eifriger werdend … stattdessen werden mehr und mehr Algorithmen entwickelt, die die Chaotik der Interaktion durch quantifizierbare Verfahren ersetzen!

H mit lauter Stimme, gestenreich protestierend Aber das ist doch einfach Technik-Faschismus! Anbetung der Maschine! Und es zeugt von tiefster Menschenverachtung!

T beschwichtigend Beruhigen Sie sich. wieder wie zu einem Kind Sie stimmen mir doch darin zu, dass sich relevante gesellschaftliche Probleme heutzutage nicht mehr auf Einzelne oder deren Interaktionen zurückführen lassen, oder?

H immer noch aufgebracht Da stimme ich Ihnen keineswegs zu! Vielmehr bin ich der Meinung, achwas: ich bin der tiefsten Überzeugung, dass eine Gesellschaft nur durch intensivste Interaktion ihrer Mitglieder überhaupt irgendwelche Probleme bewältigen kann, seien es nun im Tonfall der Verachtung „relevante“ oder „irrelevante“, wer immer diese Unterscheidung treffen darf.

K studentisch frech Helmut Kohl sagt auch immer: „Wir müssen die anstehenden Probleme gemeinsam anbaggen.“ [Anmerkung des Autors: Die Szene spielt im Jahr 1990.]

H indigniert Ach seien sie doch einfach mal still, Sie, Sie … Maschinenbediener!

T entspannter werdend Wieso, unser junger Mann hat doch recht! Der permanent wiederkehrende Appell unseres Bundeskanzlers an das „gesellschaftliche Wir“ ist doch nicht mal mehr als Realsatire unterhaltsam. Überlegen Sie doch mal: Wo ist menschliche Interaktion wichtiger als gesellschaftliche Regeln?

H erschöpft Die Frage ist doch …

T … nur in ausgesprochen primitiven Verhältnissen! Soziale Formen werden in diesem Fall nur dann gefunden, wenn sie gerade gebraucht werden, bleiben an bestimme Orte gebunden und müssen immer präsent sein, um wirken zu können.

H erstaunt Improvisierte Musik wäre demnach primitiv …

T unbeirrt … und außerdem entstehen die Regeln der Interaktion sowieso erst durch die Selbstbezüglichkeit der umgebenden Gesellschaft! Es gibt also gar keine freie Interaktion freier Individuen irgendwo in einem Außerhalb der Gesellschaft, ganz einfach, weil es außerhalb der Gesellschaft nichts gibt!

H verwirrt Ich war immer dafür, Musik und Gesellschaft zusammenzudenken – ich sage nur Adorno – aber was sie da präsentieren …

T auftrumpfend … ist, mit Verlaub, ebenfalls Musiksoziologie …

K kichernd … die allerdings zu, äh, anderen Ergebnissen als Adorno kommt!

H in plötzlicher Theatralik Aber wo bleibt das Subjekt? Wo bleibt die Vermittlung von Sinnlichkeit durch ästhetische Konstrukte? Wo bleibt: – das Leben?

Iamus. Besser als Boulez?

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Eine Antwort

  1. 5. März 2013

    […] Bad-Blog-Leser Stefan Hetzel schon einen Teil seines damals in Entstehung begriffenen “Dramoletts” zum Thema “Interaktivität” hier vorgestellt. Es geht um Elektronik in der Musik, […]