Musikfreie Zone Bayreuth – Leider kein Dirigentenkrieg am Hügel!
Die meisten werden es mit Genugtuung gelesen haben, auch in der NMZ eine Randnotiz, wobei schon die Akzentuierung aufstösst: Nicht Thomas Hengelbrock leitet Sommer 2012 nicht mehr die aktuelle Tannhäuser-Produktion in der umstrittenen Inszenierung von Sebastian Baumgarten. Nein, Christian Thielemann übernimmt Hengelbrocks Job parallel zu seiner eigenen „Der fliegende Holländer“-Produktion.
War da überhaupt was im Sommer 2011? Es war nur die Rede von Baumgartens Exkremente-Pumpe. Die Sänger wurden lau beklatscht oder samt Regie verdammt. Den Dirigenten Thomas Hengelbrock nahm man nur zur Kenntnis. Bis auf wenige Besprechungen, wie in der NMZ, wurde er ignoriert. So sprach hier Peter P. Pachl:
„Entgegen vielfacher Erwartung, verwendet Hengelbrock keine alten Instrumente. Er arbeitet die Kontrapunktik und Bassfiguren ungewöhnlich heraus und betont die rhythmische Struktur der Partitur mit eigenwilligen, dem Spiel gehorchenden Verzögerungen und gedehnten Generalpausen. Dass gleichwohl (noch) nicht alles zusammen klingt, mag der Bayreuther Akustik geschuldet sein. Aber Hengelbrock gelingt die bislang ungewöhnlichste Lesart dieser Partitur seit den Anfängen von Neubayreuth.“
Liest man dies März 2012 nochmals durch, ruft man sich seltsam glasig klingende Momente, scharf gefärbte Streicher, Blechexplosionen, die dennoch die Sänger nicht übertönten, etc. in Erinnerung, wird klar, was für ein Verlust das Ende der Zusammenarbeit Hengelbrocks mit den Bayreuther Richard Wagner Festspielen bedeutet. Zynisch könnte man dem hier einspringenden Thielemann jene blinde Richard-Strauss-Einspringer-Attitüde nachsagen, als jener in de dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts für den abgesagt habenden Arturo Toscanini in Bayreuth einsprang. Aber dies verbietet sich wohl ein wenig, ist das politische Landesklima von heute mit damals schwer in eins zu setzen. Mit Thielemann am Pult wird allerdings erbarmungslos die Musizierlinie am Hügel fortgesetzt, die irgendwo zwischen Knappertsbusch, Boulez und Levine verläuft: satter bis strukturierter Sound, mal schneller, mal langsamer. Früher mit Sängersurprisen, heute mit Regiekrachern. Dirigiert nun Thielemann, sind Sänger und Regie gleich wohl Beiwerk, labt sich die Wagnerianergemeinde am vollen Klang eines modernen Orchesters.
Aber wieso braucht man dann überhaupt noch diese Festspiele? Warum dieses Tamtam, diese Summen für eine Kunst, die auch in Dresden, Wien und Baden-Baden vor vielmehr Publikum zu reproduzieren wäre? Ist Bayreuth so noch eine Werkstatt? Neue Massstäbe werden hier zur Zeit in szenischer wie musikalischer Wagnerinterpretation nicht mehr gesetzt, es sei denn, man konzediert den immer selteneren Fällen „Wagner inszeniert Wagner“ überregionales Interesse. Das grösste Experiment ist wohl das parallel stattfindende „Internationale Treffen Junger Künstler“ oder „Wagner für Kinder“.
Neuen Erkenntnissen der Aufführungen besonders der frühen kanonisierten Wagneropern verschliesst man sich mit der grossmächtigen Geste „den endgültigen Willen Wagners“ zu hüten. So muss man immer wieder Tannhäuser in der Pariser Ballettfassung ertragen, die aber so gar nicht klanglich zum Rest des Werkes passen mag. Allein die Verwendung von unterschiedlichen Hörnern (Ventil- und Waldhorn) der früheren Fassungen im Gegensatz zur Pariser Version (nur noch Hörner, also Ventilinstrumente) wirft interessante Fragen auf wie die verschiedenen Dresdner Frühfassungen, mal mit, mal ohne wiederkehrender Venus im dritten Akt. Ähnliches kann man von verschiedenen Fassungen des fliegenden Holländers erzählen.
In den jedes Jahr neu überarbeiteten Produktionen hätte man besonders mit Hengelbrock, der Alte wie Neue Musik schon länger an renommierten Häusern ausprobiert, über diese paar Jahre die verschiedenen Fassungen, ihre unterschiedlichen Dramaturgien wie Klanglichkeiten durchprobieren können und jedesmal dem „letztfassungssaturierten“ Publikum neue Schocks zumuten können! Mit weiteren zumindest historisch informierten oder aus der Neuen Musik kommenden Dirigenten wären unendlich mehr Lesarten herauszufinden, als uns jetzt wieder nur das enge Spektrum satten Klanges, der erst eine Entwicklung der Nachkriegszeit ist, vorzusetzen. Will Bayreuth noch Bedeutung für das Nachwirken Wagners darstellen, muss es sich musikalisch noch radikaler öffnen als es dies schon ein paar Male mit Pierre Boulez unternahm. So gehören auch endlich Rienzi, Liebesverbot und die Feen auf die Festspielbretter, warum nicht gepaart mit einem wenige Jahre dauernden work-in-progress eines zeitgenössischen Autorenteams, ähnlich heute brennende Themen bearbeitend wie Wagner in seiner Zeit? Besser als Wagner für Kinder wäre dies allemal. Kinderprogramme gehören ins Staats- und Stadttheater, auf eigene Festivals, aber nicht unbedingt nach Bayreuth, wo tieferes verhandelt werden sollte als eine Ikea-Kita.
Lese ich nochmals meine Zeilen, denke ich an den Medienrummel und die Skandalsucht gegenüber den Regielösungen, so wünscht man sich, dass die US-Besatzer auch heute noch ein Revuetheater am Grünen Hügel anstelle der zeitgemäßen Mutlosigkeit produzieren würden. 2015, also siebzig Jahre nach 1945 könnte man doch mal endlich „Evita“ am Hügel aufführen und die Festspiele in die Stadthalle verbannen! Als ich 1992 das Internationale Jugendtreffen wie die Festspiele selbst besuchte, prangte leicht verblasst an der Stadthalle ein Plakat mit dem damals schon ehemaligen Heldentenor Peter Hoffmann. Es wird Zeit, dass der Rest ihm dorthin nachfolgt oder zumindest endlich mal die abgesagte Henzeoper nachholt – gell, Herr Thielemann?!
Komponist*in
Hmmm, waren die Bayreuther Festspiele nicht schon immer „musikfreie Zone“ gewesen?
Ok, ich ducke mich schon mal….
Bratwurst, Promi-Auffahrt sowie sonstiges Tamtam um die Wagner-Familie sind tatsächlich musikfreie Zonen. Geht es um die Musik, die Opern, konnte man dem Neustart nach ’45 der musikalischen Besetzung sowie dem bitternötigen Regietheatereinsatz seit Chéreau zeitweise Einiges abgewinnen. Auf der Musikseite fehlt nun das Hervorragende des Hochbetriebs bzw. gänzlich das Innovative, das Regietheater unterliegt heftigen Schwankungen nach sehr gut bis na ja, löst aber letztlich auch keine Innovationen dort mehr aus.
Ob nun mit Family oder ohne, ich befürchte, dass es diese Festspiele solange geben wird, wie sich jemand Hochkultur und deren Tamtam leisten möchte – also ggf. doch noch länger, als man glaubt. Sie faszinierten ja einmal mit der Verbindung von Musik und Theater, das doch irgendwie gut gemacht ist und sehr viele Menschen erreichte. Das gelingt so eigentlich heute nur den grossen Popfestivals. Seitens der Kompositionszunft hätte sich Stockhausen ggf. sowas mit Licht vorstellen können. Allerdings spricht dies weder musikalisch noch theatral so umfassend an, wie jener Sachse es mal tat. Vielleicht muss dies auch gar nicht sein. Dennoch wäre es faszinierend, wenn NEUE Opern ähnlich die Leute anziehen würden, wie jener Hügel. Eine harte Nuss – aber mit all der Kraft die wir haben, garantiert letztlich lösbarer als die Innovationsfrage in Bayreuth! Oder ist die heutige Komponistenzunft gar nicht daran interessiert?!
Lieber Herr Strauch, auch wenn ich als Mitwirkender befangen bin, möchte ich doch Ihrer Geringschätzung der Kinderopern in Bayreuth entschieden widersprechen. Sie wissen sicher, daß Kindern heutzutage in den Schulen und in den Elternhäusern kaum noch der Zugang zu klassischer Musik vermittelt wird. Deshalb müssen sich die Theater und Orchester selbst darum kümmern, das Publikum von morgen zu gewinnen, was besonders nach dem „Rhythm is it“-Film der Berliner Philharmoniker inzwischen deutschlandweit in zahlreichen Education-Projekten geschieht. Auch in Bayreuth gibt es keine Garantie dafür, daß die Festspiele bis in alle Ewigkeit achtfach ausverkauft sein werden. Und so finde ich es sehr positiv, daß die von Wagner übrigens nie als elitäres Festival gedachten Festspiele diese so wichtige Nachwuchsarbeit nicht herablassend den kleinen Stadttheatern überlassen, sondern hier mit Vorbildfunktion vorangehen. Nur folgerichtig erscheint es da, daß die Oper Leipzig im Jubiläumsjahr 2013 den Bayreuther Kinderring von 2012 nachspielen möchte; eine weitere Verbreitung dieser maßstabsetzenden Fassung ist wünschenswert. Der große Erfolg der Kinderopern spricht für sich und straft ignorante Kommentare Lügen wie beispielsweise Nike Wagners erschreckenden Satz, man könne sich den Hügel nicht erkrabbeln.
Ich lade Sie herzlich ein, sich vorurteilsfrei auf das Experiment Wagner für Kinder einzulassen. Staunen Sie mit mir, wie ruhig und konzentriert die Kinder 100 Minuten Ring oder 70 Minuten Meistersingern lauschen und wie auch die Erwachsenen spüren, daß hier alle Mitwirkenden sich mit viel Herzblut für eine gute Sache engagieren!
In diesem Sinne grüßt Sie herzlich Ihr Hartmut Keil