Musikgeschichte – Mediengeschichte [3] Die Musik des Radios (Rundfunkklangkörper)

Kehren wir von den elektrisierenden Ereignissen der Pferderennbahnen, der Box-Arenen und der Sechs-Tage-Rennen zurück in unser angestammtes Terrain: das der Musik. Zu den Besonderheiten des deutschen Rundfunksystems gehört neben der unabhängigen Finanzierung – für die die BBC als Vorbild dient – auch die Präsenz von Klangkörpern. Bereits die Ende der 1920er Jahre gegründeten Rundfunkverbände verfügten über Klangkörper.

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Neben diesen orchestereigenen Klangkörpern wurden von den Sendern regelmäßig Unterhaltungs- und Tanzkapellen, Blasorchester, Militärkapellen, Stadttheaterorchester und Kammermusikvereinigungen verpflichtet. Darunter so hübsche Ensembles wie die Mandolinenkonzertgesellschaft Wuppertal und ähnliche Ensembles.

Heute sieht es wie folgt aus. (Also 2006 mit Stand von 2003, ich hoffe, ich finde die Quellenangabe wieder!!!)


Die Existenzberechtigung dieser Klangkörper wird inzwischen von zahlreichen Seiten befragt. (Siehe jüngst) Seit der deutschen Wiedervereinigung wurden bereits zahlreiche Klangkörper „restrukturiert“.

Die größten Veränderungen seit der Wiedervereinigung lagen zum einen in der Auflösung des Rundfunkorchesters des Hessischen Rundfunks am Ende der Spielzeit 1992/93. Über eine sogenannte Integrationslösung wurden 23 Musiker in das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt übernommen, während die übrigen Musiker in den Vorruhestand bzw. Ruhestand gingen. Beim MDR fusionierten zum anderen 1992 das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig und die Radio- Philharmonie Leipzig zum Sinfonieorchester des MDR Leipzig, während das Rundfunk- Tanzorchester Leipzig aufgelöst wurde. Die größte Fusion zu einer neuen Betriebsform und Trägerschaft fand allerdings 1994 in Berlin bei der Gründung der Rundfunk-Orchester und – Chöre GmbH Berlin statt, in der das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das Rundfunk- Sinfonieorchester Berlin, der Rundfunkchor Berlin, der RIAS-Kammerchor und die RIAS Big Band zusammengeschlossen wurden und die von den vier Gesellschaftern DeutschlandRadio Berlin (40 %), Bundesrepublik Deutschland (35 %), Land Berlin (20 %) und Sender Freies Berlin (5 %) getragen wird. Die RIAS Big Band wurde 2001 allerdings aufgelöst und aus dem Gesellschaftsvertrag gestrichen.

In den letzten drei Jahren (Stand 2006!) sind die Diskussionen um das Fortbestehen der ARD Klangkörper erneut entbrannt. Von politischer Seite versucht man mit der populären Forderung nach Senkung der Rudfunkgebühren zu punkten – das Bauernopfer Kunstkultur hat neben König Fußball in diesem Rennen keine Chance. Aber auch innerhalb der Gemeinschaft der ARD-Intendanten selbst ist der Fortbestand längst nicht mehr unumstritten. Die Argumentationsweise der Gegner der Klangkörper ähnelt einander immer. Stellvertretend sei hier aus einem offenen Brief des damaligen ARD-Vorsitzenden Prof. Dr. Thomas Gruber an die Deutscher Orchestervereinigung aus dem Jahr 2002 zitiert. Thomas Gruber war übrigens auch jener Intendant, der versuchte eines seiner Orchester, das Münchner Rundfunkorchester, dem „allgemeinen Sparzwang“ zu opfern – eine Entscheidung, die er unter dem Druck der Öffentlichkeit später revidieren musste.

Ähnlich ging es Peter Voss, der mit dem SWR Vokalensemble einen der profiliertesten Rundfunkklangkörper Deutschlands mittels einer „Restrukturierungsmaßnahme“ auszuhungern plante – sich aber letztendlich doch durchgesetzt hat. Doch nun zum offenen Brief Thomas Grubers, dessen prägnante Stelle wie folgt lautet:


Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht primär Konzertveranstalter. Sein Auftrag bezieht sich in erster Linie auf die Veranstaltung und Verbreitung von Programmen. Diese Tatsache sollten wir nicht völlig aus den Augen verlieren. Die Existenz der Rundfunk-Klangkörper verdankt sich der Gründerzeit des Rundfunks, in der die mangelhafte Qualität des Tonmitschnitts die Live-Präsenz eines Orchesters erforderlich machte. Heute sind die Beiträge der Klangkörper zum Programm eher marginal.

Dieser Argumentationsgang hinkt nicht nur, er hat weder Hände, noch Füße, noch Beine.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht primär Konzertveranstalter.

Wer hat das denn behauptet? Ein Rundfunkbetrieb ist in erster Linie eine Sendeanstalt. Wenn die Konzerte als das „primäre“ Erscheinen, da es innerhalb der Programme keine Sendeplätze mehr für von den Klangkörpern produzierte Musik gibt, ist nicht die Existenz der Klangkörper zu befragen, sondern die Programmpolitik des Senders. Wenn beispielsweise das NDR Sinfonieorchester hochwertige Produktionen neuer Musik an die Tonträgerindustrie abgibt, ohne sie je zu senden, dann ist das in der Tat fragwürdig. Doch allein auf Seiten der Zusammenarbeit von Produktion und Redaktion, die ja oft genug in Personalunion liegt.

Sein Auftrag bezieht sich in erster Linie auf die Veranstaltung und Verbreitung von Programmen.

Eben. Es geht um die Verbreitung und nicht ums Verstecken von Programmen. Erst die Existenz von hochwertigen Klangkörpern erlaubt es den Redakteuren unabhängig qualitativ überragende Konzertprogramme zu veranstalten. Wenn diese Konzertprogramme sich nicht durch ihre Dramaturgie oder durch das Niveau andernorts veranstalteter konzerte abheben, stellen diese Orchester sich selbst in Frage.

Diese Tatsache sollten wir nicht völlig aus den Augen verlieren.

Ganz meine Meinung.

Heute sind die Beiträge der Klangkörper zum Programm eher marginal.
Auch dies ist wiederum allein eine Frage der Redaktionen, wie sie ihre Sendungen programmieren. Angesichts der Vielfalt an musikalischen Spielformen, die heute existieren, wäre ein Programm, welches zu großen Teilen von den Rundfunk-Klangkörpern bestritten würde, dem Programmauftrag nicht gemäß, denn es würde die Vielfalt der musikalischen Formen und Gattungen bei weitem nicht abdecken können. Zudem scheint die bestehende Formatradiomode und die gewünschte „Durchhörbarkeit“ die Übertragung von Sinfonien brucknerschen Ausmaßes oder Big-band-Konzerten mit ekstaitschen Impros kaum dazu angetan, sich für die Bestückung mit Programm für alle Wellen zu eignen. Die Formulierung müsste also lauten: Die Klangkörper tragen unterschiedlich viel zu den Radioprogrammen bei. Dass sie auf Infotainmentkanälen nicht laufen, liegt nicht an den Klangkörpern, sondern an den Infotainmentkanälen

Die Existenz der Rundfunk-Klangkörper verdankt sich der Gründerzeit des Rundfunks, in der die mangelhafte Qualität des Tonmitschnitts die Live-Präsenz eines Orchesters erforderlich machte.

Dies ist für mich der spannendste Punkt. Denn so eindeutig und richtig die Beobachtung auf den ersten Blick scheint, so allgemein sie verbreitet ist, so anders stellt sie sich dar, wenn wir das gewonnene Wissen über die Frühzeit des Radios noch einmal darauf anwenden.

Es geht bei der Live-Übertragung eines Orchesterkonzertes eben nicht um den aufwändigen Ersatz für die technische Reproduktion eines Ereignisses. Bei der Übertragung scheint es vielmehr um die Produktion einer Erlebnisqualität zu gehen, die erst durch die Medialität des Radios ermöglicht wird. Es geht um das Erleben von Sozialität, Simultaneität/ Synchronizität und Kontingenz.

Weil das Orchester paradigmatisch für Sozialität und Simultaneität, für Koordination, das Zusammenspiel der Kräfte steht, konnte es überhaupt im 19. Jahrhundert zum Medium der Selbstrepräsentation eines freien Bürgertums werden. Die Kontingenz der ästhetischen Einzelerfahrung ist tausendfach aufgehoben im Wissen um „die Anderen“, die zahlreichen „Nicht-Ichs“, die andere Erfahrungen anhand desselben Gegenstandes zum selben Zeitpunkt machen.

Das Radio übersteigert das bürgerliche Konzert gewissermaßen, indem es den Schall auch noch von seiner Quelle ablöst, ihn gewissermaßen entkörperlicht. Der gefesselte Körper des Konzertsaals, er verschwindet im Lautsprecher ganz. Im Radio erst wird die absolute Musik zur absoluten Musik. Absolut heißt schließlich: losgelöst!

Ich zitiere zum Beleg, dass diese Separierung der Sinne eine eminente Bedeutung in der Frühzeit des Radio hatte, auch noch einmal aus einem Text, der im Jahre 1929 publiziert wurde, (Alfred Szenderi: Neue Hörfähigkeit: Beitrag zur Psychologie des Rundfunks), der auch deswegen so interessant ist, weil er eine Ausnahmestellung innerhalb des deutschen Massendiskurses einnimmt, da er die herrschende Radiopolitik kritisiert, indem er ausdrücklich die Absolutsetzung der Hörkompetenz gebildeter Schichten in Frage stellt.

[An dieser Stelle möchte ich noch kurz ergänzen, dass es quasi von Beginn des Sendebetriebes an „Medienforschung“ gab: Bereits 1924 fragte die Berliner Funkstunde ihre Hörer in der Zeitschrift Der deutsche Rundfunk „Was wollen Sie im Rundfunk hören?“ Der Reichsrundfunkkommissar Hans Brewdow himself verhinderte allerdings die Veröffentlichung der Ergebnisse mit dem Argument, dass Demokratie Kunst und Bildung verhindere – hier ist bereits die hypostasierte Radiokrise angelegt. Nicht erst in der Hörbiographie von promovierten schlipstragenden Redakteuren.]

Alfred Szendrei schreibt: „Das bisherige Hören im Konzert, im Theater, im Café oder im Biergarten war für den Laien wesentlich bedingt vom Visuellen, der gehörte Ton und die optische Wahrnehmung der Tonquelle ergaben zusammen den endgültigen Komplex der Tonvorstellung. […] Nun erfordert die Rundfunkdarbeitung eine neue Art des Hörens, bei dem das Visuelle gänzlich auszuscheiden hat. Der Rundfunkhörer muß die Tonvorstellung, bisher durch verschiedene Komponenten bedingt, nunmehr so zu gewinngen suchen, dass das Fehlende durch ganz bestimmte, bisher nicht aktiv gewesene Kräfte seines Erkenntnisvermögens und seiner Erlebnisfähigkeit ergänzt wird. […] Durch die stete rege Mitwikrung seiner Fantasie […] entsteht allmählich die Fähigkeit, bei der Wahrnehmung des musikalischen Tones die Tonquelle und den ausübenden Künstler zu vergessen, d. h. den absoluten Klang als solchen in sich aufzunehmen.“

Noch einmal der zentrale Punkt: Das Betätigen eines Schalters zur rechten Zeit erlaubt Teilhabe an einer Gemeinschaft – als Einzelner. Es vereint das Prinzip der Individualität/ Asozialität mit dem Prinzip der Kollektivität/ Sozialität. Am Lautsprecher einer Live-Übertragung kann ein Inidivduum sich selbst zum Teil einer Masse machen, ohne real dazu gehören zu müssen.

Jedes neue Medium enthält ein altes Medium. Das Radio enthält auch den Konzertsaal, mit seinem Sinfonieorchester und seinen Ritualen. Doch es sprengt das alte Medium eben auch auf. Das bürgerliche Konzert ist gerade geprägt durch seine geschickte Emulgation von inklusiven und exklusiven Momenten. Jeder, der ein Ticket erwirbt, darf dazugehören. Der Preis der Eintrittskarten ist durch Steuergelder subventioniert, Vergünstigungen für Arbeitslose, Rentner, Studierende machen den Konzertbesuch zu einem Freizeitvergnügen, das preislich sogar unter dem Niveau eines Kinobesuches liegen kann – billiger ist ein Distinktionsgewinn nicht zu haben. Es sei denn, am Radio! Denn genau darauf kommt es an: Zwar ist die Teilhabe am Konzertereignis potentiell unbeschränkt, doch ist die Zahl der Besucher limitiert und der Besuch setzt die Kenntnis von sozialen Codes voraus, die den Konzertbesuch auf extreme Weise (maß-)regeln.

Anders als im Kino, dem Massenmedium schlechthin, ist der Konzertbesucher eben Teil einer Gemeinschaft, die nicht, wie die Masse, unkontrolliert ausbricht, sondern nur in den vorherberechenbaren Momenten: am Ende eines Stückes, wenn der Dirigent seinen Taktstock sinken lässt. Und selbst dann, wird sich die Entladung der Masse noch recht zivilisert abspielen. (Im Kino kommt es deshalb nicht zur Entladung, weil sich die real anwesende Masse eben zur Zerstreuung im Kino eingefunden hat.) Im Radio wird die Öffnung des exklusiven Ereignisses für jedermann noch einmal weiter geöffnet: ob für den Studienrat mit Geheimratsecken und Eulenburgpartitur oder den Transittrucker mit Spitzbart und Senffleck auf der Jeans. Sie alle sind vom Konzert gleich weit entfernt. Sie sind genau so nah dran.

Ein weiteres Moment, was Konzertsaal und Radio zu ungleichen Partnern macht: die audiovisuellen Medien sind analphabetische Medien. Sie setzen keine Litteralisierung voraus. Nicht im buchstäblichen Sinne litteralisiert, wohl aber lesefähig muss derjenige sein, der zu den Hörern eines Sinfoniekonzertes dazugehören will. Die Wut des Verstehens ist ererbter Teil der Sinfoniekonzertrezeption. Anders als der Sportreporter, der das Spiel für den Hörer liest, ja, die Ereignisse antizipiert, die vom Gejohl oder Gejubel der Masse dann nur noch in ihrer Richtigkeit bestätigt wird, versagt auch der von Frank Elstner geschulte frei drauflosquatschende Moderator mit zwei Plattenspielern vor der Komplexität und den Unvorhersehbarkeiten der Aufführung einer Mahler-Sinfonie.

FAZIT: Das live übertragene bürgerliche Konzert ist prädestiniert, die Erlebniskategorien zu produzieren, die für das spezifische Radioerleben vonnöten sind. Mit einer Ausnahme – dass es nicht auf Massenrezeption angelegt ist. Über das Radio ist zwar der Einzelne besser adressierbar, doch ist es dem sozialen Gefüge nicht mehr möglich, diesen Einzelnen zu kontrollieren. Die Kurzwelle befreit das Individuum von der kurzen Leine der sozialen Konvention im Konzertsaal.

Unter diesen Voraussetzungen erscheinen Argumentationsweisen von Rundfunkintenanden fatal, die – wie Jobst Plog – einen Wandel der Funktion ihrer Klangkörper beobachten: von „früher typischen Produktionsorchestern“ zu „wettbewerbsbereiten Konzertorchestern“, was sich in In- und Auslandsreisen, Tonträgerproduktionen und der Bemühung um renommierte Dirigenten und Solisten äußert. Auch die ARD selbst steht in einem Wettbewerb zu anderen privat-kommerziellen Rundfunkanbietern und solle über seine Klangkörper die besondere Möglichkeit „programmlicher Wertarbeit“ nutzen. Durch Wettbewerb mit privaten Konzertveranstaltern lässt sich das Vorhandensein von Rundfunkklangkörpern nicht rechtfertigen.
In dem Wunsch, die Rundfunkklangkörper abzuschaffen, könnte man viel eher die schlussendliche Durchsetzung des Ausschlußpinzips lesen, die dem nach aussen hin auf Inklusion hin angelegten Modell des bürgerlichen Konzerts inhärent ist.

[Fortsetzung folgt]

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Musikjournalist, Dramaturg

Eine Antwort

  1. Jan sagt:

    Sehr informativer und interessanter Artikel. Ja, die Rias Big Band, das waren noch Zeiten:). Soweit ich weiß, hat sich das Orchester 2004 als gemeinnützige GmbH organisiert und gab in dem Jahr auch noch ein Konzert.

    Grüße