Der wahre Limbus – Kinder beschränkt auf die Erlebniswelt der Erwachsenen
Sollen-Können-Müssen-Dürfen. Das sind Frageverben nach Verhaltenskonditionen. Bemühen Eltern in Bezug auf ihre Kinder eines dieser drei Verben, schwingen die anderen und alle hier vergessenen schon mit. Darf mein Kind mit der Flasche gestillt werden? Soll es in die Kindergrippe? Muss es geimpft werden? Kann es früh genug sprechen? Und so weiter – ich möchte hier jetzt keine Heranwachsenden Vita anhand von Elternfragen schildern. Ich kinderloser sollte überhaupt meine Klappe zum Thema Kind halten? Rabeneltern, nein, rabiate Eltern würden jetzt lauthals „JA“ schreien, mir Blogverbot erteilen wollen, was auch immer. Allerdings erlaube ich mir gerade aufgrund meiner Distanz zum „mittendrin im Elternsein“ den Blick von Aussen. Schuld ist schon wieder diese verflixt kalte Jahreszeit. Man bleibt daheim, schläft ungestört bis früh nachmittags aus, bleibt in Facebook hängen und kurvt über die dortigen Musikpostings.
Das Youtube-Video: Man sieht ein junges Mädchen, laut Titelangaben zur Zeit der Aufnahme ca. 8 Jahre alt. Sie spielt das Menuett aus Arnold Schönbergs Suite op. 25. Sie heisst wie ihr Kanal, wobei den wohl die Eltern angelegt haben werden, Varvara Soyfer, irgendwo aus Mittelamerika, wohl Costa Rica. Unprätentiös, mit gutem Ausdruck musiziert sie das kleine Klavierstück, meistert die Sprünge und verfügt über eine passable Agogik. Irgendwie wirkt es weder süß noch kitschig. Es kommt eine Natürlichkeit herüber, wie sie der Klarheit mit übersteigertem Ausdruck der Faktur dieser Schönbergschen Komposition entspricht. Blättert man sich durch diesen Kanal, findet man weiters Aufnahmen mit Krenek und Roslavev. Kein Ferneyhough, Rihm, Kurtag, Stockhausen oder Ligeti. Krenek gleich mehrfach. Natürlich auch Haydn, Bach, Chopin. Aber doch mit grossem Gewicht jene „Neue Musik“ aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
So problematisch das Posten solcher Videos seitens der Eltern der betroffenen Kinder generell ist, vielleicht auch das „an das Licht zerren“ anhand dieses Beitrags meinerseits, überzeugt Varvara viel stärker mit den „modernen“ Stücken als all die echten und vermeintlichen gleich alten oder extrem jüngeren Begabungen. Diese werden immer nur mit barocker, klassischer oder romantischer Musik zur Show gestellt, vielleicht gerade noch Jazzartiges, Schostakowitschhaftes oder Bartokähnliches: Neben dem Genialitätsbeweis des eigenen Kindes, das textil aufgehübscht wird und vor allem „schöne Musik“ spielt, um damit noch Meta-Genie jenseits höchster Begabung aufzuzeigen, soll/wird/muss vor Augen geführt werden, dass die Eltern Alles richtig gemacht haben. Das Kind wurde dem gemäß zum richtigen Moment auf die Welt gebracht, richtig genährt, rechtzeitig Bildung ausgesetzt – wohl bereits im Mutterleib, mit dem richtigen Finanzaufwand zu den richtigen Lehrern geschickt, um die richtige Musik zu lernen.
Wenige, sehr wenige Kinder mögen tatsächlich bei diesen verordneten elterlichen Bildungschancen enormen Spass empfinden. Selbst sie bewegen sich hauptsächlich in den von den Erwachsenen vorgegebenen Strukturen. Was sollen junge Menschen denn auch sonst! Im Bereich der Musik könnte man sie dennoch freier und weiter von den eigenen Wertevorstellungen und Geschmäckern agieren lassen. Abgesehen von wirklich grifftechnisch wie grosse Kraft erfordernden Werken, kann man die Kinder auf Alles zugreifen lassen. Vielleicht wird nicht jeder Ausdruck erreicht, den besonders die Romantik auszustrahlen scheint. Aber wie jene Varvara zeigt, können Kinder auch „Neue Musik“ bewältigen, gerade damit ihren Spass haben, weil sie so anders ist, eine Welt, in der sie sich dem Dauerzugriff der Eltern und Lehrer entziehen können.
Ich will jetzt nicht jedes musizierende Kind unter einen „Neue Musik“-Föhn setzen. Was man aber sollen-können-dürfen-müssen-mäßig sich und seinen Kleinen zumuten mag, wäre vor allem sich selbst zurückzunehmen, nichts mit „das ist noch zu früh für Dich“ in der Musik zu tabuisieren: Nur weil es für den Erwachsenen nicht vorstellbar ist, muss es dies für das Kind noch lange nicht sein, welches den Dingen wie auch immer, aber anders als seine Eltern nähern, es sei denn, sie legen den Pfad genau fest.
Im Prinzip kann man dies auch auf die Schule übertragen: Die müht sich einerseits mit notwendigen Wissensinhalten ab und hechelt doch immer wieder den Prägungen der Schüler hinterher, als selbst zu prägen. Natürlich kann jeder löbliche Ausnahmen nennen, ja sogar Lehrkräfte zitieren, die immer wieder „zu schwere Musik“ oder „Neue Musik“ ihren Schülern vor Ohren führen. Dennoch wird die Erwartungshaltung der Eltern vordergründig erfüllt, finanzieren diese ja zu einem Gutteil den Musikunterricht bei Privatlehrern oder an Musikschulen. Und dazu tritt dann noch wohlgemeinter pädagogischer Ethos, der Grundschüler niemals mit „Neuer Wiener Schule“ konfrontieren würde, sondern die Grenze bei Bartok zieht – dies mag wohl darin liegen, dass sowas wie Mikrokosmos schlichtweg ein gut einsetzbares und strukturiertes Lehrwerk sein kann. Aber nur dann, wenn man sich selbst und seine Schüler nicht daran sklavisch bindet. Wie kann sich ein Kind nun einigermassen eigenständig entwickeln, wenn es ständig von Eltern und Lehrern eingekeilt wird? Letztlich reagieren gerade Letztere allzu oft mit allgemeinverbindlichen Rezepten, statt den Wünschen der Kinder zu zuhören oder ihnen erstmal den Freiraum eröffnen, überhaupt an den Punkt eigener Musikwünsche zu kommen. In Zeiten allseitiger Optimierungen höchstwahrscheinlich eine Utopie.
Und so hechelt man weiter den Vorstellungen der Anderen hinterher oder erhebt seine eigenen zum Massstab. Das sage ich als kinderloser Komponist, als der man immer dazu neigt, sich für wichtig oder bescheidener zumindest richtig zu nehmen. Aber warum sollten es Lehrer in der Hinsicht einfacher als Künstler haben? So gelingt mir keine Antwort, wie man es für die Kinder „richtig“ machen könnte. Ich stelle mir, vor dass das Wichtigste immer eine gewisse Angebotsbreite ist, die durchaus beim Musikgeschmack der Kinder anfangen kann. Wenn es gelingt, ihnen zu zeigen, dass sie sich darin auch mal versuchen sollten oder sie merken, dass „ihr“ Geschmack auch nur der anderer ist, die diesen ihnen vorschreiben, wäre schon einiges gewonnen, bar jeglichen Wissens um die Musikgeschichte. Kindern, die im Gegensatz zu diesen rein passiven musiknutzenden Altersgenossen, ein Instrument lernen dürfen, daran auch Spass haben, wäre es schön, alle Freiheiten zu geben und nicht sich zum Vorschreibenden zu erheben. Und wenn das Kind am Wunschstück scheitert, dieses Scheitern aufgefangen wird, so wird dieser Mensch als Erwachsener bei einem Glas Wein erzählen, wie es auch einmal Schönberg spielte, aber das Leben ihn oder sie auf andere Pfade brachte. Tja, zuletzt: Was mag Varvara bisher verpasst haben?
Komponist*in