Reutlinger Lust auf Neues – Lob der Provinz I

Der Badblog nervt, ein klein wenig. Die Leser verwundern. Unbestritten wichtig ist die letzte Woche die Aufklärungskampagne zum Abmahnfeldzug gegen Onlinestellung von ganzen Artikeln oder auch nur kleinen Zitaten auf Künstlerhomepages gewesen. Es freut zu sehen, wie dieser Blog darauf hin seine Besucherzahlen in die Höhe schnellen ließ. Andererseits hinterlässt es auch einen komischen Beigeschmack von Egoismus und Altruismus: Dreht es sich um uns betroffene Künstler, ist es mehr oder weniger legales Tun für uns oder gegen uns, besonders beim Thema Urheberrecht, was im Mittelpunkt steht, sind wir Feuer und Flamme, uns für uns selbst einzusetzen. Es wird ordentlich gestritten und verteidigt und getröstet. Eine Wonne, der Empörungswelle zuzusehen. Geht es darüberhinaus um Strukturerhalt, Bewahren von Institutionen, zarten Pflänzchen, spaltet sich die Zunft, besonders die Sektion „Neue Musik“ und „Komposition“, werden wir zu Beobachtungs-Darwinisten, ist das Verlangen nach Schutz dieser Einrichtungen wie ein Verrat an der Kategorie des Neuen. Wie schön, dass fernab all dieser Tumulte um den und das Nutzen premiummedialer Feuilletonergüsse, in der sog. Provinz, sich Menschen über Musik, ja besonders Neue Musik freuen können, die Presse vor Ort in einer ausführlichen und gewichtenden Form berichtet, wie es Neuer Musik selbst bei den offensten Kritikern von FAZ und SZ selten widerfährt, ergehen die sich lieber in Betrachtungen eines diffusen „an sich“.

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Ich stolperte heute Nacht über eine Konzertbesprechung in der Südwestpresse im Zuge eines Konzerts der Württembergischen Philharmonie mit einer Orchester-Uraufführung des Österreichers Helmut Schmidinger, der sogar auf den Orchesterseiten bloggen durfte, ein wenig wie das Arbeitsbuch zur Englischen Katze Henzes, hier im kürzeren Online-Format. Er schrieb ein Stück namens „Between the Slices“, die übliche Sandwichposition im Abo-Konzertablauf eines Stückes Neuer Musik ironisierend. An Henzes Arien und Nachtstücke erinnernd keine Mondmusiken sondern Intermezzi, von denen eines auch Ingeborg Bachmann zum Ausgangspunkt hat. Klar, Schmidinger ist kein Hardcore-Komponist, waren es auch die Komponisten der letzten Jahre in Konzerten der Württembergischen Philharmonie nicht. Dennoch traut man sich in diesem schwäbischen „Mittelzentrum“ einiges mehr als im niedersächsischen Mittelzentrum Winsen man dem umtriebigen Ensemble L’ART POUR L’ART seitens des Stadtrats über 2011 hinaus gestatten möchte (s. Badblog-Beitrag!), auch wenn der Vergleich einer dreissigtausend Einwohner Stadt mit Reutlingens mehr als Hunderttausend ein wenig hinkt. So pflegt die Stadt ein spartenübergreifendes „Moderne-Zeiten-Abo“, gibt es Uraufführungen in Kinderorchesterkonzerten, weitere Kammer- und Orchsterkonzerte mit Karl Amadeus Hartmann, Terry Riley, Charles Ives, Bernd Alois Zimmermann, Tan Dun, etc. Ein wenig soft, dennoch wie selbstverständlich in die Programme gepackt. Neben Sören Nils Eichberg also Schmidinger als „Youngsters“.

Zurück zur SWP-Kritik. Ich habe lange keinen Bericht mehr gelesen, der der UA des Abends wirklich die Hälfte des Textes einräumte. Der Text selbst ist mit ca. 6000 so unglaublich länger, als es sich die Gazetten der Grossstädte heute noch zutrauen. Er ist kein essayistisches Meisterwerk, räumt aber Inhalt wie Form sowie persönlichen Klangeindrücken des Autors Otto Paul Burckhardt genügend Platz ein. Welcher Kritiker findet Brahms härter als die UA des Abends?! Das kann schon mal vorkommen. Brahms würde allerdings selbst bei den Chefköchen der grossen Blätter immer abräumen, ginge es bei der UA nicht um Rihm, Lachenmann oder Sciarrino, die immer „toll“ sind, derweil Alles andere, wie gut gemacht oder wirklich hervorragend, schlichtweg überhört, überschrieben wird. Chapeau vor Reutlingen und seiner Musikkultur! Denkt man die Einheitssossen von drei vermeintlichen Weltklasseorchestern wie hier in München, können wir Grossstadtgrosskotzer Einiges wiederentdecken, was uns hier fehlt.

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