Schlechter Vorsatz

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Willkommen 2012! Jahr, das Du mich so herzlich mit einer Maggi-Flasche voll selbst angesetztem des hobby-räuchernden Nebenrentners empfangen hast! Das Du unvermittelt neben meinem Rheingau-Riesling-Sekt auch den leider etwas zu lang gelagerten Champagner des Nachbarmillionärs in meinem Neujahrsbecher für mich bereit gehalten hast. Das Du meine heutige Reise am Solinger Hbf mit einem Feuerwehreinsatz noch früher enden ließest, als ich sie angetreten habe. Nie werde ich vergessen, wie Du mich kurz darauf in den LSD-Augen meines Mitfahrers im sehr verspäteten IC angesehen hast, mit diesem verschwörerischen Blick, der von den Blutkrusten der Platzwunde über dem Auge doch etwas verhangen war.

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Liebes 2012, in dem die Erde mal wieder untergeht, in Dir möchte ich schöner scheitern. Während noch immer Millionen Menschen weltweit diese Minuten vor dem Fernseher verbringen, um sich von irgendeiner abgetakelten Dirigentenlegende in Neujahrsstimmung bringen zu lassen, versetze ich mich selbst, ganz allein im ICE Richtung Süden in den schwebenden Zustand, für den der Dreivierteltakt Wienerischen Einschlags so gerühmt wird. Schwer-leicht-leicht, schwer-leicht-leicht, so werde ich die Dinge nehmen, die mir begegnen, komme, was da wolle. Schwer-leicht-leicht. Wogegen ich mich gegen das hektische Zweitakt-Gezappel der Polka genau so wehren werde, wie gegen die delirante Ungerührtheit eines Marschs. Mag die Geradtaktigkeit auch das letzte verbliebene Abenteuer der Neuen Musik sein, so sehr sie der Befriedung der Urinstinkte in uns taugt, so wenig ist sie doch gemacht für stets Unstete. (Und, ja, in wie vielen Metern Komponistenprosa habe ich nicht schon gelesen, dass nur das Herz kurz vorm Exitus ganz regelmäßig schlägt?)

Es kann kein Zufall sein, dass der zweite große Hit des Jahreswechsels neben dem Neujahrskonzert auf dem Vehikel eines Soundtracks im 3/4-Takt daher kommt: Das psychedelische Geklingel der tschechischen Verflmung der „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, die „das 3. Fernsehen“ in diesen und den vergangenen Tagen füllen, reitet ebenfalls schwer-leicht-leicht durch den verschneiten Wald, eine Landschaft, die wir ohnehin nur noch aus Weihnachtsliedern kennen, die nun hoffentlich bald wieder durch „Alle Vöglein“ abgelöst werden, oder weiß der Kuckuck und der Esel, was.

Aber versagen wir uns damit nicht zugleich die Möglichkeit, uns heute, an diesem ersten Tag des Jahres, noch einmal verzaubern zu lassen. Genießen wir heute noch einmal ein Märchen. Zum Beispiel das von Igor Strawinskys Feuervogel. Der Protagonist, ein Prinz, dringt in verbotenes Terrain vor, fängt den Feuervogel, lässt ihn frei, dieser schenkt ihm eine Zauberfeder dafür. Und als der böse Zauberer Kaschtschei ihn in einen Stein verwandeln möchte, wie alle, die in sein Terrain vordringen, tritt nun die Zauberfeder auf den Plan, der Vogel erscheint und wiegt den bösen Zauberer und sein Gefolge in den Schlaf. Als es am Ende zu Hochzeit zwischen dem Prinzen und einer schönen Prinzessin kommt, und der Vogel ihm einen großartigen Palast schenkt, da wechselt Strawinsky in eine merkwürdige Taktart: in einen 7/4-Takt. Und nicht nur das: er wechselt auch noch dazu ab in der Betonung Vier und der Fünf im Takt, also zwischen schwer-leicht-leicht-schwer-leicht-halbschwer-leicht und schwer-leicht-halbschwer-leicht-schwer-leicht-leicht. So dass man gar nicht mehr drauskommt, wo es nun eigentlich gerade langgeht, bloß, weil der Dirigent mal eine Zeitlang stur seine sieben Schläge durchpinselt und man zu taumeln beginnt, die Orientierung verliert. Auf eine ganz anders verwirrende Art, als nach einer Überdosis Geradeausschläge, immer voll auf die Vier.

Nichts destotrotz oder gerade deswegen zähle ich zu meinen schlechten Vorsätzen und empfehle freimütig jedem der es wissen mag oder auch nicht. 2012 ist ein Jahr, in dem sie häufiger mal in den Takt kommen sollten. Welcher das ist, bleibt ganz alleine ihnen überlassen.

[Signalstörung. In Siegburg. Ich liebe Dich jetzt schon, 2012.]

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Musikjournalist, Dramaturg