Was uns krank macht
Neulich war die mexikanische Komponistin und Sängerin Diana Syrse bei uns in der Hochschule zu Gast. In ihrem Vortrag über neue Techniken in der Vokalmusik erzählte sie auch eine Episode aus ihrem eigenen Leben, nämlich wie ihr Gesangslehrer ihr mehrmals ausdrücklich vom Studium zeitgenössischer Musik abriet, mit der Begründung es sei schlecht für ihre Stimme.
Nun ist das keineswegs eine außergewöhnliche oder seltene Geschichte – tatsächlich habe ich schon hunderte solcher Geschichten gehört, nicht nur von Sängern, auch von Instrumentalisten. Egal wohin man in der konservativen Klassikszene schaut – der Neuen Musik haftet stets der Ruf des „Krankhaften“ an, ich will hier gar nicht „entartet“ schreiben, weil die böse Analogie einfach zu nahe liegt.
Es gibt an deutschen Hochschulen nach wie vor eine große Anzahl von Lehrern, die sich kategorisch weigern, ihren Studenten auch nur ansatzweise Spieltechniken der Neuen Musik nahezubringen. Vor kurzem hatte ein junger Komponistenkollege, Gregor Mayrhofer, ein Studentenkonzert mit Posaunenquartett im Siemensforum, in einer Konzertreihe, die ausschließlich Neuer Musik gewidmet ist. Auf dem Programm standen Stücke von Mayrhofer (UA), mir und Koetsier. Dreimal darf man raten, welches das einzige Stück war, mit dem sich der Posaunenlehrer der 4 hervorragenden jungen Posaunisten im Unterricht beschäftigte (der Komponist fängt mit „K“ an, und schrieb zeit seines Lebens Musik, die so klang als sei sie hundert Jahre älter als in Wirklichkeit).
Das Misstrauen gegenüber neuer und ungewohnter Musik ist so alt wie Musik selber. Schon Plato befürchtete ja bekanntermaßen, dass bestimmte neumodische Tonarten die Kampfeskraft junger Griechen zersetzen würde („Der Staat“) und immer wieder wurde Musik als subversiv genug betrachtet, dass viele Religionen sie am liebsten ganz verbannt hätten. Jede Diktatur kennt ihre „Negermusik“ (wie es die Nazis nannten): es gibt immer irgendeinen Musikstil, der geächtet wird.
Aber warum in Teufels Namen muss Neue Musik auch noch „krank“ machen?
Ich habe z.B. noch keinen einzigen Sänger getroffen, dem Neue Musik die Stimme ruiniert hat, aber viele, sehr viele Sänger, denen dies bei „klassischer“ Musik geschehen ist.
Was gibt es Ungesunderes als über das hundert-Mann-Orchester einer Wagner-Oper zu brüllen? Myriaden von Sängern haben sich damit ihre Stimme für immer ruiniert. Früher wurden sie kastriert, war auch nicht gerade gesund.
Und was gibt es Ungesunderes, als stundenlang irgendwelche Linke-Hand- Chopin-Etüden für irgendeinen spießigen Klavierwettbewerb auf dem Klavier zu bimsen, auf dem man sich dann mit geklonten Asiaten messen muss, die von ihren Eltern schon mit 2 Jahren ans Klavier gefesselt wurden? Sehnenscheidenentzündung bekamen während meines Studiums eigentlich immer nur die Klassikpianisten, nie die Neue-Musik-Pianisten. Letztere mussten sich zwar mit sinnlosen Notationen und hysterischen Komponisten herumplagen, aber wenigstens nie mit dem entsetzlichen Erwartungsdruck, etwas schon Hundert-Millionen-Mal-Gehörtes perfekt und ohne falsche Noten wie eine Maschine abzuliefern.
Mein Freund Martin Zehn spielte z.B. unerschrocken die schwersten Stücke von Messiaen, Stockhausen und Konsorten, gestand mir aber einmal, dass nur das Spielen einer Mozartsonate ihm wirklich Angst machen würde. Später bekam er Sehnenscheidenentzündung und musste seine Laufbahn beenden. Er hatte zu viel Mozart geübt.
Ein weiterer Mythos ist der, dass Neue Musik die Instrumente kaputt macht. Das dachten bestimmt auch die italienischen Musiker, die zu Zeiten von Monteverdi zum ersten Mal ein Tremolo – heute ein vollkommen gängiger Streicher-Effekt – spielen mussten. Ich kann mir genau vorstellen, wie die sagten: „Maestro Claudio! Die Bogenhaare! Sie gehen uns kaputt! Wovon sollen wir das nur zahlen?“. Genau das selbe hört man heute, nur geht es um andere Effekte.
Das treibt zum Teil skurrile Blüten – kommt col legno battuto z.B. in der Symphonie Fantastique von Berlioz vor, sagt keiner was. Benutzt man genau den selben Effekt in einem eigenen Stück, erhebt sich ein großes Jammern und Klagen.
Spiele ich ein Konzert mit Neuer Musik irgendwo, holen die meisten Veranstalter den „Neue Musik“-Flügel raus – meistens ein verstimmtes und abgewracktes altes Teil aus dem vor-vorletzten Jahrhundert. Der normale – gute – Flügel ist nämlich „zu gut“ für Neue Musik. Anscheinend hat sich bei den Veranstaltern nach wie vor nicht herumgesprochen, dass Präparationen und Saitenzupfen nach wie vor eher selten sind, und dass selbst wenn diese Effekte vorkommen, sie keineswegs den Flügel kaputt machen müssen (wenn fachmännisch gehandhabt).
Es gibt Flügel in der Münchener Musikhochschule, auf denen das modernste Stück, das je auf ihnen gespielt wird, „Clair de Lune“ ist. Und diese Flügel sind abgespielt, heruntergekommen, verstimmt. Es sind eben Gebrauchsinstrumente, die selbst mit allein edelst gespielter Musik irgendwann vor die Hunde gehen, genau wie auch der teuerste und gepflegteste Rolls Royce irgendwann gewartet werden muss – gerade WEIL es ein Rolls Royce ist.
Gottseidank erledigen die ganzen etepetete-Musiker, die nie und nimmer ein modernes Stück auch nur mit einem drei Meter langen Stock anrühren würden, den Job auf andere Weise – indem sie sich zum Beispiel elegant mit dem Arsch auf die eigene Geige setzen, wie unlängst Vanessa Mae.
Das finde ich dann wieder irgendwie passend, denn genau an diesem Arsch gehen sie mir auch vorbei. Und mit ihnen all die jenigen, die den Ruf vom krankmachenden Schmuddelkind „Neue Musik“ weiterhin befördern und am Leben erhalten.
Moritz Eggert
Komponist
Was mich interessieren würde, wäre, ob so wie die Musik Mozarts (+) und Wagners (-) sich auch die Neue Musik auf die Milchleistung von Kühen auswirkt.
Und taugt diese Neue Musik eher zur Empfängnisverhütung oder zur Ankurbelung der Reproduktion? – Beim Menschen, meine ich.
Lässt sie Knochen heilen oder zerspringen?
Fördert sie Infektionskrankheiten oder wirkt sie antibakteriell oder ist sie wenigstens steril?
Kann Neue Musik süchtig machen?
Ist es vielleicht so, dass es auf die Dosis ankommt?
Wird ihre Anwendung von den gesetzlichen Krankenkassen gut geheißen oder verliert man den Versicherungsschutz, wenn man Neue Musik hört, musiziert oder gar komponiert?
Kann einem Arbeitnehmer gekündigt werden, wenn er sich – wie auch immer – mit Neuer Musik beschäftigt?
Verlängert oder verkürzt Neue Musik das Leben? Mein Leben?
Und auf meine Leben kommt es ja an!
Ich meine jedenfalls, dass ich alt werde, wenn ich noch zwanzig oder dreißig Jahre lang Neue Musik der Alten vorziehe.
Also mein Fazit: Neue Musik ist gesund, auch wenn sie nicht gerade pumperlgesund ist.
Und der kranke Mond da oben stirbt ja nicht wegen Schönbergs Neuer Musik, sondern an unstillbarem Liebesleid. Das hat er nun davon.
Und sind wir doch mal ehrlich, wen kratzte denn heute noch Girauds Gedicht, hätte nicht Schönberg seine ungesunde Musik dazugetan, zwar sehr langsam, aber doch immerhin.
Guntram Erbe
Bravo! Super Artikel. Nur das mit der „sinnlosen“ Notation ist ja wohl Ansichtsache :P Sehr erstaunt hat mich der Absatz über Plato – davon wusste ich bisher gar nichts. Es kam mir aber sehr bekannt vor.
Denn (auch) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten diverse (sich für das Sprachrohr der „Massen“ haltende) Leute Angst davor, das eine (bzw. die!) Neue Musik die „Männer“ so sehr verweichlichen (bzw. krank machen) könnte, das sie weniger gut andere Menschen totschiessen könnten. Ebenso die Angst davor, das die „Demokratengeräusche“, bei denen kein Ton über den anderen herrscht, die bestehende monarchistische Ordnung zerstören könnte. (Literaturtip: „Musikbolschewismus“ von Eckhard John.)
Vielleicht hatten diese vor 50 bis 100 Jahren wutschnaubend geifernden Schreihälse sogar recht, und wir verdanken der Neuen Musik Demokratie, Frieden und Gleichberechtigung …? Zumindest das bisschen, das wir heute haben …
Und da die Monarchie abgeschafft, Krieg nicht mehr als sooo supertoll gilt und man höchstens noch am Stammtisch seinen Unmut über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen äussern kann, leben diese ganzen Hetzen über „krankmachend“ und „verweichlichend“ ziellos fort bei jenen, die sich nicht vorstellen können, das es Menschen gibt, die nicht genau so wie sie selbst sind.
„Sinnlose Notation“ ist nicht Ansichtssache, sondern ein statistischer Faktor, dem man genauso häufig begegnet wie „schlechter“ Neuer Musik.
Zeitgenössische Musik hat ja die Eigenart, dass sie noch nicht abgehangen ist, man also Alles vor die Nase gesetzt bekommt, gut wie schlecht.
Da ist es fast schon tröstlich, dass angesichts des übersättigten Marktes auch die „zurecht vernachlässigten Kostbarkeiten aus der Musikliteratur“ älterer Zeit wieder hervorgekramt werden …
Im Übrigen bin ich 100% d’accord mit dem Artikel :-)
Meist wird eine Sache als sinnlos bezeichnet, weil sie nach einer Absicht bewertet wird, die dessen Schöpfer niemals hatte.
„Meist wird eine Sache als sinnlos bezeichnet, weil sie nach einer Absicht bewertet wird, die dessen (deren) Schöpfer niemals hatte.“
Kollateralschäden. ;-)
„leben diese ganzen Hetzen über “krankmachend” und “verweichlichend” ziellos fort bei jenen, die sich nicht vorstellen können, das es Menschen gibt, die nicht genau so wie sie selbst sind.“
Die Wirklichkeit sieht anders aus, und die Hetze wirkt zielfindend fort.
Guntram Erbe
@Guntram Erbe: Mitnichten „Kollateralschaden“ (der an sich ebenfalls schlimm ist – dem kann prinzipbedingt JEDER zum Opfer fallen, theoretisch auch Du – und würdest Du dann noch von „Kollateralschaden“ sprechen?), sondern etwas, das sich durch die gesamte „Geistesgeschichte“ der Menschheit zieht …
Was Du von mir als Zweites zitiert hast, bezog sich hingegen *ausschliesslich* auf Musik bzw. die heutigen Gegner der Neuen Musik. Die alle als (Neo?)Nazis zu bezeichnen scheint mir etwas zu einfach, oder worauf willst Du hinaus?
Zur Frage „sinnloser Notation“:
Hat ein Komponist mit seiner Notation (i.d.R.) andere Absichten als a) deutlich zu machen, was er gemeint hat (letztlich) und b) dem Ausführenden zu vermitteln, wie er das Gemeinte auszuführen hat (zunächst, konkret)?
An dieser Absicht beurteile/bewerte ich Noten. Und wenn a) oder b) nicht funktionieren, dann ärgere ich mich über sie. Und wenn mich das in meiner Arbeit nennenswert behindert, dann nenne ich die Notation durchaus mal „sinnlos“, auch wenn das streng genommen semantisch unkorrekt ist. Vor allem, wenn und weil mich so etwas im Extremfall (grobe Mängel, komplizierte Musik) fast krank machen kann – um den Bogen zum Artikel zu schlagen.
Beispiele (aus dem Leben):
Ein Stück, dessen Klavierpart eine ganze Reihe von Motiven immer wieder neu kombiniert. Diese Motive sind fest mit einer Oktavlage (übers ganze Klavier verteilt) verknüpft. Leider sind sie in völlig willkürlicher Weise auf die beiden Notensysteme verteilt und willkürlich geschlüsselt (ein eingestrichenes g kommt etwa im Bassschlüssel, Violinschlüssel und nach unten oktavierten Violinschlüssel vor).
Anderes Stück: Der Klavierpart eines Stücks enthält unzählige Gesten, die im Prinzip alle gleich aussehen, aber auch an allen Stellen der Klaviatur vorkommen. Auch hier: Willkürlich auf Notensysteme und Schlüssel verteilt.
Im Ergebnis muss ich _jedesmal_, bevor ich zu einer Phrase ansetze, die Notenzeilen rückwärts verfolgen, bis ich zum nächsten Schlüssel komme, um zu sehen, wo ich was spielen muss.
Das nenne ich eine sinnlose Notation – die letztlich auch zum Nachteil des Komponisten ist, denn: Erstens habe ich einen nennenswerten Teil meiner Zeit und Energie damit zugebracht, Noten zu lesen statt Musik zu üben, und zweitens habe ich keine Lust mehr, gut zu spielen, da ich mich „krank“ ärgere.
[Lösung des Notationsproblems:
Vier Notensysteme, davon die mittleren zwei „normale“ Klaviernotation, die äußeren jeweils zwei Oktaven nach oben oder unten transponiert. Damit habe ich die ganze Klaviatur abgedeckt und benötige nur jeweils eine Hilfslinie zwischen den Systemen. Der Ausführende sieht mit einem Blick, wo er zu spielen hat.
Wenn ich übrigens ein Bach-Präludium zu notieren habe, wäre das eine sinnlose Notation, da zwei Notensysteme nicht genutzt werden.]
@strieder
Hinter Kollaterialschäden steht ein Smiley.
Natürlich bezeichne ich nicht im Rundumschlag Neue-Musik-Gegner als (Neo)Nazis, vergleiche sie auch nicht damit. Mein Link reagierte auf Deine etwas grob wirkende Verquickung von Musik und gesellschaftspolitischen Vorgängen. Lies doch bitte Dein Posting daraufhin noch einmal durch.
@Urs Liska
Beispielsweise die Präludien WTK I, Es-Dur und A-Dur vertrügen zumindest drei Notensysteme.
Beste Grüße
Guntram Erbe
@Guntram Erbe: Meine Postings sind eher als Anregung gedacht und nicht als Verkündung in Stein gehauener Warheiten. Mein Posting nochmal durchlesen kannste auch mal, vielleicht hilfts :P
Lieber Urs Liska, natürlich gibt es Komponisten, welche so wie von Dir beschrieben notieren, weil sie sich nicht genug Gedanken gemacht oder schlicht keine Ahnung haben.
Aber das muss nicht immer der Fall sein! Denn genauso kann es Stücke geben, bei denen ein Komponist eben NICHT die Absicht hat, besonders deutlich zu notieren, sondern im Gegenteil den Interpreten vielleicht sogar absichtlich zu verunsichern. Es kommt eben darauf an, was die Absicht war. Entweder war die Absicht Deutlichkeit, denn wäre Undeutlichkeit schlecht, oder sie war Undeutlichkeit, dann wäre Deutlichkeit das Versagen. Vielleicht sollte bei deinem ersten Beispiel der Interpret dazu angeleitet werden, die immer gleichen Motive immer wieder neu zu erfahren. Oder der Komponist hatte eben doch einfach keine Ahnung :D
Kürzlich erst sah ich ein Instrumentalstück, bei dem im Vorwort stand, das die Komponistin keine Angaben zur Ausführung und der Notation des Stückes machen möchte, und daß sie hoch erfreut wäre, wenn man beispielsweise bei der Anweisung „quiet“ das Wort „quiet“ laut schreien würde.
Über Weberns op. 27 könnte man dann auch streiten, immerhin kommt auch da in Takt 2 ein g1 im Bassschlüssel vor ;)
Nachtrag: Wie immer – das sei mal erwähnt – verteidige ich nicht meine eigenen Sachen, denn ich persönlich möchte gerne so einfach und eindeutig wie möglich notieren ;)
„Aber das muss nicht immer der Fall sein! Denn genauso kann es Stücke geben, bei denen ein Komponist eben NICHT die Absicht hat, besonders deutlich zu notieren, sondern im Gegenteil den Interpreten vielleicht sogar absichtlich zu verunsichern.“
Dann sollte diese Absicht aber auch deutlich werden.
Oder auch diese Absicht soll absichtlich nicht deutlich werden, dann könnte man darüber reden. Aber ich denke, hier reden wir über absolute Ausnahmefälle. In der Regel ist die Absicht eben die Anleitung zur Realisierung der Komposition.
Und in den beiden von mir genannten Beispielen war es auch schlicht Gedankenlosigkeit der Komponisten. Und das ist es dann auch, was einen als Ausführenden ärgert.
Und gegen ein g‘ im Bassschlüssel ist natürlich nichts einzuwenden. Bei op. 27 „gehört“ es ja auch zu dem Doppelgriff und damit zur Stimme aus dem unteren System. Und ist somit viel besser zu lesen als wenn es in den Violinschlüssel gesetzt wäre.
Da hat Webern aber Glück gehabt. ;-)
Bei ihm geht es in op. 27 beim Oben und Unten ganz einfach und konsequent um die rechte und die linke Hand des Spielers.
Guntram Erbe
Super Artikel!
zwei Beispiele aus dem Komponistenleben.
Der lebende Komponist Elliott Carter ist 103 (!) Jahre alt und schreibt und schrieb fast zeitlebens ausschließlich Neue Musik! Dahingegen ist Morton Feldman mitunter durch seine bescheuerte Kettenraucherei nur 61 geworden.
…Hat John Cage mit seiner spät begonnenen, belächelten Mikrobiotik und seiner Mykolo-Philie etwa sein Leben verlängert?…
In diesen Diskussionstopf werfe ich nahezu kritiklos an dieser Stelle auch, was ich gerade heute von einem Herrn Roland Mackamul („Elementare Gehörbildung“, Bärenreiter, ) gelesen habe. Ich zitiere S. 11, 2. Absatz „[…] Der alte Weg, den Schüler erst im tonal-funktionellen Hören bis zu einer relativ hohen Stufe auszubilden und ihn dann etwa über die alterierten Akkorde an die moderne Musik heranzuführen, verbietet sich aus zwei Gründen: Die erst spät einsetzende Übung im intervallischen Hören kann im Rahmen einer normalen Studiendauer nicht zu dem rasch arbeitenden, sicheren Intervallurteil führen, das als Grundlage für den Umgang mit moderner Musik unentbehrlich ist. […] Es ist schon gefährlich, einzelne Intervalle mit Hilfe tonaler Eselsbrücken beherrschen lernen zu wollen […], weil der daran gewöhnte Hörer beim bewussten Erfassen einer tonal nicht gebundenen Linie immer wieder zu fiktiven Dur-Grundtönen ausbrechen muß und dadurch das Organische einer solchen Linie zerstört und nicht wahrnehmen kann…“
>> Das impliziert doch, dass man Kraft und Umstellung braucht, um sein Gehör auf „moderne Musik“ = Neue Musik einzustellen… ?!
„Es ist schon gefährlich, einzelne Intervalle mit Hilfe tonaler Eselsbrücken beherrschen lernen zu wollen […], weil der daran gewöhnte Hörer beim bewussten Erfassen einer tonal nicht gebundenen Linie immer wieder zu fiktiven Dur-Grundtönen ausbrechen muß und dadurch das Organische einer solchen Linie zerstört und nicht wahrnehmen kann…”
Nein, das impliziert, dass man vorher Kraft dafür aufgewendet hat, sich auf tonale Konstrukte zu konditionieren.
Da man das hierzulande jedoch von klein auf tut, merkt man natürlich nicht, dass man dafür über zwanzig Jahre eine ungeheure Energie verwandt hat. Diese Konditionierung wieder aufzulösen, ist allerdings ein anstrengender Akt, den nur wenige Studierende freiwillig auf sich nehmen …
Mein Gehörbildungslehrer hat ganz ähnlich argumentiert wie Herr Mackamul: „Natürlich fange ich im 20. Jahrhundert (damals gabs noch kein 21.) an und gehe dann rückwärts. Denn wenn ich in der Renaissance anfange und bis zum 20. Jahrhundert weitergehen will, dann weiß ich doch schon vorher, dass ich nicht dort ankommen werde.“
Mir erscheint eine ausschließliche Identifizierung von „Neuer Musik“ mit nicht tonal gebundener Musik falsch. Es gibt genug Neue Musik, die tonal funktioniert und für die ein vom tonalen Zentrum – nennen wir es einmal Grundton – losgelöstes Hören nicht adäquat ist.
Guntram Erbe
Vielleicht wäre der 3. Takt aus dem ersten Stück von Holligers „Elis“ (für mich drei der besten Klavierstücke überhaupt) ein besseres Beispiel gewesen.
Das Problem der Diskussion um „sinnlos“ ist, das zumindest ich nicht weiss, ob „sinnlose Notation“ im Sinne Eggert und „sinnlose Notation“ im Sinne Liska ein- und dasselbe ist (und Du vielleicht auch nicht, das kann ich auch nicht wissen. Zumindest konntest Du nicht wissen, was ich meine). Je nach Autor wird es sehr verschiedene Dinge bezeichnen (verschachtelte n-tolen? graphische Notation? oder das hier: http://bit.ly/uFR1Dn ?)
Wenn man also eine Diskussion beginnt über „sinnlose Notation“, müsste man erstmal klären, was genau die Beteiligten unter dem gleich betitelten überhaupt verstehen. Eigentlich gilt das für jedwede Diskussion (jetzt schon wieder: was bedeutet eigentlich „atonal“ oder „tonal“?*) Insofern hätte auch mein erster Satz, als ich mich an dem „sinnlos“ störte lauten müssen: „Was meint der Autor mit sinnlos, bzw. wo fängt es an?“
(*Die Liste von Bedeutungen die ich diesen beiden Worten schon zugeschrieben gesehen habe, ist fast endlos.)
Leo Ornstein wurde 110 Jahre alt …
Ornstein-
auch so einer, der für zweihändiges Klavier manchmal vier sinnvolle [ :-) ] Notensysteme verwendet hat.
Guntram Erbe
@alle – „sinnlose Notation“ bedürfte tatsächlich der Erklärung. Ich könnte da aus meinem Erfahrungsschatz als Pianist zahllose Beispiele geben.
Natürlich ist die Notation sehr komplexer Musik zwangsläufig auch komplex, das eine bedingt ja das andere. Auch ein „Spem in Alium“ von Thomas Tallis sieht sehr komplex aus, wenn man es nach heutigen Standards notiert, das gilt also auch für alte Musik. Komplexität ist aber nicht das Problem.
Manche Komponisten schaffen es nämlich, im Grunde sehr einfache Dinge sehr kompliziert aussehen zu lassen. Da wird dann aus einem simplen gerollten Cluster eine unglaublich wüste Notationsorgie über 3 Systeme, weil jeder Ton als eigene Stimme verstanden wird. Da wird dann aus etwas das im Grunde ein 3-jähriger Klavierschüler sofort spielen kann ein komplexes Gebilde, das nur von Experten entziffert werden kann.
Sehr sehr oft fehlt es auch an rein handwerklichem Wissen darüber, wie man z.B. Pausen oder Kompositrhythmen zusammenfasst (nämlich so, dass der Grundpuls des Stückes sichtbar wird). Ich habe schon oft Takte gesehen, in denen die wildesten Kombinationen von Dauern hintereinander kommen, ohne dass man den Puls des Stückes erkennen kann. Das macht es für die Interpreten einfach „sinnlos“ schwer, denn natürlich muss man sich solche Passagen dann komplett umschreiben, um sie als Kammermusik spielbar zu machen, denn irgendwie muss man ja wissen, welche Töne wann und wo kommen, wenn man zusammen mit anderen spielt.
Ein weiteres Theme ist Enharmonik – viele Komponisten hacken einfach nur die Noten in ihr Notenprogramm und nehmen einfach den Ton, so wie er ihnen vom Programm angeboten wird. Bei Sibelius ist zum Beispiel ein fis immer ein fis in der „atonal“-Einstellung, die die meisten Komponisten benutzen. Nach einem B ist aber ein fis einfach Quatsch, in den meisten Fällen ist dann ein ges der Lesbarkeit wegen besser. Diesen zusätzlichen Arbeitsschritt, der es den Interpreten unendlich viel leichter macht, sparen sich viele Komponisten, und das nervt.
Ich habe auch schon oft unglaublich komplex aussehende Akkorde entziffern müssen, die sich am Ende als z.B. simples Es-Dur entpuppten (zum Beispiel geschrieben als Dis, fisis und B – hatte ich tatsächlich schon!).
Genau dies meine ich mit „sinnloser“ Notation, und könnte dies vielleicht auch mal anhand von Fallbeispielen erläutern in einer Artikelserie, wäre eigentlich mal interessant.
Jetzt habe ich es nur vor mir hergeschoben, eine Stellungnahme von Moritz zu erbitten – und dann kam sie von selber.
Ganz genau so hatte ich es auch verstanden und meine Kommentare sind so gemeint.
Man kann nun die Bedeutung des Wortes „sinnlos“ diskutieren, aber ich denke, das geht vorbei an der Sache.
Vielleicht noch ein Kommentar von Moritz aus der Komponistenperspektive – schließlich siehst Du das Thema von beiden Seiten?
An einer Sammlung von Notationsbeispielen würde ich mich auch beteiligen – wenn der Rahmen passt: Es sollte kein Komponisten-Bashing sein, sondern als Hauptziel die Anleitung bzw. Anregung für Komponisten haben.
Nun, dann basht mal schön.
Vermittelt oder versperrt die Notation den Zugang zu den drei klitzekleinen Klavierstückchen aus Moritz Eggerts Hochzeitsjahr?
(Zu Antworten kann ich erst wieder ab Sonntagabend Stellung nehmen)
Guntram Erbe
Hier was von mich: http://bit.ly/o96sDn – Viel Spass
Wir wollen ja nicht bashen (deshalb z.B. hatte ich ja auch keine Namen genannt).
Und nein, die drei Klavierstücke sind vorbildlich notiert.
An den sieben Klavierstücken ist auch nichts auszusezten:
Zwei Kommentare dazu: III. Stück, Takt 7, l.H. ist gegen das Metrum notiert. Da die Stücke aber alle mit unterschiedlichen metrischen Gruppierungen zu tun haben, würde ich erst mal drüber nachdenken, ob das bewusst ist (auch unter Berücksichtigung der Notation der ganz ähnlichen Stelle in T. 12). Wenn ich zu dem Ergebnis käme, dass T. 7 besser „normal“ notiert werden sollte (so wie 12), dann würde ich es trotzdem noch nicht als „sinnlose Notation“ bezeichnen. Vielleicht als ungünstig oder unglücklich, oder irritierend etc.
Anderes Beispiel ist das V. Stück: Hier leuchten die von der Norm abweichenden rhythmischen Gruppierungen sofort ein. Zwar muss ich hier mehr rechnen als nötig, um den Ort der Anschläge zu ermitteln, aber das deckt sich mit der (mutmaßlichen) Intention des Stücks.
Danke, Ziel des III. Stückes ist auf jeden Fall Irritation :) Ich will nicht den Rahmen sprengen, deshalb nur so viel: das Motiv in der linken Hand (T. 5-16 sowie Ableitungen in T. 24, 30, 34-35) ist zehn 8tel lang und um ein 16tel versetzt (und enthält zudem eine Quartole). Man muss sich das so vorstellen, das in das 2/4-Grundmetrum diese fetten Achtel-„Blöcke“ hineingeworfen werden und alles durcheinander bringen ;) Auf der anderen Seite ergibt sich aber auch ein bestimmter polyrhythmischer „Groove“.
@Guntram: Schön, dass Du mich an diese drei wunderbaren Stücke erinnerst – die sind übrigens meiner Ansicht nach vorbildlich notiert :-)
@strieder
Ich habe mir das 2. Stück genauer angesehen und meine, dass die Metronomangabe mit Achtelnote unpraktisch ist, denn schon der erste Takt enthält eine Triole, die nahelegt, eine sehr langsame (nicht triolische) Halbe Note als tempostiftende Einheit aufzufassen. Deshalb hätte ich die Takte 2-4, 6-9 und 11 als 2-Halbe-Takte bezeichnet und die Auftakte dazu als Ein-Halbe-Takte. Das Stück gewinnt (für mich), wenn ich dementsprechend allabreve empfinde, wobei ich natürlich einen langen innerlichen Atem haben muss. Die jetzige Metronomangabe führt mich da in die Irre.
@Urs Liska und Moritz
Danke für die Blumen. Habt ihr beim 1. und beim 3. Stück keine Tempoangabe vermisst? Ich hielt sie für unnötig.
Guntram Erbe