Franz Josef Degenhardt (1931-2011)
Der Liedermacher Franz Josef Degenhardt starb gestern, am 14. November 2011, im Alter von 79 Jahren. Es mag einige Leser überraschen, aber: Ich bin mit seinem Liedgut aufgewachsen.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
sing nicht ihre Lieder
Geh doch in die Oberstadt
mach´s wie deine Brüder
Das war eines jener Lieder, die mich in früher Kindheit faszinierten. Obwohl ich es für ein Lied gegen Randgruppen hielt. „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ – klar, denn die sind ja dreckig, schlecht erzogen und sagen ganz schlimme Dinge, die feine Kinder – wie wir – nicht sagen (z. B. das böse „Sch“-Wort). Der „Unterton“ des Ganzen erschloß sich mir damals nicht. Kein Wunder, hielt ich doch auch gleichzeitig „Hey Jude“ (Lennon/McCartney) für ein antisemitisches Lied (das ich deswegen lange Zeit, so bis ich 9 Jahre alt war, nicht mögen können wollen durfte!). Inzwischen weiß ich (auch, wenn ihr Scheißkinder es mir nicht zutraut), dass „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ uns von der Verlogenheit des achso feinen Bildungsbürgertums erzählt – und „Hey Jude“ absolut unantisemitisch und einfach ein schönes Lied ist.
Außerdem ist „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ – funktionsharmonisch gesehen – musikgeschichtlich ein großartiger (Fast-)Einzelfall, weil hier endlich mal – äh, also in C-Dur jetzt – auf C-Dur B-Dur unmittelbar folgte und einfach rückgeführt wurde („Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie deine Brü-hü-….“ – und zwar gleich viermal hintereinander!). Wunderbar „falsch“. Eine harmonische Schmuddelkinder-Wendung eben! Eigentlich „verboten“ – aber für alle bekennenden Schmuddelkinder dieser Welt höchst erlaubt und erwünscht. (Wobei mir jetzt unweigerlich der schöne Witz einfällt: „Wie lautet die Subdominante von F-Dur? – Hä? F-Dur ist doch schon die Subdominante!“)
Apropos „funktionsharmonisch gesehen“ – ich erinnere mich an den folgenden Titanic-„Fachmann“-Beitrag von vor vielen Jahren sehr gerne und widme ihn dem verstorbenen Franz Josef Degenhardt, dem wichtigsten Liedermacher, den wir hatten. Meiner Mama und mir bedeutet er sehr viel.
Franz Josef Degenhardt: Ruhe in Frieden.
Singen mit Borussia
Vor etwa zehn Jahren nahm mich ein Freund erstmals mit ins Westfalen-Stadion. Zum Anheizen der Fans wurde „Borussia, Borussia“ gespielt, und ich, naiv beeindruckt und euphorisch gestimmt durch die gewaltige Kulisse der Fußballarena, sang sofort und gerne mit – schließlich kam mir die Melodie vertraut vor, wenn auch mit anderem Text: „All we are saying is: Give peace a chance!“ Was ich nicht wußte: daß sich die beiden Melodien, obgleich sonst so ähnlich, in einem wesentlichen Punkt unterscheiden. Während der John-Lennon-Refrain zum Schluß abwärts in den Grundton führt, steigt der letzte Ton der BVB-Hymne an dieser Stelle aufwärts. Und so kam es dann: Während ich als einziger im Stadion den Grundton sang, intonierten alle anderen die darüber liegende Terz. Das hatte die spektakuläre Wirkung, daß sich plötzlich sechzigtausend Mann in ihrem Gesang – funktionsharmonisch gesehen – auf mich als tonales Zentrum bezogen. Ein wahrhaft berückendes und selbsterhebendes musikalisches Erlebnis, das sich zwar beliebig oft wiederholen oder nachmachen läßt, aber niemals wieder die gleiche Wirkung entfaltet wie beim unverhofften ersten Mal.
Gerhard Behmenburg (Titanic, September 2003)
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.
„Die Vergangenheit ist niemals tot.
Sie ist nicht mal vergangen.“
(William Faulkner 1951)[1]
(1) Jetzt, nachdem FJD 79jährig starb, wurde er das „singende, scharfzüngige Megafon der ‘68er-Bewegung“ (der westen) genannt. Ich erinnere noch – Sommer 1966 – als der Korntrinker schon sein Kleinkunstpublikum hatte, immer noch in der SPD (zeitweilig SPD-Stadtrat) war und Uniassistent für Europarecht (Dr.jur. 1966). Später, 1981, FJD wohnte damals in Quickborn, gabs mal im Hamburger Univiertel eine öffentliche Diskussion mit Werner Mittenzwei, der sich in der damaligen DDR dafür engagierte, daß dort die drei Peter-Weiss-Bände DIE ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS ungekürzt erschienen (was auch geschah). Auch FJD fragte öffentlich und später in der Kneipe beharrlich nach…
(2) Aber nicht deshalb diese Erinnerung. Sondern: es gibt, FJDs „Vatis Argumente“ betreffend, eine Rezeptionsgeschichte, genauer: ein Rezeptions“mißverständnis“. Als das 68er-Lied zuerst im WDR lief und so endete
„lieber Rudi Dutschke
würde vati sagen
ich mach ihnen einen vorschlag
sie kommen zu mir
in meinen betrieb
personalabteilung
und in einem jahr
in einem jahr
sind sie mein assistent meine rechte hand
und dann
steht ihnen alles offen
na
bin mal gespannt
was er dann sagen wird
euer Rudi Dutschke
meint vati
aber das andere ist ja bequemer
alles kaputtschlagen
würde vati sagen
bloß nicht
ÄRMEL AUFKREMPELN ZUPACKEN AUFBAU’N“ –
sollen im WDR zustimmende Telefonanrufe mit dem Tenor „endlich hat´s mal jemand den Radikalinskis gegeben“ eingegangen sein. So daß sich FJD entschloß, der Schallplattenversion diesen Nachsatz beizufügen, um jeder rechten Zustimmung vorzubeugen:
„also wenn vati loslegt
dann fragt man sich immer
was ist der bloß immer so wütend
hat er gemerkt
daß ihn keiner mehr
ernst nimmt“[2]
(3) Und ich erinnere auch, daß zur ideologischen „Begründung“ eines realvollzogenen Berufsverbots im damals SPD-alleinregierten Nordrhein-Westfalen 1977 ein sich kritisch auf FJD´s Roman „Zündschnüre“ beziehender Zeitungsleserbrief der aus dem öffentlichen Dienst entfernten Studienrätin z.A. vorgehalten wurde …
[1] http://www.duckhome.de/tb/archives/8829-DIE-VERGANGENHEIT-IST-NIEMALS-TOT.html
[2] http://www.youtube.com/watch?v=JfmJZ76kRwc
http://www.youtube.com/watch?v=O6C2t6GtNDI
Dr. Richard Albrecht
15. 11. 2011
http://KulturBruch.net