Das Mädchen ohne Schwefelhölzer
Oder wie würdet ihr „matchless maiden“ übersetzen? Es ist Freitag und der Eröffnungsabend des Edinburgh Festival. Es sind dreimal so viele Leute in der Stadt als sonst, sagen die Leute, und auch ohne Edinburgh je gesehen zu haben, glaubt man das sofort. Denn noch bevor das internationale Hochglanzfestival seine Pforten öffnet, hat das noch viel internationalere Fringe-Festival die Straßen erobert. Allenthalben lasziv gekleidete, geschminkte, extrovertierte Persönlichkeiten, die einem erst den schmalen Weg freigeben, wenn man ihnen mindestens einen Flyer abgenommen und dafür mindestens 3 Versprechen gegeben hat, zu einer Vorstellung zu kommen. Verrückt, diese Leute. Irgendwie schön.
Unterhalb des Schlossbergs rotten sich dagegen bereits zahlreiche Dudelsackbläser zusammen für das „Tattoo„. Was nichts mit Farbe unter der Haut zu tun hat, dafür mit markerschütterndem militärischem Lärm. (Etymologisch soll sich der Begriff „Tattoo“ von den Worten für „Bierhahn zudrehen“ ableiten. Wenn dann immer so ein Getöse losbricht – ein Wunder, dass es noch Sperrstund‘ gibt.)
Noch eine Biegung weiter um den Festungsberg rum – auf dem ein Schloss sitzt, dass hier nicht zuckerbäckerisch weiß und lieblich wie die Hohensalzburg auf den Festspielbesucher herabblickt, sondern ein düsterer, aus grauem Stein trutzig auf einen Graben, der sich dann „königliche Terrasse“ nennt, niederstarrender echter Königssitz – noch eine Biegung weiter, spielt sich ein Straßentheater ab, von dem die ausgelassene Meile am Hunter Square und in der Royal Mile nichts erfährt:
Die lokale und die internationale Prominenz rückt auf die Usher Hall vor. Allerhand Geschmacklosigkeiten sind da zu entdecken. Sakkos, die einmal ein Badezimmerteppich gewesen sein müssen, Anzughosen, aus denen Röcke hätten werden sollen und aus deren Überbleibseln nun – die schottische Sparsamkeit – auch noch eine Krawatte gefertigt wurde. Livrierte Diener im Frack führen Nobilitäten, denen unter der Last ihrer Jahre und ihrer schweren goldenen Ketten das Laufen schwer fällt, von ihrer Limousine bis an ihren Platz, ein paar Touristen, denen solches versagt bleibt, trösten sich mit einem Pint, während sie sich an der Zeremonie ergötzen. (Man erkennt sie daran, dass sie über dem edlen Zwirn keine Regenjacke, neben der Handtasche keinen Schirm bei sich tragen.)
Im letzten Moment habe ich einer Dame auf der Straße eine Karte der günstigsten Kategorie für diesen Abend abgekauft, 10 Pfund, um dabei zu sein, wenn das Festival mit dem Oratorium El Nino von John Adams eröffnet wird. Das Programmheft kostet 3 Pfund, man kämpft sich durch 15 Seiten (Hochglanz-)Werbung, bis man zum Grußwort des Festival-Direktors Jonathan Mills gelangt. Es folgen weitere 3 Seiten Werbung bis zur „Auftaktseite“, dann endlich gelangt man zu Artikeln von Thomas May und Andrew Clements, die von der Entstehungsgeschichte berichten und John Adams als „ethnischen“ Komponisten bezeichnen. Wenn es nicht nichts heißen würde, klänge es wie eine Beleidigung.
Das Oratorium handelt von der Geburt eines Kindes, die anhand von biblischen Motiven, angereichert um Gospel-Texten und Fragmente der lateinamerikanischen Autoren Rosario Castellanos, Gabriela Mistral und Vicente Huidobro erzählt wird. Teilweise erscheinen diese Fragmente im spanischen Original, was offenbar auf eine Anregung von Peter Sellars zurückgeht. Der ist übrigens ein großer Fan des „Sommerhits“, der Ponifasio Tanztruppe MAU, die von Festival zu Festival durchgereicht wird. Und mit Lateinamerika ist man ja auch schon irgendwie bei Montezuma und so purzeln die Missing Links allmählich für den wenig vorinformierten und doch etwas irritierten Konzertbesucher, über den Umstand, dass er nun im August in Edinburgh ein amerikanisch-minimalistisches Weihnachtsoratorium präsentiert bekommt. Doch bevor er sich weiter wundern kann, wird sein gerade erloschener Tinnitus von einem kleinen Mann geweckt, der laut rufend durch das Foyer schreitet, wobei er neben jedem Besucher einmal stehen bleibt, um dicht neben seinem Ohr zu läuten: „Five minutes!“ Ich geh ja schon.
Der zweite Rang ist ausgebucht, bis auf den letzten Platz. Die Sitzreihen sind furchtbar eng, die Stühle ganz aus Holz, fast wie Bayreuth, nur der Stoff unterm Hintern ist etwas dicker. Weiter unten, wo die Reihe mit den Goldkettchen sitzt, sehen die Stühle etwas gepolsterter aus, dafür sind sie auch ein bisschen weniger voll besetzt. „There are nobles“, brummt mein Nachbar mit Kennermiene zu seiner Frau, wobei sein Kopf in Richtung des ersten Rangs deutet. Unter Applaus betritt Jonathan Mills das Podium. Er hat einen Notenständer vor sich stehen. Will er nun seine Begrüßungsworte ablesen? Oder alle Programmheftsponsoren aufzählen? Während ich noch an solchen Fragen hänge, lacht das Publikum um mich herum, offenbar ist Herr Mills gerade selbstironisch und man versteht den Witz nur, wenn man die Lokalpresse zum letzten Festival verfolgt hat. Er überlässt rasch die Bühne den Musikern und seine drei Manuskriptseiten dem Inspizienten.
Der Abend bedeutet ein Wiederhören mit James Conlon, der es elendig lange 13 Jahre fertig gebracht hat, in Köln GMD zu sein. (In seinen letzten Jahren gar, in denen er parallel „principal guest conductor“ der Pariser Opera Bastille war, ohne in der Kölner Oper dirigieren zu müssen. Noch heute unfassbar – aber der verlängerte Markus Stenz reduziert ja auch inzwischen. Und statt Adams dirigiert er Adès.)
Heute aber: Adams. Eingestellt hatte ich mich auf: Schaumbad. Das ging dann auch die ersten 15 Minuten so, in denen recht früh das Wort von der „matchless maiden“, dem Mädchen ohne Schwefelhölzer fällt. Fünfzehn MInuten lang denkt man sich noch: die guten Stellen, die hat der Ligeti besser gemacht. 15 Minuten lang denkt man sich noch: diese tollen B-Movie-Sounds, die könnten aus einem schönen Schnittke-Stück sein. Die Holzbläser, ein später Henze! Und dann doch wieder nur: Zuckerwatte.
Oder nein, die Erkenntnis keimt im zweiten Teil: Die Musik von John Adams ist wie eine Hüpfburg. Aufgeblasen, unecht – und man kann ganz leicht drin rum hopsen. Wenn man dan aber zu lang drin gehüpft ist, ist einem schwindlig und schlecht. Gegen Aufgeblasenheit ist ja grundsätzlich nichts zu sagen: Dann soll sie jedoch bitteschön so monströs sein, wie bei einer McCarthy-Figur! Damit die Vergrößerung etwas eröffnet. Minimal-Music, die in elektrifizierter, leicht verbeulter Bang on a can-Streetwiseness ja noch subversiven Charme entfaltet, offenbart, aufgepumpt auf philharmonische Größe nichts als Nebel. Das passst dann zwar vielleicht zu den Highlands, ist aber ansonsten unerträglich. Diese Musik funktioniert ja nicht als impressionistische Farbverschwimmerei, das ist eine Hochpräzisionsmaschine. (Ausnahme sind auch hier die „shaking“-Abschnitte, wo beides ineinander übergeht.) Wenn aber Celesta, Klavier und Schlagwerk (schöne Kuhglocken!) nebst Zupfinstrumenten keine drei Takte akkurat hinbekommen, dann ist es selbst bei gutem Willen zum Haare ausraufen. Da hilft dann auch ein Dirigent mit zackigen Bewegungen wenig. Kann man auch ein Metronom hinstellen und per Fernsteuerung laut und leise machen. Die werden trotzdem durcheinander.
Das Tollste an diesem Konzert, das muss man sagen, ist wirklich die simultane Bewegung mit der sich der 120 Mann und Frau starke Edinburgh Festival Choir aus dem hölzernen Gestühl erhebt. So was würde man in Deutschland bestimmt nicht hinkriegen: dieser Impuls und alle stehen. Das war toll eingeübt – und was macht da schon die Intonation, was sollen da die Fugen.
Auch die Solisten hatten Mühe: Williard White war so mit Zählen beschäftigt, dass er sich hinsichtlich Rhythmus und Tonhöhe im Ungefähren zufrieden gab, die drei Countertenöre des „Theatre of Voices“ wirkten zu dritt überzeugend, einzeln dann weniger. Lichtblick war Kelley O’Connor, deren Mezzo in der Tiefe klingt wie warmer Schokikuchen mit Brombeeren. Wenn sie in der Höhe auch noch sicherer wird, darf man sich auch mal auf eine Eboli von ihr freuen, oder so.
Warum bist Du denn nicht früher gegangen, fragt jetzt natürlich jeder zurecht. Aber da hätte ich mich ja nur halb so viel geärgert, kann man nur antworten. Der wahre Grund ist natürlich, dass ich selbstkritisch überprüfen musste, ob meine Wahrnehmung der mangelnden Präzision in der Ausführung mit akustischen Imponderabilien auf den billigen Plätzen zu tun hatten. (Hatte sie nicht! Im zweiten Rang hört man differenzierter.) Und so nahm ich nach der Pause gleich zwei Reihen hinter dero Lordschaften Platz, von oben hatte ich ja gesehen, dass es dort freie Pätze gibt. Was ich von dort allerdings nicht gesehen hatte, waren die dicken Füße von Frau Lord, die ungeniert ihre Schuhe abstreifte um ihnen das volle Hörvergnügen zu gönnen. In Reihe 1! Allerdings saß sie nicht in der Mittelabteilung, wo nur die ganz Vornehmen Platz nahmen, und ich, was mir auch den tadelnden Blick einer distinguierten Dame mit Thatcher-Gedächtnis-Frisur einbrachte. Die Herren im Kilt könnten ihre Schuhe und Socken niemals ausziehen, sie wüssten dann ja nicht, wohin mit den Messern, die sie in ihren Kniestrümpfen mit in den Zuschauerraum tragen.
Als ich die Usher Hall verließ, gab es ein Feuerwerk. Ca. 5 Raketen, ein großer Knall – eine bewundernswerte Ökonomie der Mittel, nach dieser Popcorn-Verausgabung. Rund um die Kathedrale befand sich die Fringe-Crowd bereits im Zustand der Auflösung, die Veranstaltung wird allein durch die Polizisiten aufrecht erhalten, die weiterhin in Mannschaftsstärke den Verkehr und den Zugang regeln. Zwei grell geschminkte und kostümierte Damen, denen ich eine Weile lang zusah, wie sie in einer Ecke mit einer Taschenlampe in ihren Beuteln kramten, im Bewußtsein, hier als einziger unter vielen einer querständigen, postkolonialen und politisch aufgeladenen Performance mit der gebührenden Aufmerksamkeit beizuwohnen, gaben mir nach einer gewissen Zeit zu verstehen, dass sie tatsächlich gerade nach ihrem Nagellackentferner suchen. Wahrscheinlich wollten sie ihn schnüffeln. Ein dicker Junge sitzt unter einer Laterne und traktiert einen Putzeimer mit Off-Beats, ein größerer Eimer steht davor, vermutlich für „change“. Hier ist es wahr, jeder Mensch ist ein Künstler. Als ich dem Busfahrer mein Tagesticket unter die Nase halte, schaut er es sich sehr genau an.
Sponsorenhinweis: Die Reise nach Edinburgh wurde ermöglicht durch die Deutsche Bank Stiftung. Danke!
Musikjournalist, Dramaturg
Kleine Ergänzung zu Conlon: habe in Köln Anfang der 90er mindestens 3 Operndirigate erlebt (Don Giovanni, Lady Macbeth, Billy Budd); so ganz hat er sich da wohl doch nicht entziehen können.
@ juancho: entschuldigung, ja, stimmt. das ging los, nachdem günter krämer, verärgert über conlons pariser aktivitäten – zwischen 1995 und 2004 war conlon neben seiner kölner tätigkeit als gmd „principal guest conductor“ an der opera bastille – einen nachfolger suchte. ein artikel von klaus umbach im spiegel erwähnt die geschichte.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8840650.html
die unrichtigkeit wird oben korrigiert und bitte ich zu entschuldigen.
immer wenn nichts los ist in Politik und Wirtschaft, zieht die Spiegel-Redaktion Klaus Umbach hervor, der dann seine Knallfrösche abfeuern darf.
In der Adventszeit/zum Jahreswechsel gut platziert, hilft es den Idylle-Pegel zu senken.
Artikel über Gagen von Klassikmusikern (i.d.R. Dirigenten) erscheinen im Spiegel etwa im 10-Jahres-Rhythmus.
beste Grüße aus dem Labor
– wechselstrom –