Klangbesäufnis in Neufundland Teil 2: St. John’s – Fragmente
Helge Schneiders Alptraum
Wäre Helge Schneider in Neufundland aufgewachsen, wäre er nie zum Star geworden, denn eine der Fähigkeiten, die ihn auszeichnet – viele verschiedene Instrumente spielen zu können – wäre in Neufundland nichts Besonderes. Das fällt einem sofort auf, wenn man eines der Konzerte in der Musikkneipe „The Ship“ besucht, an das sich unweigerlich ein Improvisationskonzert anschließt. Der durchschnittliche neufundländische Musiker beherrscht mindestens 5 Instrumente: auf jeden Fall Gitarre, auf jeden Fall ein Tasteninstrument, zusätzlich Geige, Schlagzeug, Saxophon oder was auch immer ihm so in die Finger kommt. Oft kann man die Musiker alle diese Instrumente an einem Abend spielen hören, und keines dieser Instrumente ist dann auf Dilettantenniveau beherrscht, ganz im Gegenteil. Auch spielt der neufundländische Musiker gerne in mehreren Bands verschiedenster Stilrichtungen, oft kann man dieselben Leute jeden Abend sehen, in verschiedenen Formationen und immer neuen Kombinationen. So sitzt der Toningenieur plötzlich an der Gitarre, der Schlagzeuger plötzlich am Mischpult. Legendärste neufundländische Gruppe ist vielleicht „The Black Auks“, ein Improvisationsquintett das einst von Don Wherry mitbegründet wurde und schon seit mehreren Jahrzehnten sein Unwesen treibt. Hier wird alles zur Musik: Anrufbeantwortertexte, Handyklingeln, gefundene Geräusche, unter Einsatz merkwürdigster Instrumente – Cage hätte seine Freude. Im Gegensatz zu anderen Improbands hören sich die Black Auks gegenseitig sehr gut zu und müllen nicht alles eitel mit Tönen zu – es entstehen daher sehr durchhörbare Improvisationen von großer Ausstrahlung, zu sehen zum Beispiel hier:
Cape Spear
Cape Spear ist der östlichste Punkt Nordamerikas und ist bei jedem Sound Symposium Ort eines großen Abschlusskonzertes. Eine alte Bunkeranlage aus dem zweiten Weltkrieg eignet sich für Klanginstallationen und Wandelkonzerte. Teil meines Cape Spear –Projektes mit dem Titel „Breaking The Waves“ ist ein vorbereitendes Hörspiel, das ich mit lokalen Kräften im Wohnzimmer von Kathy Clarke-Wherry aufgenommen habe, zu hören HIER
Bei der Figur des „Seemanns“ deutlich zu hören: der berüchtigte „Newfie“Dialekt, der am meisten dem Irischen ähnelt.
Bildmusik
Eve Egoyan ist die Schwester des bekannten kanadischen Filmregisseurs Atom Egoyan und selber erfolgreiche Pianistin in der Neuen Musik-Szene. Mit ihrem Partner, dem Computerkünstler David Rokeby, präsentiert sie ein Konzert mit Improvisationen auf dem Disklavier. Eve sitzt vor einem großen Bildschirm – jeder ihrer gespielten Töne beeinflusst nach Art der Visualisierung des Windows Media Player einen bildererzeugenden Algorithmus. Hier wird also das Verhältnis Bild und Musik umgedreht: Die Bilder illustrieren nicht die Musik sondern die Improvisation reagiert auf die erzeugten Bilder. Das ist mal spannend, mal unglaublich öd, letzteres gerade dann, wenn jede Impro mit den gleichen tastenden Einzeltönen beginnt, um erst einmal die Bildregeln zu etablieren. Dann aber beginnt ein seltsamer Feedback-Loop: Tonkaskaden werden zu Bildern auf die wieder die Töne reagieren – ein endloses Möbiusband. Irgendwie erzeugt das auch Stillstand, ist aber ein interessantes Experiment.
Nachtkonzert
Der kanadische Schlagzeuger Curtis Andrews – eine Art Schlagzeug-Sandeep-Bhagwati, der die ganze Welt bereist – tritt gemeinsam mit dem zimbabwischen Schlagzeuger Kurai Mubaiwa auf. Man benutzt eine Kürbiskalimba und ein spezielles Zimbabwe-Marimba in naturtöniger Stimmung, bei dem jede Lamelle klingt wie eine verstärkte und gestimmte Snare-Drum. Gibt es eine weniger depressive und introspektive Musik als afrikanische? Wahrscheinlich nicht. Auf jeden Fall kann man mit dieser Musik jeden potentiellen Selbstmörder sofort stoppen. Ist ja nicht das Schlechteste.
Moritz Eggert
Komponist