stückchen und schlange
Schlangestehen gehört dazu – das weiß man inzwischen, wenn der Name Tsangaris auf dem Programm steht. Als es hieß, er würde ein Stück für das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg schreiben, stutzte man, denn der Name Tsangaris steht für ein musikalisches Stationentheater, das den Zuschauer in besondere Hör- und Sehsituationen versetzt. (Neulich schrieb ich schon mal über die „Entdeckung der Nahsamkeit“ im Zusammenhang mit seinem, wie Kollege Luecker findet „peinlichen“ Musiktheater.) Die meisten seiner musiktheatralischen Stücke der letzten Jahre wählen bewusst eine kleine Form: es sind Miniaturen, und er meint damit nicht nur Miniatur im Sinne von Verkleinerung – er spielt an auf das blutrote Sulfid-Mineral „Minium“, mit dem in alten Handschriften die Initialen koloriert wurden. Man könnte also auch mit einiger Berechtigung von Kristallisierungen sprechen.
Wie würde sich Tsangaris also dem Orchesterapparat stellen, fragte man sich vorab – und bislang scheint es, als würde er von seiner bekannten Vorgehensweise nicht abweichen. Denn auch die Geschichte der schönen Batsheba, die er seinem Stationentheater diesmal zugrunde legt, erzählt sich in vielen kleinen, kammermusikalischen Häppchen. Neben zahlreichen Schauspielern und Sängern aus „seiner Truppe“ sind es nun die Musiker des SWR Sinfonieorchesters, die auf oder hinter der Szene spielen – und gelegentlich auch sprechen. Das ist für Orchestermusiker außergewöhnlich, man könnte gar sagen: eine Sensation. Beim Hören allerdings macht das keinen Unterschied. Der Mehrwert liegt hier sicherlich auf Seiten der Musiker, die sich aus dem Verband ihres Orchesters lösen und sich kammermusikalisch in ungewöhnlichen Spielsituationen einbringen – eine vom gewöhnlichen „Orchesterdienst“ weit abweichende Erfahrung, nicht anders als beim Orchesterstück „doppelt bejaht“ von Mathias Spahlinger – wenn auch auf ganz andere Weise. Ob sie für das Zusammenspiel des Orchesters in Zukunft Früchte bringen wird?
Eine Frage, die sich aus dem Publikum heraus schwer beantworten lässt. Anders als am eigenen Leib, wo die Vorstellung von Zerstückelung ja keine besonders angenehmen Vorstellungen weckt, kann es in der Kunst ja ganz reizvoll sein, wenn – nach dem Vorbild Aktaions – etwas zergliedert wird. Anders als die gruppendynamisch wertvolle aber ästhetisch folgenlose Orchesterzerstückelung scheint in der Dramaturgie des Stationentheaters von Manos Tsangaris eine Möglichkeit des Erzählens auf, die sich von linearen Mustern weit entfernt und zugleich die Option auf eine Geschichte erhält. Ob diese Geschichte aufgeht – das wissen wir dann vielleicht in zwei-drei Stunden.
Musikjournalist, Dramaturg