Abschied von der Natur
[kleine korrekturen am 18. August, 19:44]
Nein, Rousseau hat das nie gesagt, auch wenn das heute immer wieder behauptet wird: „Zurück zur Natur“. Diese Losung hat mit Rousseaus Zivilisationsexperiment so viel zu tun, wie Kaugummikauen mit der Kautschukernte: das eine setzt das andere zwar voraus, doch dazwischen liegen Jahrhunderte Kulturtechnik, tausende Kilometer und im Zweifelsfall ein klimaschädigender CO2-Ausstoß.
Dass Natur und Musik zwei unlöslich aufeinander bezogene Welten seien ist ein Missverständnis, das die Menschheit mit sich herumschleppt, seit Pythagoras als Hans-guck-in-die-Luft von Sternbildern und Sphärenharmonien berauscht, in den Brunnen gefallen ist. Diese spontane Abkühlung des erhitzten Denkorgans konnte nicht verhindern, dass noch zweitausend Jahre später Kunstprodukte an der Natur gemessen werden. Die Romantik, die im Glucksen eines Baches ihr höchstes Glück fand, feiert zur Zeit wieder fröhliche Urständ und ein großer Star der Kunstwelt gefällt sich darin, unter abnormem technischen Aufwand künstlich die Natur zu reproduzieren: die künstlichen Wasserfälle und Sonnenuntergänge, die das Büro von Olafur Eliasson so perfekt herstellt, sind die Kronzeugen für eine Zeit, in der die künstlerische Phantasie an die Stelle der Schöpfung wieder einmal die Imitation gestellt hat. Eine olle Kamelle, auch diese ästhetische Diskussion.
Aber mal Hand aufs Herz. Was hat denn eine so genannte „natürliche Stimmung“ mit Natur zu tun? Sie ist ungefähr so natürlich wie Biobrot: Zutaten: 100% ökologisch. Herstellung: Ganz viel Technologie.
Der Aufpreis für den Bio-Aufkleber ist so etwas wie der moderne Ablasshandel. An der Supermarktkasse bezahlen wir mit der EC-Karte reuevoll für unser durchtechnisiertes Leben. Angesichts der Heimat-und-Schollenideologie der Bioindustrie erscheint dann doch der Cheeseburger als die Krone der Zivilisation. Um auf die Naturtonreihe zu kommen: für sich genommen ist sie natürlich, sie ist eine physikalische Gegebenheit. Als solche ist sie langweilig – der Gebrauch der Natur ist das Ereignis.
Zugegeben, dieses Argument klingt nicht nach Ressourcenschonung. Da in der Welt der Töne Ressourcenknappheit noch nicht abzusehen ist, darf man hier wohl etwas verschwenderisch denken. Doch da höre ich bereits den nächsten Einwand, der Natürlichkeitsfan kommt ungeduscht um die Ecke und klagt über die Denaturierung! (Er knabbert gerne Achselhaare und betrachtet ein rasiertes Frauenbein als eine Entgleisung der Evolution.)
Der Reformhausapostel hat ein großes Problem. Er ist gekettet an das Ideal der Authentizität. Das macht ihn zum lahmen Bruder Hollywoods. Die Blockbusterindustrie und der Ganznatürliche treffen sich in einer katastrophischen Neigung zur Übersteigerung der Wirklichkeit. Da lob ich mir doch den schönen Schein.
Eine interessante Spannung zwischen Natur und Künstlichkeit beherrscht die japanische Kunst und Musik. Sie ist erfüllt von Naturbildern – diese werden jedoch von einem so hohen Maß an Künstlichkeit durchdrungen, dass es Greenpeace auf den Plan rufen müsste. Aber die sind ja mit den Walfängern beschäftigt und interessieren sich nicht für Kunst. (Vielleicht treffen sie bei den Walen einen Spektralisten…)
Es ist ja nicht so, dass die Natur als Vorbild Komponisten nicht zu großartigen Werken angeregt hätte. Und viele der wichtigsten Entwicklungen auch im zwanzigsten Jahrhundert wären ohne die Hinwendung zur Natur kaum denkbar gewesen. Man denke nur an das Lebewesen Klang, das die französischen Spektralisten beschwören. Entdeckt haben sie dieses Lebewesen jedoch unter dem Elektronenmikroskop im akustischen Labor.
Und auch da, wo Naturaufnahmen selbst zum Gegenstand der Musik werden – so sind sie, abgespielt, schon längst nicht mehr Natur. Wenn das Zirpen einer Grille den Kondensator eines Mikros passiert, elektromagnetisch auf ein Aufzeichnungsmedium gebannt, womöglich gemischt – ich kürze hier ab – und durch einen Lautsprecher wieder abgespielt worden ist – ist das dann noch Natur? Ich muss schon sehr bitten!
Es gibt kaum einen Künstler, der sich nie auf die Natur bezogen hätte. Doch welche Bedeutungen hat dieser Begriff dabei nicht schon angenommen. Monteverdi dachte an die Natur des Menschen, wenn er Sie sich zum Vorbild nahm, bei Beethoven lernt man die romantische Natur kennen, bei Wagner die symbolistische. Selbst wo in Kompositionen eines Xenakis mathematische Regelhaftigkeit ihre Schönheit preis gibt, ist Natur mit im Spiel. Der französische Komponist Francois Bernard Mâche geht jedoch soweit, zu sagen, die Musik sei eine biologische Funktion – Zoomusikologie heißt sein Forschungsprojekt, in dem er musikalische Archetypen auch in der Tierwelt nachgewiesen zu haben meint.
„Dans la Zoomusicology, j’ai analysé les chants animaux et les convergences entre les chants animaux et la musique humaine. Et je crois avoir montré qu’il faut enlever les guillemets en parlant de la musique animale, c’est á dire que les fonctions sont tout à fait les mêmes, simplement elles sont plus rudimentaires. Toute notre culture repose sur l’idée traditionnelle que l’homme est une espèce appart. Donc j’étais mal vu, parce qu’il y avait un aspect antihumaniste dans ma recherche. Du moins qu’il reconsidérait le rôle de l’homme dans le monde.“
Was auf deutsch so viel heißt, wie: „In der Zoomusikologie habe ich Gesänge von Tieren und ihre Übereinstimmung mit menschlichen Gesängen untersucht. Ich glaube, darin gezeigt zu haben, dass man die Anführungszeichen wegnehmen sollte, wenn man von der Musik der Tiere spricht. Das hat zu vielen Schwierigkeiten geführt, da unsere gesamte Kultur auf der traditionellen Vorstellung beruht, dass der Mensch eine Gattung für sich sei. Und eine Neusichtung der Rolle des Menschen in der Welt ist wenig gewünscht.“
Mâches Argumente wurden in Fachkreisen nicht selten belächelt. Und das wohl zurecht. Die Zivilisationsgeschichte bleibt eine Geschichte der Entfremdung von Mensch und Natur: Die technischen Revolutionen der westlichen Moderne unterminieren den Glauben an eine urtümliche Naturverbundenheit des Menschen. Ohne Konstruktion ist keine Musik zu haben – sie ist ein kalt funkelnder Edelstein in der Krone der Schöpfung „Mensch“. Adriana Hölzsky hat es einmal treffend ausgedrückt: „Jagt die Wölfe zurück“.
Das Wichtigste an Mahlers Anmerkung „wie ein Naturlaut“, ist und bleibt: das „wie“.
Musikjournalist, Dramaturg
Zu Konstruktion/Musik:
1.) Ist nicht jede menschlich musikalische Äusserung, die die Grenze zur Außenwelt überschreitet, eine Konstruktion? So wie wir das „Äussere“ wahrnehmen, ist es immer ein Konstrukt unseres Gehirns: sei es etwas Gesungenes oder etwas mit prothetischen Instrumenten Gespieltes, sei es eine verbal oder schriftlich geäusserte und fixierte Idee, im schlimmsten Falle eine „fixe Idee“. Selbst Keimzellen von Motiven sind doch konstruiert, selbst der einfachste Popsong folgt dem Konstrukt „Kadenz“. Ob man nun „Zurück zur Natur“ fordert oder „Nanotechnologie und Musik“ als Symposium ausschreibt, der Konstruktion entkommen wir niemals. Die Frage ist, ob man unbedingt den „Stand des Materials“ einhalten muß, wie es Frau Hölszky oder z.B. Herr Mahnkopf einfordern. Nachdem beide wohl dem Strang der Weberntradition angehören, seien beide auch an dessen Reduktionismus erinnert. Ein Bonmot der Musikhistorie ist es doch, daß ausgerechnet die längsten Werke Morton Feldmans auf diesem Reduktionismus beruhen, dennoch irgendwie freier „konstruiert“ wirken. Sind diese durch ihren Meditationscharakter ein „back to the roots“? Wenn man bedenkt, was man als Hörer so in jenen zwei bis vier Stunden Stückdauer an menschlicher Natur unterdrücken muß… Da ist der Hörer wohl entsprechend in seiner Konstitution konstruiert!
Aber nun ernsthaft: der Begriff Konstruktion, wie er allgemein in der Neuen Musik verstanden wird, zurecht oder zu Unrecht oft unglaublich emphatisch aufgeladen, kann auch nicht das Heilmittel für „gute Musik“ sein, genauso wie der Freiheitsbegriff der Öko-Fraktion Garant für Qualität ist. Konstruktion wird gerade durch die „Verdokterung“ der Komponisten, wie sie seit zehn Jahren bei etlichen Kollegen zu beobachten ist, in einem Übermaß wichtig, daß es einem unheimlich wird: nicht nur die Zeit, jedes Klappengeräusch wird meßbar, bis in den letzten Winkel des Stückes hinein nachweisbar. Das erinnert an die Transparenz von Budget und Controlling… Echte Yuppie-Musik all der Konstruktvisten, die ja oft auch den Eindruck von netten Ökos in ihrem Habitus erwecken: der Wolf im Schafspelz? Da werden wir aber die falschen Tiere durch die Straßen hetzen. Übrigens: auch „very political incorrect“: Wölfe stehen doch inzwischen unter Artenschutz, wobei man sich dann damit wieder der Lachenmannschen „Laus“ nähert. Ich bevorzuge das Haydnsche „laus deo“ am Ende seiner Partituren.
2. Die Naturton-/Obertonreihe: nun, wenn man fröhlich auf einem Monochord oder einer enstprechend gestimmten Harfe versonnen wellenartig rauf- und runterzirpt entsteht schnell eine Langweile, wie sie Klangspiele auf Großstadtbalkonen erwecken. Wenn man nun Klänge bis zum 677. Oberton und darüberhinaus aus ihr bildet, dann wird es doch wieder viel interessanter. Zumal: das Konstruktionspathos schwinkt da ständig mit, was wäre daran „unanständig“? Auch ist die Naturtonreihe das interkulturelle Kompositionsmittel par excellence in puncto Harmonik, da mit einem Raster okzidentale wie z.B. orientale Tonsysteme im Sinne einer „konstruierten“ „Transitorik“ „konstitutiv“ „komponiert“ werden können. Oder: wie sich z.B. genau temperiert gestimmte Tasteninstrumente, leittönig intonierende Streicher und eher pythagoreisch spielende Bläser innerhalb eines klassischen oder neueren Stückes in ihrer Eigenart mischen oder eben nicht mischen können, bestimmt doch oft erst die Atmosphäre und Charakteristik eines Stückes. Es ist eben immer die Frage des Umganges mit einem Kompositionsmittel. Das Problem ist eben das, woran die Neue Musik immer wieder krankt: der „böse“ Materialfetischismus gepaart mit dem Konstruktions-Muß als die allein seligmachende, ewige und sogenannte „aufgeklärte“ Dualität. Das macht aber nur die Methode des Schreibens aus. Damit eine „Trinität“ entstehen kann, braucht es immer noch den „Geist“ des Komponisten. Dieser Geist kann zwar durch das Fegefeuer der Konstruktion gehen und wird dabei oft an Klarheit gewinnen, er muß es aber nicht. Vor lauter Absoltheit des Konstruktionsgedanken, also Loslösung, wurde es in manchen dieser Konstrukte geist-los. Höchstwahrscheinlich kam deshalb Cage auf die Idee, Lose über den Ablauf eines Stückes entscheiden zu lassen? Natürlich Blödsinn! Zumal man die erwürfelte Konstruktion z.B. seiner „Music of Changes“ nicht unterschätzen sollte, die z.T. komplexer wirken als alle Klavierstücke Boulez‘ zusammen.
Mein Eindruck ist der, dass die menschliche Perspektive und damit der „plot“ (im Deutschen schlecht übersetzt mit „Handlung“, eher „Entwurf“) die Naturbetrachtung erst interessant macht. Die reine Abbildung des Wasserfalls, die Walgesänge unterlegt mit schmalzigen Synthiesounds – das ist reiner Kitsch. Die „Pastorale“ – trotz Naturlautnachahmung – ist es nicht, weil sie die Naturbetrachtung in einen dramatischen und höchst emotionalen Kontext überträgt – es „geht uns an“, es ist nicht nur Kulisse.
Inwieweit simple „Übertragung“ von Natur ohne weiteren „plot“ in andere Medien (wie beim Eliasson-Beispiel) künstlerisch ergiebig ist, mag tatsächlich angezweifelt werden.
Interessanterweise war Cage selbst in seinen zufallsüberlassendsten Stücken immer sehr am Plot interessiert – die „Handlungsanweisungen“ (also die Regeln des jeweiligen Spiels) sind schon der „plot“ – wenn ich mir ein System ausdenke, mit dem ich zum Beispiel die Nutzung des I-Chings in Klänge umwandle, ist es schon eine menschliche Anordnung des Zufalls, und damit kein reiner Zufall mehr, denn ich lasse ja tatsächlich nicht alles zu, sondern nur einiges.
Cage benutzte gerne eine Antwort von Sri Ramakrishna in seinen Texten:
(aus „History of Experimental Music in the United States).
Mir persönlich geht es meistens so, dass Musik für mich erst dann interessant wird, wenn es einen solchen „plot“ in irgendeiner Form gibt. Das kann entweder eine bestimmte Form sein, ein Prozess, eine Entwicklung, eine Metaebene – die Mittel können sehr verschieden sein, und meinetwegen auch in einem 4-stündigen Feldmanstück kleine Klangpartikel sein, die sich aneinander reiben und leicht verschieben, aber etwas „geschieht“.
Dann beginne ich zuzuhören – reine in sich ruhende Klangwolken interessieren mich nicht. Wie geht es euch?