Vom Fehlen des Widerständigen. Weitere Gedanken über Ferneyhough.

Vom Fehlen des Widerständigen. Weitere Gedanken über Ferneyhough.

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Mein Artikel über Ferneyhough neulich war natürlich nicht wirklich eine Kritik an der Musik Ferneyhoughs, sondern eine Parodie des Partiturengötzenkultes. Ich finde Ferneyhoughs Musik ganz okay, auch wenn sie mich nicht wirklich vom Stuhl haut.

Über was ich mich eigentlich lustig machen wollte ist die Tatsache, dass wir gerade in der Neuen Musik dazu tendieren, Konzepte mit Inhalten zu verwechseln, oder anders gesagt: wir verwechseln Pläne mit deren Ausführung. Das kann man karikieren, indem man den Plan (Partitur) von seiner Ausführung (Klang) trennt und gesondert betrachtet, zum Beispiel aus der Perspektive einer ganz anderen Kunstrichtung (hier der bildenden Kunst).
Dennoch: es gäbe durchaus noch einiges zu Ferneyhough zu sagen.

Es ist für mich eine Tatsache, dass Ferneyhoughs Ruhm vor allem auf seinen komplexen Partituren beruht, nicht aber etwa auf der Wirkung der Musik selber.

Ich weiß genau, wie ich die Musik von Ferneyhough zum ersten Mal erlebte. Ich schaltete das Radio ein, und da kam eben ein Stück von Ferneyhough, den ich bis dato als Namen nicht kannte. Ich kann mich noch genau erinnern, dass mir an dieser Musik nicht im Geringsten irgendetwas speziell auffiel – es klang wie viele Neue Musik: schwer beim ersten Hören fassbare oder definierbare Gesten, die meistens im Nichts enden, schroffe Klanggebilde, von diversen Effekten und Spieltechniken durchsetzt.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ich finde es vollkommen legitim, eine solche Musik zu schreiben (wenn man das will). Aber es hatte jetzt nicht wirklich die Aura des Speziellen oder Besonderen, die raffinierteren Komponisten wie Nono oder Boulez immer wieder mal gelingt. Sicherlich ist das auch Geschmackssache, aber beim Hören dachte ich nicht, dass sich das irgendwie außergewöhnlich anders anhörte.

Das zweite Mal hörte ich Ferneyhough in Darmstadt, ein Streichquartett, gespielt von den Ardittis. Damals war Ferneyhough wesentlich umstrittener als heute, und ich erinnere mich an aufgeregtes Getuschel, als die Ardittis riesige Partiturseiten entfalteten und dann ein sehr dichtes und kurzes Streichquartett von ihm spielten, das mir gar nicht mal schlecht gefiel, aber nur deswegen, weil die Ardittis so schwitzten und sichtlich mit den Noten kämpften (damals waren sie noch nicht so ganz versiert in dieser Musik wie heute, wo sie sie quasi vom Blatt spielen und selbst im Ungefähren den richtigen Ton treffen).

Aber auch dies war natürlich schon eine geistige Übertragung, die gar nicht so viel mit der Musik selber zu tun hatte, sondern mit deren Umständen. Natürlich wurde mir sofort beim Anblick der Noten klar, dass es sich hier irgendwie um schwierig zu lesende und komplexe Musik handelte, und das beeindruckte mich eigentlich mehr als die Musik selber, die vor allem laut und schrubbelig war, viel Aktionismus verbreitend ohne irgendetwas damit zu sagen. Auch das ist natürlich ok – darf man auch mal machen, aber es ist eine Virtuosität die erst aus dem Kontext des Insiderwissens um eine beeindruckende Geheimschrift entsteht.

Kein Komponist wird so oft in Neue-Musik-Fachbüchern abgedruckt wie Ferneyhough. Seine Partituren sind allgegenwärtig, und gelten immer als Beispiel für besonders spannende und komplexe Notation. Natürlich beeindruckt so etwas. Man fragt sich dann immer „wie zur Hölle wird sowas gespielt?“. Auch auf youtube erfreuen sich Ferneyhoughs Videos großer Beliebtheit. Man liest da gerne mit, und es ist eine Art Wettbewerb, wie viele Noten der jeweilige Interpret jeweils trifft, und wie „cool“ er es hinbekommt.

Ich kann sehr genau mitlesen, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass selbst die besten Interpreten Ferneyhough nie hundertprozentig „genau“ spielen. Worum es natürlich überhaupt nicht geht. Ferneyhough selber argumentiert ja auch so, und wehrt sich gegen das Missverständnis, dass „New Complexity“ vor allem Perfektion, nicht etwa einen besonderen Ausdruck sucht. Dennoch gibt es hierüber einen merkwürdig autistischen Diskurs, der sich vor allem an der Frage der Notation aufhängt: einige bezichtigen Ferneyhough der Scharlatanerie, andere verteidigen ihn als besonderen Könner. Aber dieser Diskurs hängt sich an der Notation und der Machart auf, weniger an der Wirkung der Musik, ist also ein reiner Insider-Diskurs. Und es geht natürlich irgendwie auch um Schwanzvergleiche: die besonders versierten Interpretierten (oder die, die sich dafür halten) sagen dann gerne, dass ein bestimmtes Stück von Ferneyhough ja eigentlich superleicht sei, und zeigen damit, was für coole Säue sie sind. Vielleicht empfinden sie diese Leichtigkeit auch, genauso wie der Professor der 50 Jahre lang intensiv sumerische Schriftzeichen studiert hat es auch leicht findet, diese zu lesen. Aber die anderen 99,9999% der Menschheit eben nicht. Soll man sich auf sein Fachwissen so viel einbilden?

Neulich hörte ich die hervorragende Schlagzeugerin Sabrina Ma mit dem „Mount Everest“ der Schlagzeugliteratur, nämlich „Bone Alphabet“ von Ferneyhough. Sie spielte auswendig und soweit ich beurteilen kann ziemlich genau und gut vorbereitet. Das Stück hat absolut seinen Reiz, klingt aber – und ich weiß, dass jetzt die Ferneyhough Total Devotion Group einen gequälten Schrei loslassen wird – wie relativ beliebiges Rumgeklöppel. Mir gefällt die Machart des Stückes, denn es entsteht durchaus eine interessante rhythmische Polyphonie. Ich höre da gerne zu. Aber danach sitze ich auch nicht mit offenem Mund staunend da. Es klingt eben nicht wirklich anders wie vieles andere Rumgeklöppel, das ich schon in Neue Musik-Konzerten gehört habe.

Ebenso ging es dem Publikum bei den Homburger Kammermusiktagen (wo Sabrina das Stück spielte). Das war ein sehr freundliches und aufgeschlossenes Publikum, aber eben kein Expertenpublikum, das die hundert Instrumentationshandbücher mit spannenden Partiturbeispielen von Ferneyhough kennt. Höflicher Applaus, aber eben kein Jubel, der die große Leistung von Sabrina Ma gebührend anerkannt hätte. Bei einem Neue-Musik-Publikum wäre das sicherlich anders gewesen.

Aber was ist das für eine seltsame Idee: Wir schreiben Musik, die nur bei einem Publikum bewundert werden kann, das Insiderinformationen besitzt, die nur in einem Jahre währenden intensiven Musikstudium erlangt werden können? Und die auch nur dann wirklich gewürdigt werden kann, wenn man die Metaebene kennt, also die zugrundeliegende Partitur, die überhaupt erst zeigt, dass jetzt gerade nicht etwas eine frei notierte, sondern eine fucking EXAKT notierte Passage realisiert wurde? Was beim Hören allein übrigens nicht im Geringsten zu erkennen ist.

Was ist das für ein seltsamer Geheimkult, der solches verlangt? Warum wird hier die geheime Ebene höher geschätzt als die Wirkungsebene? Was ist das überhaupt für ein Quatsch?

Wenn wir Architektur beurteilen, schauen wir uns a) das Gebäude an und beurteilen dessen Wirkung, betreten es vielleicht, gehen ein bisschen darin herum um zu erleben, wie der Architekt hier mit Raum und dessen Proportionen umgegangen ist? Oder b) studieren wir erst ein paar Jahre Architektur um zu lernen, wie man Baupläne liest, gehen dann in das Architekturbüro und verlangen, die genauen Grundrisse des Gebäudes zu sehen und erst dann zum Gebäude selber, quasi als Nachgedanke? Ich denke mal wohl eher ersteres.

Wenn wir einen Film zum allerersten Mal auf DVD schauen, schauen wir uns erst stundenlang nur die Extras an, informieren uns auf wikipedia und imdb detailliert über die Dreharbeiten, die verschiedenen Versionen des Drehbuchs, die Umbesetzungen? Oder schauen wir nicht vielleicht zuerst einmal den Film und wenn er uns gefallen hat, vielleicht auch die Extras? Mal abgesehen davon, dass man früher ohnehin NUR DEN FILM schauen konnte (vor Internet und DVDs), und das war eigentlich auch ganz ok.

Ich wage mal zu behaupten, dass der Ruhm von Ferneyhough ohne Internet und youtube, ohne Instrumentationshandbücher und online-Diskussionen ein viel geringerer wäre, denn die Verbreitung der für seine Musik so wichtigen Metaebene wäre dann zu gering. Das ist keine Sünde, und man kann an Ferneyhough dennoch Qualitäten finden, aber vielleicht würde es alles in die richtige Perspektive rücken, wenn man nicht dem falschen und letztlich unendlich banalen Götzenkult der Notation frönt. Wenn man sich mit dem beschäftigt, was tatsächlich zu hören ist. Und das ist bei Ferneyhough erstaunlich brav und auch ein bisschen harmlos, keineswegs so extrem und radikal, wie viele gerne tun. Es fehlt seiner Musik die Rebellion gegen irgendetwas, sie bricht nichts auf, sie reibt sich an nichts, sie ist Selbstzweck. Manchmal ist sie richtiggehend spießig in ihrer Überdifferenzierung und Gelehrigkeit.

Ein befreundeter Pianist sagte einmal zu mir, dass er Ferneyhoughs Musik zu simpel fände. Und zwar nicht zu simpel was die Spielbarkeit angeht, sondern zu simpel, was das musikalische Grundmaterial angeht, wenn man mal die ganze Komplexität wegdenkt. Er musste es wissen, denn er spielte sehr viel Ferneyhough. Und tatsächlich: wenn man sich Ferneyhough genauer anschaut, gibt es eigentlich eine relativ überschaubare Anzahl von Gesten und Einfällen, die sich endlos wiederholen, nur manchmal ist es halt eine 11iole und manchmal eine punktierte 17iole (gegen 4,5 Viertel). Manchmal ist es dichter, manchmal ist es weniger dicht. Toll.

Wie interessant Ferneyhoughs Musik sein könnte, wenn sie nicht ihrer eigenen Komplexität huldigen würde, hat Johannes Kreidler ironisch schon 2010 in seiner „Darmstadthymne“ gezeigt, in dem er Ferneynoughs Streichquartett mit einer banalen automatisierten Begleitung von „Band in a Box“ kombiniert. Plötzlich wirken die einleitenden abbrechenden „Neue Musik“ – Gesten der Violine richtig ausdrucksvoll, da sie die enervierende Muzak beherzt stören. Es entsteht eine Mehrschichtigkeit, ein doppelter Boden, eine Kommunikation von musikalischen Ebenen, die dem Originalwerk von Ferneyhough gänzlich abgeht, Insofern hat uns Kreidler – quasi als Witz – gezeigt, wie Ferneyhough wirklich spannende Musik schreiben könnte.
Schade, dass Ferneyhough es nicht so wirklich tut.

Moritz Eggert