Made in Marzahn – Folge 4
20 Jahre Neue Musik im Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf an der Hans-Werner-Henze-Musikschule in Berlin / 40 Begegnungen mit Komponistinnen und Komponisten – eine persönliche Chronik ( Folge 4: 2013-2019 )
Gewidmet der Erinnerung an Hans Werner Henze, Matthias Kaul, Klaus K. Hübler und Georg Katzer
2013-2019
21 ) In memoriam Hans Werner Henze
Im Herbst 2012 war unser Mentor, Freund, großer Meister und steter Begleiter in Rat und Tat Hans Werner Henze gestorben. Im Frühjahr 2013 gedachten wir seiner gemeinsam mit der neu gegründeten Freien Jugendorchesterschule Berlin von Martina Feldmann beim „Klangwelten-Festival“ im FEZ Wuhlheide, in dem wir die „trauermusik / musica boscareccia / in memoriam Hans Werner Henze“ von Jobst Liebrecht zur gemeinsamen Uraufführung brachten. Alexander Kens am Cembalo und Jonathan Schneider an der Posaune waren die Solisten. Das Orchester orientierte sich mit Blockflöten, Gitarren, viel Schlagwerk und der Einbeziehung aller Spieler auch mit elementaren Spielfähigkeiten an der „Pollicino“-Besetzung.
Jobst Liebrecht, trauermusik / musica boscareccia / in memoriam Hans Werner Henze (UA,2012/2013)
Foto von Hans Werner Henze im Eingang der Musikschule Marzahn
22 ) Tobias Schwencke
2013 kam es zu einer lustigen Begegnung mit Tobias Schwencke beim Schloss Festival in Schwerin, der im Auftrag der Hamburger Hip-Hop-Academy und des Festivals Hip-Hop-Nummern für uns orchestriert hatte: „Hamburg! Berlin! Schwerin, seid Ihr da?“ Nach anfänglicher Reserve vieler klassikbegeisterter OrchesterspielerInnen merkten alle, dass a-moll wirklich gut klingt und dass das Hip-Hop-Grundtempo einen so richtig erdet.
Tobias Schwencke, „Wir sind lost!“ und andere Hip-Hop-Nummern für Orchester (2013, UA)
23) George Dreyfus
Im selben Jahr 2013 organisierten wir mit Unterstützung der Grünen Mitte GmbH ein Jugendorchesterfestival im Freizeitforum Marzahn. Für uns war der Höhepunkt dabei die deutsche Erstaufführung der „Symphony No. 3 – for community action“ von George Dreyfus mit großem Chor, Solo-Gitarre und großem Orchester, in dem uns einige befreundete MusikerInnen vom Rundfunksinfonieorchester Berlin (RSB) verstärkten. Der famos-engagierte Berliner Lehrerchor mit Thomas Hennig sang von den Balustraden des Freizeitforums herunter. Unvergessen auch George´s eigene Mitwirkung am Fagott bei der Aufführung seiner „Sebastian the Fox“-Fassung für Fagott-Quartett!
George Dreyfus, Symphony No 3 – for community action” (DE)
George Dreyfus im Freizeitforum Marzahn, 2013
24 ) Susanne Stelzenbach, Georg Katzer, Peter Közeghy beim „Pyramidale“-Festival in Marzahn
Ebenfalls in 2013 wurde unser Orchester eingeladen, ein eigenes Konzert beim Pyramidale-Festival in Marzahn-Hellersdorf mit Uraufführungen zu bestreiten. Die Festivalleiterin Susanne Stelzenbach schrieb für uns ein pfiffiges Stück, das „Die grüne Schachtel“ hieß. Ich erinnere besonders einen Teil darin, in dem das ganze Orchester mit grünem Papier aus dem Copyshop herumrascheln musste. Das hatte Susanne in der Probe selbst verteilt. Peter Köszeghy steuerte ein kurzes emotionales Stück in c-Moll bei: „full moon float“ . Die größte der Uraufführungen bei der Pyramidale war ein ausgedehntes neues Orchesterstück des Altmeisters Georg Katzer für uns, das „Incontro“ hieß. Ein elektronischer Part, eingespielt vom Tonmeister Andre Bartetzki, traf ausgefeilt und pointiert auf ein groß besetztes Orchester, in dem drei SchlagzeugerInnen – wie immer bestens betreut von unserer Dozentin Prof. Sanja Fister – einen guten Teil der Arbeit verrichteten. Georg Katzer war wunderbar gutmütig und wohlwollend, als er zu Proben in die Pappelhofschule kam. Zuvor durfte ich ihn bereits zuhause in Zeuthen besuchen, und er gab mir nicht nur Tipps für seine Partitur, sondern steuerte diverse Schlagzeuginstrumente wie Metallketten, Rasseln aus Johannisbaumschalen aus seinem Fundus selbst bei. Auch zeigte er mir sein Elektronikstudio, in dem er alle Klänge erfunden hatten, die in „Incontro“ auf uns prallen sollten.
Susanne Stelzenbach, Die grüne Schachtel ( UA, 2013 )
Peter Köszeghy, full moon float ( UA, 2013 ), Edition Juliane Klein
Georg Katzer, Incontro ( UA, 2013 )
Mit Georg Katzer nach der UA von „Incontro“ , Marzahn 2013
25 ) Robyn Schulkowsky/Charles Ives, Daniel Ott und Wolfgang Mitterer auf dem Kollwitzplatz
Im Juni 2014 wurden wir zur Teilnahme an einem riesigen Openair-Gemeinschafts-Neue Musik-Konzert des Vereins Singuhr Projekte von Carsten Seiffarth auf den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg eingeladen.
Mitorganisator Daniel Ott komponierte für eine Ansammlung von verschiedenen Blasorchestern sein „1/6 – Wasserturm I-III “. Alle Bläser unseres Orchesters nahmen an diesem den Hügel des Kollwitzplatzes erstürmenden Stück teil. Ich lief wie bei einer Bläserparade immer meiner Truppe voraus – alles koordiniert durch Stoppuhren
Fotos hier: https://www.flickr.com/photos/singuhr-projekte-berlin/albums/72157648545364166/
Noch spektakulärer war das fast einstündige Großwerk „labyrinth 14/1“ von Wolfgang Mitterer. Neben einem Männer-Schreichor, der brüllend über den Platz lief, einem Kreuzberger Nasenflötenorchester, das fast meditierend auf der Wiese saß, Trompeten, die aus den umliegenden Altbauwohnungen hervorspielten, nahmen auch wir teil mit einer ausgeklügelten Choreographie, bei der wir wieder genau nach Stoppuhr losgingen, losspielten, pausierten usw. Zusammengehalten wurde der Klang-Koloss durch wummernde, gleißende Elektronikschnipsel, Zuspiele aus klassischen Werken.
Fotos hier: https://www.flickr.com/photos/singuhr-projekte-berlin/albums/72157648189234969/with/15491791501
Höhepunkt aus Marzahner Perspektive waren die Probenbesuche im Pappelhof der berühmten Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky, die mit zehn SpielerInnen des Orchesters , assistiert von Axel Meier einen Schlagzeugpart an Metallstangen für „Life Puls Prelude“ , ihre Fassung der „Universe Symphony“ von Charles Ives einstudierte. In einem großen Halbkreis um den Rasen auf dem Kollwitzplatz wurde dieses Stück dann mit gefühlt der halben Berliner Schlagzeugerzunft aufgeführt.
Fotos hier: https://www.flickr.com/photos/singuhr-projekte-berlin/albums/72157648192366920/with/15471760666
Daniel Ott, “1/6- Wasserturm I-III” ( UA, 2014 )
Wolfgang Mitterer, “labyrinth 14/1” ( 2014, UA, ein Kompositionsauftrag der Siemens-Musikstiftung )
Charles Ives/ Robyn Schulkowsky, Life Pulse Prelude, UA der Fassung der Universe Symphony for multiple orchestra, Peer Music Verlag
26 ) Jobst Liebrecht in Schloss Biesdorf
Eine besondere Idee wurde im Herbst 2014 verwirklicht: Zur Wiedereröffnung von Schloss Biesdorf als Ausstellungsort und Museum vergab der Bezirk einen Kompositionsauftrag an mich, der dem Baugewerke, den Handwerkern dort gewidmet sein sollte. Mit einer Gruppe aus der Musikschule hatten wir einen Ortstermin auf der Baustelle, und dabei lose im Vorübergehen tauchte die Idee auf, dass die Bauhelme, die wir alle tragen mussten, doch als Instrumente für das geplante Stück genutzt werden könnten. So entstand die erste Idee für mein Orchesterwerk „8 voices to build a house“. Hierbei spielen 8 Violinen immer begleitet von 8 SpielerInnen an Bauhelmen, Metallstangen und summenden Elektrogeräten einen ausgedehnten Kanon. Bei der Einstudierung machte ich eine tiefgreifende Erfahrung: Zora, eine Cellistin jammerte, dass der Rhythmus (ständiger Taktwechsel, viele 7/8-Takte) und die struppige Melodie so sehr schwer ins Ohr gingen. Zuhause dachte ich darüber nach und entschloss mich, dem ganzen Ablauf ein zusammenhaltendes Continuo mit Gitarre, Bass und Klavier mit Pop-Akkorden zu unterlegen. Für die Entwicklung meines Personalstils war diese Lösung eines ganz realen Desiderats von ganz großer Bedeutung, und „8 voices“ wurde ein großer Erfolg. Es wurde auch ein Jahr später nochmal von uns im Foyer der Berliner Philharmonie aufgeführt.
Jobst Liebrecht, 8 voices to build a house” ( UA ) Verlag Neue Musik Berlin
27 ) Lothar Voigtländer
Wir holten in diesem Jahr 2014 auch die Uraufführung eines weiteren Pyramidale-Orchesterwerks nach, „SI VIS PACEM“ von Lothar Voigtländer, ein Bekenntniswerk für Sopran und Orchester, das gerade heute eine besondere Aktualität hätte. Wir spielten dieses Stück in einem Festkonzert zum 25jährigen Jubiläum des Mauerfalls im November 2014 in der sogenannten Alten Börse Marzahn, einem neu entstandenen, mittlerweile leider wieder geschlossenen Konzertort.
Lothar Voigtländer, SI VIS PACEM, Recital für Sopran und Orchester ( 2013, UA )
28 ) George Dreyfus
George, mit dem uns mittlerweile eine Freundschaft verband, schrieb uns ein Jahr später in 2015 zum 10jährigen Orchesterjubiläum eine kleine „Festmusik für Marzahn“, mit der das Jubiläumskonzert feierlich eröffnet wurde.
George Dreyfus, Festmusik für Marzahn (2015, UA)
Jubiläumstorte 10 Jahre JSO, 2015
29 ) Violeta Dinescu
Im selben Konzert war die Komponistin Violeta Dinescu bei uns in Marzahn zu Gast. Wir spielten ihre „Memories“ für Streicher, eine zauberhaft.-stimmungsvolle Erinnerung an die Folklore-Musik ihrer Kindheit in Rumänien
Violeta Dinescu, Memories ( 1981 )
30 ) Jobst Liebrecht
Im Jahr 2016 hatten wir nur mehr ein Kammerorchester. Ich versuchte, das Beste daraus zu machen, indem ich eine „Kammersinfonie Nr.1 / Amiga, no te mueras“ auf Gedichte von Pablo Neruda für die Gruppe komponierte. Ein Stück, das wir in dem Jahr gleich mehrfach aufführten. Drei wunderbare Gesangssolistinnen Tamara Soldan, Francesca Tidoni, Anna Laetizia Masson führten es an. Soli an der Oud und an der Gambe/Fiedel kamen hinzu und begleiteten sie. Dieses Stück wurde einige Jahre später zur Grundlage meiner „Sinfonie Nr. 4 / Uspallata“.
31 ) Dindy Vaughan
Zwei Australienreisen 2015 und 2017 brachten mich zurück voller neuer Eindrücke und Erlebnisse. Von meiner australischen Freundin Dindy Vaughan spielten wir 2017 zwei wunderbare und nicht schwere Orchesterstücke „Spring Tide / Wilson´s Promotory“ und „Australian Raven“.
Ich selbst hatte aus Australien mein eigenes neues Kinderstück „APPLES“ mitgebracht, das das Nachwuchsorchester, das seit Anbeginn von mir zusammen mit Birgit Thiele betreut wurde, ebenfalls mit großem Spaß aufführte.
Dindy Vaughan, Spring tide / Wilson´s Promotory, Australian Autumn Music
Dindy Vaughan, Australian Raven, Australian Autumn Music ( DEA )
Jobst Liebrecht, APPLES, Verlag Neue Musik Berlin ( DEA )
Das JSO beim Classic Openair 2018 mit Marjolaine Locher ( Violine )
32 ) Jobst Liebrecht beim Classic Openair
Die Situation des gefühlten Auf-sich-selbst-Zurückgeworfenseins in Marzahn versuchte ich 2017/18 quasi mit einem Handstreich zu durchbrechen. Ich schrieb meine 16minütige „Sinfonie Nr. 2 / Concertante“ für das große Classic Openair-Festival. Ich inkludierte in die Partitur zwei „TUTTI HOCH“ und „TUTTI TIEF“-Stimmen, mit denen MusikerInnen mit nur elementaren Fähigkeiten problemlos mitspielen konnten. Diese Partien studierte ich mit dem Schulorchester des Melanchthon-Gymnasiums in Hellersdorf ein. Endlich war die Bühne wieder so richtig voll! Angeführt alles von der wunderbaren Violin-Solistin Marjolaine Locher. Die Live-Aufführung wird mir immer als die dramatischste meines bisherigen Lebens in Erinnerung bleiben. Sintflutartigeartige Niederschläge hatten das Konzertprogramm für eine Stunde unterbrochen. Es war unklar, ob wir auftreten können. Jederzeit hätte es wieder zu regnen anfangen können. Die Moderatorin sagte mir nur, wenn sie hinten mit dem roten Kleid auftauchen würde während des Stückes, müssten wir sofort die Bühne verlassen. Ich meinerseits hatte bereits einen Tonmeister engagiert, der zwanzig Mikrofone auf der Bühne verteilt hatte. Wie durch ein Wunder kamen wir durch. Wie durch ein Wunder ist diese Uraufführung meiner 2. Sinfonie als Tondokument erhalten. Aber das Drama hinterließ seine Spuren bei allen Beteiligten.
Auch in Folge versuchte ich, durch kleine interessante Kammermusikbesetzungen den Funken bei den Jugendlichen am Leben zu erhalten und gezielt Förderung zu betreiben. Mein Stück „arpa, assistentes y atriles“ enthielt zum Beispiel eine Solo-Harfe, SpielerInnen an Notenständern ( alles basierend auf eigenen Ideen des Nachwuchsorchesters! ) und einen Geräusch-Chor.
Mein Stück „le tombeau de paravelvan“ hatten zwei Geigen-Soli, zwei Gesangs-Soli, eine Bassgruppe und zehn SpielerInnen, die auf ihrem Handy Ravelmusik abspielten ( …NB. In diesen Jahren begann es so richtig loszugehen mit den Handys bei den Proben… )
Und zuletzt schrieb ich auf Wunsch der jungen MusikerInnen kurze Portraits ihrer Personen, 16 kleine Stücke für Streicher, woraus man schon ersehen kann, wie klein das Orchester inzwischen geworden war, die„16 playful players“.
Jobst Liebrecht, Sinfonie Nr. 2 / Concertante für Solo-Violine und Orchester , Verlag Neue Musik Berlin
Jobst Liebrecht, arpa, assistentes y atriles , Verlag Neue Musik Berlin
Jobst Liebrecht, le tombeau de paralvelvan, Verlag Neue Musik Berlin
Jobst Liebrecht, 16 playful players, Verlag Neue Musik Berlin
Merkwürdigerweise setzte für mein Gefühl dann mit der Corona-Zeit ab 2019/2020 ein Umdenken in Teilen der Musikschule ein. Man erkannte, wie wichtig ein ENSEMBLE ist. Man sehnte sich nach Gemeinschaft eines Orchesters, umso mehr, als wir die ersten Proben mit einzelnen Musikern getrennt abhalten mussten. Man setzte wieder ein größeres TEAM von Lehrern ein, die die Orchesterarbeit gemeinsam betreuen sollten.
( Fortsetzung folgt )