Der Ohrwurm des Diktators
Seit meiner Jugend hege ich eine geheime Leidenschaft für die Musik von Heitor Villa-Lobos. Damals waren es die berühmte „Aria“ aus den Bachianas brasileiras Nr. 5 und andere Stücke mit mehreren Violoncelli, die mich als Cellisten begeisterten. Später seine Gitarrenmusik und seine expressiven Lieder. Und dann traten seine Orchesterwerke auf mich zu mit Höhepunkten wie den Bachianas brasileiras Nr. 2 oder dem fulminanten Choros Nr. 10.
Warum das so war mit meiner Begeisterung? Dem kam ich neulich vielleicht weiter auf die Spur. Wie schon zuvor hatte mich mal wieder eine meiner Villa-Lobos-Phasen gepackt. Ich erinnerte mich dunkel und fieberhaft an ein zauberhaftes Chorlied von ihm, das ich einmal gehört hatte, forschte im Internet herum und fand es auch ziemlich schnell wieder. Es heißt „Canto do pagé“. Hier eine hübsche Fassung mit einem holländischen Frauenchor:
Das „Dumdididum“ der Begleitung gibt es auch als Fassung mit einem Blasorchester – und natürlich gibt es in dieser Ensemblefassung dann auch schöne Schlagzeugparts wie so häufig bei Villa-Lobos.
Die Melodie beginnt, gut gebaut, mit Ohrwurmqualitäten in klarem C-Dur. Eine erhebende Wendung nimmt das Stück mit einer plötzlichen polyphonen Zeile in a-moll zu folgendem Text:
„O Tupan, Deus do Brasil
Que o ceú enche de sol
De estrelas, de luar e de esperanca!
O Tupan, tira de mim a saudade!
Ahanga me far sonhar
Com a terra que perdí
Oh Tupan, Gott Brasiliens,
Der den Himmel mit Sonnenschein füllt
Mit Sternen, mit Mondschein und mit Hoffnung!
Oh Tupan, erlöse mich von der Wehmut!
Ahanga ließ mich träumen
Von dem Land, das ich einst verlor.“
In der Erinnerung stehen die beiden Teile des „Canto de page“ in derartiger Konkurrenz, das man sich im Nachhinein nicht entscheiden kann, welcher der beiden das Stück klarer charakterisiert. Der erste Teil hat das Sagen, er hat den Grundrhythmus des Liedes und auch die Grundtonart. Aber stop mal, sagt die Erinnerung sofort, war das Lied nicht doch hauptsächlich in Moll? Der Mollteil ist mehrstimmig und er schwingt sich auf – seine Mehrstimmigkeit trägt sich dann auch in den wiederholten ersten Teil hinein, lässt die Grenzen verschwimmen.
Die Melodie selbst verträgt durchaus auch einen einstimmigen Vortrag ohne jede Begleitung a capella wie in dieser Fassung der ikonischen Elizeth Cardoso eindrucksvoll zu hören ist
Ihre Einprägsamkeit und Autarkie war von Villa-Lobos bewusst gewählt und geschaffen worden. Und diese bewußte Einfachheit hinterlässt bei mir großen Eindruck. Sie war Teil seines Großprojekts „Canto orfeonico“, mit dem er während der Jahre der Vargas-Diktatur von 1930-1954, versuchte, die brasilianischen Massen musikalisch zu alphabetisieren. Mithilfe eines Systems von Handzeichen, seinem sogenannten „manisolfa“, wurden Menschenmengen, die der Noten nicht kundig waren, an das gemeinsame Singen von Liedern herangeführt. Dieses geschah in Lehrveranstaltungen, Großchortreffen oder am Anfang von Versammlungen, aber auch im allergrößten Maßstab mit bis zu 40 000 Mitwirkenden in ganzen Fußballstadien

Quelle: MIS – Museu da Imagem
Und hier war es aber auch, dass der wie man sagt ansonsten völlig unmusikalische Diktator Getulio Vargas die Qualitäten des Liedes entdeckte und es ab da für seine Zwecke einsetzte! Es wurde auf sein Geheiß fortan immer von der gesamten Menschenmenge vor seinen Reden gemeinschaftlich gesungen!
Diese Information hinterlässt bei mir als Deutschem ein Schlucken im Hals. Das hübsche brasilianische Chorlied, das ich entdeckt hatte, war das Lieblingslied eines Diktators und spielte eine aktive Rolle als zentraler Bestandteil des Propagandasystems einer Diktatur?! Sage niemand, Musikstücke hätten nicht ihre geheime Geschichte!
Ich bin dem weiter nachgegangen. Villa-Lobos diente sich dem neuen Regime von Vargas auf einem Tiefpunkt seiner beruflichen Karriere an, der dem von Richard Wagner kurz vor der Rettung durch König Ludwig gleichkommt. Nach anfänglichen Promotionstouren durch ganz Brasilien, bei denen er sich nach eigener Auskunft die Finger als Cellist blutig spielte und dauerkrank war, wurde ihm kurze Zeit später die gesamte Leitung des Kulturprogramms des Canto orfeonico übergeben. An dem damals durchaus auch noch kritische Intellektuelle mitwirkten. Es kennzeichnet Villa-Lobos, das er durch seinen gesamten Werdegang glühend daran glaubte, Brasilien müsse sich aus eigener Kraft und eigener Anstrengung aus der kolonialen Umklammerung lösen und das Wissen des alten Europa selbsttätig beerben. Wie in einem eigenen, sehr persönlichen Handstreich nahm Villa-Lobos dafür quasi als Gipfelpunkt der europäischen Tradition die Musik von Bach zur Urpause, die er direkt unter die brasilianischen Klänge legte. Explizit tat er dieses in der berühmten Reihe seiner Bachianas brasileiras, aber auch in seinem ganzen anderen Schaffen wie zB. seiner Streichquartetten ging er häufig so vor, und seine vielleicht sogar übergroße Ambition tritt ganz deutlich vor Augen, wenn man erfährt, dass er auch in seinem „Canto orfeonico“ die notenunkundigen Menschengruppen zur Bildung Bach singen ließ.
In dieser großen Ambition ist Villa-Lobos als Kind der mit Hilfe von Bildung aufsteigenden Mittelschicht einem anderen großen Cellisten-Komponisten des 20 Jahrhunderts, Arnold Schönberg verwandt, der sich ebenfalls alles, wie er immer wieder hervorhob, selbst beibringen musste.
In dieser Hörprobe, die ein wertvolles Tondokument ist, leitet der Komponist temperamentvoll und wie immer mit vollem Einsatz einen Chor, der u.a. bei Min. 12´19 das von ihm von es-moll nach c transponierte Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier zur Erbauung und Bildung singen soll:
Ich verspüre an diesem Punkt eine große Sympathie für den „Maestro“, wie er immer angeredet werden wollte. Es ist dieses Element des Aus-dem-Nichts-aus-dem Boden-Stampfens, das mich als Pädagogen begeistert. Die politische Rolle insgesamt, die Villa-Lobos ab 1930 als Kulturminister unter Vargas gespielt hat, möge die Wissenschaft weiter aufarbeiten.
Zu vergleichen wäre zum Beispiel in seiner Gegensätzlichkeit oder auch Gemeinsamkeit sein pädagogisches Engagement mit der Tätigkeit, die Paul Hindemith in den 30er Jahren in der Türkei für Kemal Atatürk ausführte.
Auch wird Villa-Lobos immer wieder verschiedener Plagiate bezichtigt. Ich würde sagen, in dem Dunstkreis zwischen Salons, Sambakneipen und Choros-Kapellen, in dem er groß geworden ist, wurde dieses Thema großzügig behandelt. Aber wer weiß, vielleicht taucht auch noch irgendwann ein Nachweis auf, dass die Melodie dieses „Canto de page“ ursprünglich gar nicht von ihm stammt?
Strawinsky wird der Ausspruch zugeschrieben: „Good composers imitate; great ones steal!“. Und ich erinnere mich auch an den Stoßseufzer, den Hans Werner Henze mir gegenüber getan hat: „Andere waren viel begabter als ich, aber ich ließ die Dinge stattfinden.“. Das ironische Understatement des aus Westfalen stammenden Henze hätte Villa-Lobos bestimmt weggelassen, vielleicht so: „Keiner war in Brasilien begabter als ich, und ich ließ die Dinge auch noch stattfinden!“
Wer zum Beispiel käme auf die Idee, ein Orchesterwerk für Klavier und Orchester zu schreiben, das er Arthur Rubinstein widmet, und das dann als einsätziges Werk länger als eine Stunde dauert? Dieses Werk ist der „Choros Nr.11“, uraufgeführt 1942. Er liegt immer noch lediglich als handschriftliche Partitur vor. Das Stück sprengt den Rahmen. Es wartet auf seine Wiederentdeckung im größeren Maßstab, auf Verschiebung der Koordinaten, auf veränderte Hörgewohnheiten, die plötzlich entdecken, was für eine Verbindung von Klassik und Pop hier bereits damals im Jahr 1942 mitten im 2. Weltkrieg im entfernten Rio de Janeiro stattfand:
( Jobst Liebrecht, 30.12.2025 )
