Wie ich versuchte, den „I´m not in Love“-Trick nachzumachen

„I´m not in love , so don´t forget it. / It´s just a silly phase I´m going through…“

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„When this came out in the summer of 1975 people listened to their radios without headphones and I remember being at the beach and there were a hundred little radios all over the beach tuned to the same radio station, playing this song, so as you walked along you could hear it just slightly, all the while you walked, like one long continuous play on all those tiny radios. It was magical.“ ( Internetkommentar eines Hörers )

„I´m Not in Love“ war der ohne Zweifel größte Hit der britischen Artrock-Band 10cc, die im Jahrzehnt nach den Beatles in den 70er Jahren versuchte, deren Staffelstab weiterzureichen:

Der Song bleibt jedem im Gedächtnis nicht nur durch den sehr witzigen Text und die überaus eingängige Melodie – nein, vielmehr ist es der einmalige Klang, der dieses Lied sphärisch durchzieht und der ihn immer und überall sofort wiedererkennbar macht. Dieser Klang ist sozusagen sein Markenkern, er hat etwas Magisches an sich. Als Jugendlicher war ich der festen Überzeugung, in meinem Unterbewussten sollte ich dazusagen, dass dieser Klang von den damals neuartigen Synthesizern erzeugt wurde. Vor einiger Zeit wurde ich eines Besseren belehrt, als ich folgendes überaus amüsante und anregende Making-Off-Video zu dem Song bei YouTube entdeckte:

Sehr sehenswert ist ebenfalls diese Doku:

Voller Faszination konnte ich dort erleben, wie dieses Mysterium meiner Jugend, eben dieser magische Klang des Liedes sich vor mir in seiner Entstehung aufklärte. Ich konnte endlich mit Sachkenntnis verfolgen, wie aus einer eingängigen, ja einfältigen Songidee von Eric Stewart, die alle vier Bandmitglieder zuerst als seichten Bossa-Nova abspielen wollten, durch eine Folge von wahren Geisterblitzen ein Pop-Kunstwerk nach und nach sich entwickelte. Der erste Geisterblitz bestand darin, das Lied zuerst komplett ohne Instrumente aufzunehmen, nur chorisch. Aus dem „nur chorisch“ entstand dann – ich vermute, hier muss die Kenntnis damals moderner E-Musik etwa von Ligeti oder Penderecki eine Rolle gespielt haben – in einer weiteren unvermuteten Idee das Konzept sich vielfältig überlagernder Stimmen, die ein chromatisches Total abbilden . Der eigentliche Erfinder dieser Chorvision, Bandmitglied Kevin Godley nennt es in seinen Beschreibungen immer einen „Tsunami of voices“.

Doch nicht nur Geisterblitze waren da vonnöten, sondern in Folge auch noch mechanische Kunstgriffe der abgefrickeltesten Art. Auf der Suche nach einem ewig fortdauernden, quasi unendlichen Klang, erfand Bandmitglied Lol Creme einen Weg, das Tonband, dessen Schnipsel sie von Hand fortlaufend aneinander klebten, über Mikrofonständer einen meterweiten Weg als eine Art Möbiusband zurücklegen zu lassen, um immer wieder an den Anfang zurückzukehren. Hierdurch wurde auf mechanische Art ein unendlicher Klangstrom produziert.

Pop wäre nicht Pop, wenn er nicht die reinen Harmonien suchen würde. Und es war ein weiterer musikalisch-mechanischer Geistesblitz, dass sich alle vier Bandmitglieder an das Mischpult setzten und in einer ausgeklügelten Choreographie ihrer Hände aus diesem auf die Kanäle gezogenen chromatischen Gesamt-Ton-Arsenal mit den Reglern einzelne Dur und Moll-Akkorde hervorleuchten ließen – was insgesamt in einer einmaligen Mischung von Klarheit und Unklarheit mündete.

Ich vermute, diese einmalige Klangmagie hatte ihre Ursache in dem durch und durch analogen Verfahren, in dem sie in dreiwöchiger, konzentrierter Arbeit erfunden und hergestellt wurde. Und irgendwo kam das damalige Tonstudio in dem ganzen Vorgang wie zu sich selbst.

Ich kann das beurteilen, denn ich habe in meiner Faszination und angeregten Begeisterung versucht, diesen Chorklang meines einstigen Liebling-Songs heute mit unseren modernen Mittel nachzumachen. Hierzu rief ich an einem Probenvormittag meine jugendlichen OrchesterspielerInnen und einige erwachsene Begleitpersonen zusammen und ließ mir zusammen mit dem Tonmeister Till Rotter von ihnen alle chromatischen Töne zwischen G und g´´als gesonderte Aufnahmen einsingen. Till hat diese dann in seinem Schneideprogramm katalogisiert. Und am Ende hatten wir eine gesampelte „Chor-Orgel“, die nun in Tills Computer für immer zur Verwendung zur Verfügung steht.

Der so produzierte Klang bildet an der zentralen Stelle meiner 5. Sinfonie eine Art synthetischen  Chor, der als meditativer Ruhepunkt das Orchester ablöst. Wie „Voces intimae“ des gesamten Ensembles, das nicht mehr an den Instrumenten tätig ist, aber auch nicht live singt, sondern in einer entfremdeten Art und Weise sich in Klang quasi immaterialisiert.

Synthetisch allerdings ist das heutige Resultat schon irgendwie. Dieses muss an dem digitalisierten Daten liegen, die die heutigen Mischprogramme aus den aufgenommen Klängen errechnen. Es klingt definitiv anders als der 10cc-Chor. Es klingt auch gut und zauberhaft, aber es klingt nicht mehr magisch.

Ich habe den Klang noch einmal direkt am Anfang meiner 6. Sinfonie Tic Tac verwendet – nur zum Vergleich:

Ich verneige mich und ziehe meinen Hut vor Eric Stewart, Graham Gouldman, Kevin Godley und Lol Creme von 10cc, die mir mit ihren Erfindungen von 1975 in „I´m not in Love“ den Anstoß dazu gegeben haben.

Kurz nach ihrem Superhit trennten sich ihre Wege. Eric Stewart und Graham Gouldman machten weiter als 10cc, hatten auch noch einige Erfolge wie „Dreadlock Holiday“. Später arbeitete Eric Stewart intensiv mit Paul McCartney zusammen. Lol Creme und Kevin Godley dagegen bildeten ein experimentelles Duo und waren später maßgeblich am Entstehen der Musikvideokunst in England beteiligt.

( Jobst Liebrecht, 15.7.2025 )

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