Bach in Lüneburg

– ein Heimatgruß an Himmelfahrt.

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Neulich hörte ich den sarkastischen Ausruf: „Bach – der würde jetzt wahrscheinlich AFD wählen!“

So sehr ist Thüringen momentan in Verruf gekommen. Ja, würde er das ?

Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen.

Mit vierzehn Jahren wurde Bach Anfang des Jahres 1700 weg aus der Enge und Geborgenheit seiner Heimat in Thüringen zum Zwecke der Bildung an ein von Adeligen gefördertes Eliteggymnasium in Lüneburg empfohlen. In einem tagelangen Fußmarsch wanderte er dorthin,  in die unmittelbare Nähe der damals größten deutschen Metropole und Hafenstadt Hamburg. In Lüneburg perfektionierte er nicht nur weiter sein Orgel- und Violinspiel, sondern studierte sowohl die Bauweise der damals größten deutschen Orgeln in Norddeutschland, wie er auch die damals modernste virtuose wie die alte Komponierkunst für diese Instrumente kennenlernte. Bach war von einem unersättlichen Wissensdurst beseelt.

Dieser Wissensdurst bezog sich nicht allein auf die Musik, sondern als erster seiner weitverzweigten Familie, die bekanntlich fast durchwegs aus Stadtpfeifern und Kirchenmusikern bestand, besuchte Bach eben ein humanistisches Gymnasium, wo er in der Regel alle Fächer als Klassenbester abschloss. Diese Bildung war ihm später so viel wert, dass er u.a. auch deswegen gern von Köthen nach Leipzig umzog, um seinen Söhnen dort eine universitäre Bildung zu ermöglichen. Er selbst war in seiner Leipziger Zeit in regem Kontakt mit den Gelehrten der damals größten deutschen Universität, und es war ihm unendlich wichtig, in diesen Kreisen nicht bloß als „Musicant“ sondern ebenfalls als Musikgelehrter, „musicus doctus“, und Virtuose eine ehrenwerte Reputation zu haben.

Als Kind der damaligen barocken Zeit waren für ihn Naturwissenschaft und Theologie kein Gegensatz. Neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse – in der Musik zum Beispiel die Entwicklung der wohltemperierten Stimmung – wurden von ihm genauso rezipiert und angewendet, wie er auch in seine Lutherbibel lange schriftliche Kommentare und eigene Gedanken an den Rand schrieb.

Zugestanden, Bach war bestimmt Zeit seines Lebens immer auch in der Lage, quer zu denken, und er hat sich für seine Prinzipien häufig einmal mit der Obrigkeit angelegt, gipfelnd in seinem berühmten Gefängnisaufenthalt in Weimar. Dieses geschah aber vor dem Hintergrund, dass er die Vernunft und eigene Autonomie und Selbstbestimmtheit gegen Unterdrückung und Gängelung verteidigte in der Tradition eines aufrechten Protestanten.

Bach in Lüneburg 1700, wie müssen wir uns das vorstellen? Als einen über die Maßen aufgeweckten Jugendlichen, dessen bester Kumpel und Reise- und Schulgefährte Erdmann später Diplomat in Preußen werden sollte. Beide treffen in Lüneburg auf das weltoffene Milieu einer Handels- und Hansestadt. Vieles kommt dort von fern her, ist heute würde man sagen: multikulti. Noch heute gibt es dort zB. schöne Kaffeegeschäfte. Wenn Bach von Lüneburg in die Metropole Hamburg reiste, das ist überliefert, hatte er nicht genug Geld für die Rückfahrt. Er blieb in der Hafenstadt länger als erlaubt. Er lernte den alten Orgelmeister Adam Reinken an der Katharinenkirche kennen. Er bekam wahrscheinlich länger Unterricht von ihm als geplant. Er besuchte wahrscheinlich auch die neue Oper, so wie er später gern von Leipzig zu diesem Zweck nach Dresden gereist ist. Er hatte wahrscheinlich Unterricht in Lüneburg bei  Meister Georg Böhm, von dem uns einige wunderbare Kompositionen erhalten sind. Überliefert ist auch eine Begegnung mit Buxtehude in Lübeck, für die er sich später unerlaubt länger von seinen mitteldeutschen Arbeitsstellen entfernen sollte. Bach war schon damals ständig dabei, Kompositionen anderer Komponisten, die ihm gefielen, für seinen eigenen Besitz abzuschreiben. So hat er sich später dann auch den eingängigen und plastischen Kompositionsstil Antonio Vivaldis ganz der eigenen Musik einverleibt.

Er eignete sich ebenfalls damals die intrikaten Kenntnisse über den modernsten Orgelbau an, die ihm kurze Zeit später ermöglichten, in ganz Mitteldeutschland als gefragter Orgelexperte neu gebaute Instrumente zu beurteilen, zu verfeinern, zu verbessern. In der heutigen Zeit hätte er vielleicht vor ca. vierzig Jahren als Synthesizerentwickler mitgebastelt. Auch über die Orgel hinaus war Bach ständig an Neuerungen im Instrumentenbau interessiert, darin dem ebenfalls mitteldeutschen Richard Wagner verwandt. So war er an der Entwicklung der „viola pomposa“ beteiligt, einem Instrument zwischen Bratsche und Cello, dem man nachsagt, in der 6. Bach-Suite eine Spur des entbehrungsreichen Übens für moderne Cellisten an modernen Instrumenten ohne fünfte Saite hinterlassen zu haben.

Ganz im Gegensatz zu dem häufig kolportierten Klischeebild eines aus der Zeit gefallenen, von der Moderne überholten alten Kontrapunktisten, der für das Publikum zu verworrene Kompositionen erfand, war Bach bis zuletzt – nicht allein durch den steten Kontakt mit seinen formidablen Komponistensöhnen – mit der künstlerischen Gegenwart auf Tuchfühlung. Viele Stücke, z.B. im 2. Teil des Wohltemperierten Klaviers oder in den Gambensonaten, legen deutlich Zeugnis dafür ab, dass er die Empfindsamkeit und klassizistische Einfachheit der neuen Generation rezipierte und selbst in seiner Musik noch anwandte. Hier ist auch der Ort, um kurz an seinen überlieferten Humor zu erinnern: beim Aufstöbern von knobeligen Verzwickungen und plausibel überraschenden Wendungen in den Musikstücken pflegte er seine Söhne begeistert während des Spiels in die Seite zu knuffen.

Dieses alles hinterlässt mir ein Bild eines bis zuletzt zukunftszugewandten, modernen, wissenschaftsüberzeugten Bürgers und hochintelligenten, erfindungsreichen und humorvollen Zeitgenossen, der Bach gewesen sein muss. Sein allergrößtes musikalisches Genie mal komplett beiseite.

( Jobst Liebrecht, 29.5.2025 )

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