The Man Comes Around / Johnny Cash singt

( Foto: Carola Bark, „Do not go beyond the yellow line“ )

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Johnny Cash gegen Richard Wagner – zu diesem völlig verdrehten Vergleich ( …will ich hier etwa  U gegen E in Stellung bringen?… ) hatte ich mich an dieser Stelle bereits einmal  ( …in dem Blogbeitrag „Bayreuth in Berlin“ …) hinreißen lassen. Da kann man ja nun wirklich fast nichts vergleichen. Was soll das also? ( … das wahre E gegen U könnte man Einfach gegen Unklar nennen… )

Bach hatte an Vivaldi studiert nach eigener Aussage, was „musikalisch denken“ bedeuten kann. Als Leitlinien für die Entwicklung musikalischer Gedanken benennt sein Biograph Forkel im 18. Jahrhundert für diese Errungenschaft Bachs das Konzept von „Ordnung, Zusammenhang und Verhältnis“, und wie sehr er durch die Bekanntschaft mit der Musik Vivaldis erst zu der Verbindung von Schlichtheit und Komplexität gelangt , die  ihn in Folge auszeichnete und die ja wohl ab da als höchstes Ziel aller Kompositionskunst angesehen werden kann.

Ordnung, Zusammenhang und Verhältnis bestimmen ebenso einige Meisterwerke der Pop-, Rock-, ja sogar der Countrymusik. Bei Johnny Cash finde ich immer wieder faszinierende Beispiele dafür. Spontan würde man sagen, dessen Songs seien ja nun musikalisch eindeutig auf der Seite der erhabenen Schlichtheit angesiedelt und ermangelten der Komplexität. Aber ist das wirklich so? Und wenn sie so schlicht sind, wie schaffen sie es trotzdem, uns auf doch eher komplexe Weise zum „Denken“ zu bringen?

In den letzten Sessions vor seinem Tod nahm Cash eine Fülle von fremden und eigenen Liedern noch einmal auf, meisterhaft in sparsamen Arrangements produziert von Rick Rubin. Ein Stück nimmt dabei eine Sonderstellung ein. An keinem Lied habe er jemals länger gearbeitet als an diesem, so Cash, die Komposition dieses Songs habe sich über Monate erstreckt, an denen er immer wieder geändert und weitergefeilt habe.

Es handelt sich um „The Man Comes Around“ von 2002,  bereits jetzt gut zwanzig Jahre später ein Klassiker, der bei Youtube 30 Millionen-fach angeklickt wurde:

Wenn wir uns für eine kurze Analyse erneut des von Hans Zender für Franz Schuberts Liedschaffen gefundenen Begriffs der „Chiffren“ bedienen, so führt dieser Song der Reihe nach folgende Chiffren vor:

  1. Die verfremdete Sprechstimme von Cash mit biblischen Zitaten ( Offenbarung des Johannes ). Es knistert und knackt wie in einem alten Transistorradio irgendwo auf einer abgelegenen Ranch oder in einem verbeulten Lastwagen. Diese Chiffre beendet auch den Song, erneut mit Bibelzitaten aus der Offenbarung des Johannes.
  2. Ein einsetzendes ostinates rhythmisches Motiv an der Westerngitarre, das auf einem ebenso ostinaten C-Dur-Akkord eine Art „Eisenbahn-Rhythmus“ etabliert, wie er in vielen Countrystücken ein fester Topos ist – und wie er zum Beispiel auch in der klassischen Musik bei Villa-Lobos in dessen „Bauern-Eisenbahn“ aus den Bachianas Brasilianas einen stetig-fortrumpelnde Bewegung beschreibt. The man comes around – der Mann kommt zum Abzählen, ein totalitärer, mechanischer Akt, wie in Cash bei seinem eigenen Gefängnisaufenthalt erlebt haben dürfte. Das Ganze gestaltet sich unaufhaltsam. Dieser treibende Rhythmus ist die zentrale Chiffre des Songs.
  3. Dazu erzählt Johnny Cash, einsetzend auf der Terz, von der als einer Art „Berichts-Ebene“ der Gesang,  hier mehr eine Art Sprechgesang , sich immer wieder irregulär auf die Tonika C heruntersenkt: „There’s a man goin‘ ‚round takin‘ names / And he decides who to free and who to blame“… Diese Teile, die ich ebenfalls als eigene Chiffre bezeichnen würde, sind bewußt lakonisch und lapidar.
  4. Plötzlich nach einer Weile fährt eine im Forte volltönende Kadenz hinein: a-moll – F-Dur – G-Dur – C-Dur, die zum Ende der Titelzeile „When the man comes around“ führt. Sie ist von immenser Wirkung, da es sich um den ersten und fast einzigen Vorgang des Songs auf harmonischer Ebene handelt. Plötzlich einsetzende tiefe Basstöne des Klaviers entfalten hier noch dazu ein mächtiges Eigenleben.
  5. Es folgt eine „Aufschwungszeile“, weiterhin ostinat in C-Dur, die sich vom Rest des Songs nur dadurch unterscheidet, dass die Quinte g von unten wie eine Anrufung, wie eine Erhebung angesteuert wird, gesteigert durch die Hinzufügung der Sexte. Hier kommt zu der Zeile „Hear the trumpets / hear  the pipers“ lediglich eine immer wieder hervorgehoben angespielte offene G-Saite ins Spiel. Ein treffendes Beispiel für „Weniger ist mehr“ in der Kunst, denn es wäre für Cash und seine Produzenten ja ein leichtes gewesen, hier einige Instrumentalisten aufzufahren. Diese Aufschwungszeile löst einen zweiten harmonischen Gang über F und C zu einem Orgelpunkt auf der Dominante G aus.
  6. Dann allerdings folgt plötzlich als refrainartiger Höhepunkt auf der Subdominante F die rätselhafte Zeile „And the thorntree is in a whirlwind“ ( Den Dornenbusch durchfährt ein Wirbelwind ) mit dem Gesang auf der hohen Oktave c. Diese Zeile ist der Kern der Vision dieses Songs. Johnny Cash hatte den Satz so ähnlich nach eigenem Bekunden geträumt, auf höchst merkwürdige , ja fast lustige Weise:  Er betrat im Traum den Buckingham-Palast, wo Queen Elizabeth in einem Stuhl auf ihn wartete, strickend, und ihm dieses mit den Worten erklärte: „Johnny Cash, you are a whirlwind in a thorn tree!“

Von Chiffre 3 über 5 zu 6 haben wir in der Gesangsstimme, gut sortiert wie in einer Heinrich Schütz-Psalmvertonung oder einem Kirchenchoral, einen etappenweisen Aufstieg von der Terz über die Quinte zur oberen Oktave.

Auf harmonischer Ebene besteht das Stück nur aus den drei Hauptfunktionen mit der Tonikaparallele a-moll als größtem Ereignis . Das, was zum musikalischen Denken anregt,  ist die Setzung , die stattfindet, wenn in einem ostinat andauernden C-Dur eine erweiterte Kadenz jedes Mal nur dann entschlossen eingebracht wird, wenn sie den Titel des Songs sozusagen einläutet: „When the man comes around“ – und wenn die einsetzende Dominante, die aus „Multitudes are marching to the big kettledrum“ erfolgt, eine Art Aufruhr entstehen lässt.

Sowohl auf melodischer als auch harmonischer Ebene haben wir fast gußeisern gut gebaute einfache Strukturen. Geringste Veränderungen haben maximale Aussage. Ein neuer Akkord kommt nur, wenn er unbedingt notwendig ist. Das kann man schlicht nennen, und  das Stück wird dadurch noch nicht komplex. Komplex  wird es, wenn diese basisorientierte Einfachheit der musikalischen Struktur sich mit zwei weiteren Ebenen vermischt:

  • 1.  Mit der Ebene des Textes, einem durchaus komplizierten Gedichttext von Johnny Cash mit  dichten biblischen Bildern und einer fast brutalen Evozierung eines unausweichlichen Geschehens von großer Rätselhaftigkeit:

„And I heard, as it were, the noise of thunder
One of the four beasts saying,
‚Come and see.‘ and I saw, and behold a white horse“

There’s a man goin‘ ‚round takin‘ names
And he decides who to free and who to blame
Everybody won’t be treated all the same
There’ll be a golden ladder reachin‘ down
When the man comes around

The hairs on your arm will stand up
At the terror in each sip and in each sup
Will you partake of that last offered cup
Or disappear into the potter’s ground?
When the man comes around

Hear the trumpets hear the pipers
One hundred million angels singin‘
Multitudes are marchin‘ to the big kettledrum
Voices callin‘, voices cryin‘
Some are born and some are dyin‘
It’s alpha and omega’s kingdom come
And the whirlwind is in the thorn tree
The virgins are all trimming their wicks
The whirlwind is in the thorn tree
It’s hard for thee to kick against the pricks

Till armageddon no shalam, no shalom
Then the father hen will call his chickens home
The wise man will bow down before the throne
And at his feet they’ll cast their golden crowns
When the man comes around

Whoever is unjust let him be unjust still
Whoever is righteous let him be righteous still
Whoever is filthy let him be filthy still
Listen to the words long written down
When the man comes around

Hear the trumpets hear the pipers
One hundred million angels singin‘
Multitudes are marchin‘ to the big kettledrum
Voices callin‘, voices cryin‘
Some are born and some are dyin‘
It’s alpha and omega’s kingdom come
And the whirlwind is in the thorn tree
The virgins are all trimming their wicks
The whirlwind is in the thorn trees
It’s hard for thee to kick against the prick
In measured hundredweight and penny pound
When the man comes around.
 

„And I heard a voice in the midst of the four beasts
And I looked, and behold a pale horse
And his name that sat on him was death, and hell followed with him“1.

  • 2. Mit der Ebene des Gesangs, mit der Vortragskunst des Sängers, der am Ende seines Lebens über einen schier unerschöpflichen Vorrat an kleinen Tonfärbungen, Dehnungen, Wortverdeutlichungen verfügt und diesen auf fesselnde Weise bei diesem Song einsetzt.
  • Und letztendlich bleibt es 3.  das Geheimnis vieler Kunstwerke, dass schon ihr ursprünglicher Impuls ( bei Cash nach eigener Aussage dicht an seinem Traum von Queen Elizabeth angesiedelt ) bereits ein Ereignis von großer innerer Komplexität ist. In dem zentralen geträumten Ausdruck von dem „thorntree in a whirlwind“ fühlte sich Cash derart existenziell angesprochen, dass er den damit verbundenen „Feel“ in  Verse getränkt von biblischen Zitaten einbettete. Mit der eigentümlich verfremdeten Nachricht am Anfang und Ende des Songs wollte er in vollem Bewusstsein etwas sich selbst Transzendierendes einführen, eine Verfremdung seiner eigenen Person, wie sie  im Tod geschieht. Jetzt, zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod, spricht Cash selbst dort zu uns wie eine Stimme aus dem Off. Durchaus pathetisch und heroisch nach einem auf erlittenem Kampf gegründeten Leben, ist sein Song in allem von Ordnung, Zusammenhang  und Verhältnis bestimmt, man könnte sagen: ein barockes Kunstwerk. Was er sagt, ist durchaus nicht beruhigend, sondern auf komplexe Weise unruhestiftend. Es ist eine Nachricht von den letzten Dingen von großer Dringlichkeit, und insofern vielleicht doch nicht in allem so gegensätzlich zu Richard Wagner, wenn man sich z.B. dessen „Siegfrieds Tod“ dirigiert von Klaus Tennstedt anhört – auch in c:

 

(Jobst Liebrecht, 16.5.2025 )

 

PS: In der ARD-Mediathek gibt es eine kurze anrührende Doku über Johnny Cash und seine künstlerischen Anfänge in… BAYERN (!) zu sehen: https://www.ardmediathek.de/video/capriccio/fotos-von-johnny-cash-in-landsberg/br/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdC9GMjAyNFdPMDA2MzEzQTAvc2VjdGlvbi9jNDI1MzRjZS0zNDU1LTRhOGEtOWRmMy1kYjU2OTM5NTJmNmY

 

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