Unvollendet / mit Schubert / durchs Leben

( Franz Schubert, nach einer Bleistiftzeichnung seines Freundes Leopold Kupelwieser )

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„Und zum zweiten Male wandte ich meine Schritte und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich abermals in ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange, lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe. So zertheilte mich die Liebe und der Schmerz.“ ( Franz Schubert, Mein Traum, 1822 )

Wenn es ein Stück gibt, das mich mein ganzes Leben als Dirigent begleitet hat, dann ist es die „Unvollendete“ von Franz Schubert. Ich möchte beschreiben, geneigte Freunde der Kunst, wie das Stück sich dabei verändert hat in meiner Wahrnehmung. Wie ich es immer wieder aufs Neue unterschiedlich durchlebt habe und durchlebe.

Als ich die „Unvollendete“ kennenlernte, war ich Cellist im Hamburger Jugendorchester. Ich war etwa sechzehn Jahre alt, hatte das Stück zwar früher schon mal auf Schallplatte gehört , mich aber sonst, wie ich immer wieder berichte, hauptsächlich mit Rock- und Popmusik befasst. Die anderen schwärmten mir jetzt von klassischen Werken vor, und zwar ganz pubertär im Sinne von: wo das eigene Erlebnis direkt anschließen kann, wo die romantischen Gefühle stattfinden, wo man so richtig mitfühlen kann durch und durch und so weiter. In meiner Erinnerung waren das damals hauptsächlich das Schumann Klavierkonzert, die Hebriden-Ouvertüre, Brahms 1. ( die wir sogar selbst spielten ) und eben die „Unvollendete“. Von der ich mir gleich eine Taschenpartitur kaufte.

Als Cellist wurde ich sofort eingeladen von der abgründig-geheimnisvollen Melodie des Beginns. Ich glaube, es war hier, dass ich feststellte, dass ich Noten, die ich in einer Taschenpartitur lese, im günstigen Fall wie gesungen in mir hören kann. Eine bedeutende Feststellung über eine Fähigkeit, die aber sogleich auf einen gewissermaßen in mir brodelnde Emotionalität traf, die die Ausübung dieser Fähigkeit über längere Strecken verhinderte, durchkreuzte, verunklarte, immer wieder zum Abbrechen brachte. Nun, Kunstfreunde, die „Unvollendete“ war hier sehr hilfreich, denn sie bot sofort und großzügig immer neue Melodien an, die ich lesend in der Partitur entdecken konnte. Wenn ich zu viel hatte von der ersten, glitt mein Auge weiter und hakte bald an einer neuen wunderschönen Wendung fest, und so immer weiter bis zum Schluss.

Beim diesem ersten Kennenlernen waren es also die MELODIEN, die ich suchte und fand, die mir entgegentraten. Es sang in mir die ganze Zeit mit, und das zweite Thema, diese heilige Ländlerweise war mir genauso bedeutsam wie das erste. Diese Melodien waren immer konturiert, sie hatten feste Begrenzungen, sie hatten  auch immer einen Kern in sich, sie waren wie dunkle Striche in einem hellen, leeren Raum. –  Umso beklemmender ist es ja dadurch, wenn das zweite Thema jedes Mal abfallend in das Nichts der Generalpause geführt wird…

Es war wenige Jahre später in Tübingen im Studentenorchester, dass ich das Stück endlich auch am Cello mitspielen konnte. Stundenlang diskutierte ich mit Mini Schulz, dem so wunderbar lebendigen Bassisten, der mit mir gleichzeitig in diesem Orchester war, die Phrasierungen kleinster rhythmischer Melodie- und Motivteile. Mini TANZTE mir einmal auch den Wallfahrtschoral aus dem zweiten Satz vor, eine bleibende Erinnerung unserer jugendlichen Begeisterung, mir immer noch vor Augen. Ich hatte mittlerweile in Hamburg bereits Jugendorchester geleitet, und fand in dem Dirigenten unseres Orchesters Nicolas Pasquet ( der später viele Generationen  als Professor an der Weimarer Musikhochschule ausbildete ) einen großzügigen Förderer, der mich bei einem Probenwochenende probehalber mal vors Orchester ließ.  Ich stellte mich wie selbstermächtigt hin, fuchtelte schwingend durch die Musik, es sah bestimmt komisch aus, aber alle spielten. „Du dirigierst eher wie ein Chorleiter“ war Nicolas´ Kommentar, durchaus auch beeindruckt. Vielleicht lag das alles ein Stück weit an diesen Melodien. Eine weitere Erinnerung aus dem Selbst-Spielen der „Unvollendeten“ am Cello ist mir der durch und durch HAPTISCHE CHARAKTER des Parts. Bedingt durch die Kreuztonarten spielt man viel in den Lagen, auch mit unbequemen weiten Griffen. Außerdem müssen  in diesem Stück alle Töne beseelt sein, es ist auch eine wunderbare Vibratoschule. Die Finger wandern schwingend hindurch und hin und her und auf und ab auf dem Griffbrett. Eine letzte Erinnerung aus dieser Zeit leuchtet auf: nach einem Konzert fuhr das gesamte Orchester aufs Land in den Rems-Murr-Kreis, und in einer sommerlichen Vollmondnacht wurde zu vorgerückter Stunde von einem kleinen spontan gebildeten Männerchor-Ensemble in einem Garten „Ännchen von Tharau“ gesungen – wirklich, liebe Artisten, kein Spaß! Auch diese volkstümliche und sehr süddeutsche INNIGKEIT verbindet sich für mich für immer mit der „Unvollendeten“.

Ich trug nun meine Taschenpartitur mit nach München, wo ich  Dirigieren studierte. Dort, das gehört auch zu meiner Geschichte mit diesem Stück, sah ich  einmal eine Aufführung der „Unvollendeten“ im Herkulessaal mit dem greisen Carlo Maria Giulini, der mich damals wie vom anderen Ende der Lebenspyramide grüßte. Es fiel mir auf, dass bei ihm im zweiten Satz der mirakulöse Übergang in das Moll-Seitenthema wie in einen tiefen ABGRUND,  allerdings weich und morbide, fallen gelassen wurde. Er erreichte es, dass von den Streichern in dem Moment irgendwie niemand mehr so genau wusste, wo er sich befand im Takt. Aber das war von ihm vollständig gewollt so. „Seien Sie niemals zu deutlich!“ ( Herbert von Karajan ). Ein ungeheurer Moment.

Ich selbst war noch jung und leidenschaftlich. Durch einen glücklichen Zufall war kurze Zeit später ein ganzes Programm des Hochschulorchesters im gleichen Herkulessaal zu bestücken. Und ich durfte dort jetzt auch selbst die „Unvollendete“ dirigieren! Ich hatte nur ganz hervorragende Bläser im Orchester sitzen, die mittlerweile in ganz Deutschland allererste Positionen bekleiden. Insofern lief alles wie selbstverständlich für mich. Ich hatte das Stück inzwischen ja auch zum Dirigieren auswendig gelernt. Der Herkulessaal tat das übrige. Wenn ich ein Wort für mein damaliges Erlebnis mit der „Unvollendeten“ finden sollte, so war es LEIDENSCHAFT. Ich versuchte, die ungeheure Dramatik, die das Stück auch besitzt, auf eine mir eigene schlanke Weise stattfinden zu lassen. Darüber spannte sich der alpenländische Himmel, der dieser Musik bestimmt förderlich ist.

Kurze Zeit später fuhr ich in einer schlimmen Phase meines Lebens auf eine Konzertreise nach Mendoza in Argentinien. Dort dirigierte ich auch die „Unvollendete“ mit dem dortigen Provinzorchester in einem alten, hölzernen Kinosaal. Ich habe wenig Erinnerungen an diese Aufführung, nur dass SCHMERZ das vorherrschende Element darin war. Ich dirigierte quasi mit derselben Leidenschaft wie kurz zuvor in München, nur stieß ich überall gegen Ecken, bohrte sich alles durch und durch, türmte sich der Schmerz wie ein Koloss in diesem Stück für mich auf. Bruckner war nichts dagegen. Das, was ich fühlte, wurde allerdings nicht von allen Musikern geteilt. Beim Smalltalk auf einem Empfang eröffneten mir einige von ihnen launig, sie als Südamerikaner würden Schubert und Bruckner überhaupt nicht verstehen, sondern lieber sich mit Beethoven und Mendelssohn beschäftigen. Gemeint war ein passives, episches Moment dieser Musik, die stellen- und längenweise einfach passiert wie ohne Zutun der Menschen. Dieses eben ist ein speziell österreichisches Erbe. Viele Jahre später erlebte ich ein klassisches Moment für dieses Gefühl, als ich bei einer Krisensitzung im Büro des Burgtheaters saß, und der von mir verehrte Dramaturg und Denker Hermann Beil , ein Wiener, plötzlich still wurde und nur noch seinen Blick über den Heldenplatz schweifen ließ, wo schwarze Raben im Winterhimmel kreisten –  es entstand eine Generalpause von gefühlt mehreren Minuten Länge. Es wurde aufgehört, aktiv etwas bewirken zu wollen. Es wurden die Segel gestrichen. Für einen Moment wurde demütig aufgegeben, so wie die gefalteten Hände sich der Hostie entgegenstrecken. Allerdings ohne dabei unbedingt positive Erwartungen und Aussichten zu pflegen. Die Vergeblichkeit all unseres Tuns wurde nicht beredet, sondern zeichenhaft in Szene gesetzt. Ratlosigkeit wurde mit unterschwellig grimmigem Humor zelebriert. Wien.

Wie anders war es Jahre später, als ich in Berlin gelandet war, und mit meinem eigenen Jugendorchester zum ersten Mal die „Unvollendete“ erkundete. Ich hatte mittlerweile die schön in gelb-orange gehaltene Partitur der Urtextausgabe, in die ich fleißig hineinsah beim Musizieren. Für das Auswendigdirigieren konnte ich mich auf meine jugendlichen MusikerInnen zu wenig verlassen. Ich glaube, die Aufführung glitt von allen bisherigen am meisten an mir vorbei. Ich dirigierte hauptsächlich die FORMALE ARCHITEKTUR des Werks, war ständig beschäftigt mit Nicht-zu-schnell oder Nicht-zu-langsam, kurzum ich gelangte irgendwie die ganze Zeit nicht so richtig zur Sache, der ich ja früher bereits sehr viel näher gestanden hatte . Unter den Klarinetten entstand zudem Streit, wer das Solo spielen durfte. Die Streicher schummelten sich manchmal so durch. Es war aber auch alles zu prosaisch in Berlin, der ehemalige Pionierpalast in der Wuhlheide, die „Astrid-Lindgren-Bühne“ – was hatte die „Unvollendete“ da zu schaffen?  Beziehungsweise ich, ich war hier noch nicht angekommen mit dem Stück. Und war ich selbst damals gerade überhaupt in der Lage, Schubert zu interpretieren? Ging mir das nicht viel zu nah? Als Assistent von Hans Werner Henze stand ich heftig unter dem Einfluss von Witz, Ironie und blitzender Gespanntheit in der Kunst. Da konnte der ERNSTHAFTIGKEIT bei Schubert mitunter schnell mal aus dem Weg gegangen werden – weil es zu schmerzhaft wurde.

Dann eine lange Pause, in der ich viele Jahre dem Stück nicht begegnete, es auch nirgendwo hörte. Plötzlich, auf einem Dirigierkurs vor einigen Jahren, ich saß hinten unterstützend am Klavier, kam sie Note für Note wieder zu mir heran, die „Unvollendete“. Ich stellte fest, dass ich überhaupt nicht alle Noten der Partitur kannte. Ich sah plötzlich die DETAILS, blickte selbst wie ein Komponist auf die Notenzeilen, versuchte mir alles wieder in Erinnerung rufen, wollte immer wieder auswendig einsetzen, vertat mich, spielte falsche Einsätze und falsche Noten der nicht vorhandenen Fagotte usw. usf. Alles in allem war das ein SPIELERISCHER UMGANG mit dem Material, unverzeihlich für die bigotten Klassikmenschen unter uns. Es war klar, bei dem Kurs geht es nicht um hohe Kunst. Die Fallhöhe war groß, alles wurde heruntergebrochen. Doch an einigen dieser folgende Abende kam in mir langsam wieder die ursprüngliche Vision des Stückes hervor, kam die Erinnerung.

Zuhause blickte ich in die Schubertlieder. Immer erinnert hatte mich die flirrende Geigenfigur des Anfangs an Schuberts ersten Geniestreich im Liedschaffen, sein „Gretchen am Spinnrade“ mit seiner Unruhe und zerrissenen Leidenschaft, seinen pochenden Bässen.

Aber viel weiterführend noch sind die Beispiele aus seinen Liedern, die in derselben Tonart wie die beiden Sinfoniesätze stehen!

Erster Satz h-moll: „Die liebe Farbe“, „Irrlicht“, „Einsamkeit“, „In der Ferne“ und „Der Doppelgänger“ – wer sich etwas auskennt, weiß, dass das einige der abgründigsten , verzweifelungsvollsten und ergreifendsten Lieder von Franz Schubert sind.

Zweiter Satz E-Dur: „Der Kreuzzug“ (Spielanweisung: Ruhig und fromm ), „Des Baches Wiegenlied“ und „Der Lindenbaum“ („Am Brunnen vor dem Tore…“) – hier  die religiöse Ruhe, die wir immer wieder bei Schubert finden.

Es wird klar, was für eine ungeheure Spanne trotz der so ähnlichen Gangart zwischen den beiden Sätzen besteht, was vielleicht auch erklären kann, warum die meisten das Stück als „vollendet“ im Sinne von Yin und Yang hören.

Mit asiatischen Gefühlen zu dem Stück konnte ich tatsächlich Bekanntschaft machen, als ich es im vorigen Jahr im Programm einer deutsch-koreanischen Jugendorchesterbegegnung in Yeosu in Südkorea dirigierte.  Es war dort im Oktober noch warm, und die Sonne schien auf uns so golden und milde, wie sie vielleicht auch im Wiener Herbst auf die Heurigenschenken im Freien schien, wie sie  Schubert mit seinem Freundeskreis besuchte. Der durch und durch gesangliche Charakter seiner Musik kam der Kultur der koreanischen Musikerinnen und Musikern  entgegen, alle sangen sich aus. Schwieriger war es mit dem SPRACHCHARAKTER und dem TONFALL. Ich stelle mir dazu immer den weichen, singenden Tonfall des Wienerischen vor, und finde hier zum Beispiel preußische Härte und Gestrafftheit fehl am Platz, auch wenn ich sie im täglichen Leben mitunter bevorzugen mag. „Leutselig“- darf man für Schubert dieses Wort benutzen? Ich glaube, das ginge entschieden zu weit. Immer bleibt mir im Gedächtnis die Anekdote, wie empört Schubert sich Annäherungen zweier eben leutseliger Orchestermusiker verbeten hat, er mache als Komponist im Unterschied zu ihnen KUNST! Zärtlich und sentimental, das war er wohl bestimmt. Gleichzeitig kann der Wiener Tonfall auch über eine boshafte Genauigkeit und Kleinteiligkeit verfügen. So wie ein Orchestermusiker mich einmal mitfühlend begrüßte „Grüß Gott, Herr Liebrecht, san´s immer noch da?“… Und ohne Zweifel hatte auch Hanns Eisler als Wiener eine starke Beziehung zu dieser Musik, und seine Warnung vor Dummheit in der Darbietung derselben muss dringend in Erinnerung bleiben, wenn man daran geht, sie zu spielen.

Für den Sprachcharakter braucht man nicht unbedingt das kalauernde „Frieda, wo kommst du her, wo gehst du hin, wann kommst du wieder“ der Orchestermusiker für das zweite Thema des ersten Satzes bemühen. Ich selbst hatte mir über das erste Thema mit 20 Jahren mit Bleistift geschrieben „durst / gebt mir / durst / ich hab genug davon“. Unabhängig von der literarischen Qualität dieser Zeile, die dahinsteht, brachte sie für mich damals die LYRISCHE PRÄGNANZ des Gedankens bei Schuberts Melodieerfindung zum Ausdruck, die meiner Meinung dann später erst wieder bei Arnold Schönberg erreicht wurde. Einige sprechen bei den wenigen literarischen Zeugnissen / Literaturtexten, die wir von Schubert kennen, sogar von Qualität wie bei Kafka. Es ist auch in Schuberts Texten diese ungeheure lyrische Prägnanz und Bestimmtheit zu spüren, die sein musikalisches Liedschaffen so einzigartig macht. Diese Prägnanz ist von Anfang an schon in seinem Frühwerk vollständig vorhanden und kann uns zu jeder Zeit auch aus einem kleinen Klavierstückchen von ihm wie ein Lichtblitz treffen.

Mit dem deutsch-koreanischen Jugendorchester habe ich zuletzt die „Unvollendete“ in Weikersheim in der wunderbaren neuen Tauberphilharmonie aufgeführt. Ich fand den Klang dort so wunderbar, weil das überall verbaute Holz besonders in den tiefen Streichern den Klang rund und weich hervorträgt , und weil insgesamt ein großer, leuchtender, zusammenfassender Gesamtklang von großer Wärme entsteht. Beim Dirigieren spürte ich förmlich, wie jede Stelle des Werks eine so eigene persönliche menschliche Äußerung ihres Wunderkomponisten von 1822 war. Allerdings spürte ich auch in mir selbst mit fast sechzig Jahren die inneren „feels“ dieser Musik so stark, dass mir schlagartig aufging, wie sehr dieses Werk ein TORSO ist und immer bleiben wird. Wie es magisch zwischen seinen fast fixen Ideen hin- und hertaumelt. Ich stieß selbst in der Gestaltung auf genau diese Bruchlinien, die ein unvollendetes Leben immer mit sich herumtragen wird. Es war schön, aber gleichzeitig war ich ratlos, Kunstfreunde. Nichts rundete sich dort ab, die Emotionen rannten immerfort wie ins Leere – vollendet unvollendet.

( Jobst Liebrecht, 3.11.2024 )

 

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