Made in Marzahn – Folge 2

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( Bodeninstallation Musikakademie Schloß Kapfenburg )

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20 Jahre Neue Musik im Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf an der Hans-Werner-Henze-Musikschule in Berlin / 40 Begegnungen mit Komponistinnen und Komponisten – eine persönliche Chronik ( Folge 2: 2008 )

Gewidmet der Erinnerung an Hans Werner Henze, Matthias Kaul, Klaus K. Hübler und Georg Katzer.

7 ) Hans Werner Henze

Mit meinem Lehrer Hans Werner Henze hatte mein Kontakt zur Musikschule in Marzahn-Hellersdorf eigentlich begonnen, denn für die Aufnahme seiner Kinderoper „Pollicino“ 1999/2000 hatte ich dort die Blockflöten aufgetrieben und mehrfach für Proben besucht. Er verfolgte in dem hohen Alter, in dem er sich bereits befand, mit nicht nachlassendem Interesse und großer Freundschaft alle Projekte unseres jungen Orchesters , die stattfanden. Auf der Suche nach Stücken von ihm, die wir uns vornehmen konnten, landeten wir zuerst und wiederholt bei den „Deutschlandsberger Mohrentänzen“. Henze hatte sie für das Jugendorchesterfestival in Deutschlandsberg in der Steiermark geschrieben. Der Titel bezieht sich auf die Tradition der sogenannten „Moresca“, einem wilden, mittelalterlichen Tanz ähnlich wie im Karneval. Die Tänze zeichnen sich durch viel Schlagwerk, reichen Blockflötensatz, Gitarreneinsatz und vielfältig aufgegliederte Streicher aus. Die Jugendlichen haben sie sehr gern gespielt, weil sie sie technisch quasi im Barock abholen und von dort in komplexere Harmoniezusammenhänge entführen. Ein ganz ähnliches, aber noch viel solistischer gehaltenes und schwierigeres Werk waren später Henzes „Kleine Elegien“, die explizit barocke Instrumente wie etwa einen Zink, Altposaunen oder eine Laute einsetzen und bei uns weitgehend von  Lehrern gespielt wurden. Es handelt sich um sehr wirkungsvolle, pointierte, kurze Sätze in einer lebhaften Abfolge.

Hans Werner Henze, Zwei Deutschlandsberger Mohrentänze (1978 ) Schott-Verlag, CON 203-50

Hans Werner Henze/ Andrew Parrott (Bearb.), Kleine Elegien ( 1984-85 ), Schott-Verlag, ED 9116

8) Paul Hindemith

Ich spürte weiter eine große Nähe zu Hindemiths musikalischen und gesellschaftlichen Ideen, und begab mich einen Tag lang in der Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg in der Musiksammlung auf die Suche nach weiteren Stücken von ihm. Es war dort, dass ich voller Begeisterung auf den legendären „Plöner Musiktag 1932“ stieß, jenes große Konvolut an Stücken für einen ganzen Tag lang Musik einer großen Gemeinschaft, das durch den unheilvollen Einfluss der Nazizeit weitgehend in Vergessenheit geraten war. Im Jahr 2008 haben wir uns, mit der Unterstützung von Musikerinnen und Musikern des Rundfunksinfonieorchesters Berlin (RSB) an die Erarbeitung einer von mir eingerichteten Fassung des gesamten „Plöner Musiktags“ gemacht. Es gab dort neben Orchesterstücken eine Chorkantate, ein Blockflötentrio, eine Musik nur für Blechbläser, Duette von Violine und Klarinette – war also auch in der Erarbeitung ungeheuer vielfältig, hatte sozusagen für jeden was zu bieten. Wir durften unsere Arbeit auch in der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem für den Rundfunk aufnehmen, und eine CD ist schließlich davon bei Wergo erschienen. Hier hat wirklich mindestens die Hälfte der gesamten Musikschule mitgewirkt, und das große Musikfest „Machen ist besser als Fühlen“ im Oktober 2008 war ein riesengroßer Höhepunkt unserer Arbeit in den ersten Jahren des Orchesters.

Paul Hindemith, Plöner Musiktag 1932 – nach den Quellen neu eingerichtet von Jobst Liebrecht 2008, Schott Verlag – CD bei WERGO 67282

Kantate: https://www.youtube.com/watch?v=kms3av36T3I

Abendkonzert: https://www.youtube.com/watch?v=NuPWvvPc7tM

Tafelmusik:  https://www.youtube.com/watch?v=IDx6pm5sLM4

Auf dem Dach der Musikschule: „Morgenmusik“ von Paul Hindemith, 2008

Hans Werner Henze hatte für dieses erste Musikfest unseren erfolgreichen Antrag beim Hauptstadtkulturfonds mit folgendem kleinen Gedicht unterstützt:

“Im kleinen, doch großen Marzahn

da wird mit Musik was Vernünft´ges getan:

Musik ist heilig und heilsam zugleich,

ist freundlich und lustig im ganzen Bereich,

bringt Frieden und Schönes persönlich dazu:

Natürlich bedarf´s auch ein Quantum von Subvention.

(Von nichts kommt ja nichts, das weiß man ja schon…)

Drum, Autoritäten all´, hört unseren Rat:

Marzahns Musikfest, das ist eine Tat,

wirkungsvoll, wichtig und wunderbar zart.

Spielt mit, lernt Musik wie die Omas und Kinder,

lasst den Zuschuss erklingen in silbrigem Ton:

füllt bis ganz oben den bittenden Zylinder.

Hand in Hand gehn in Marzahn Kunst und Administration.”

 ( HWH 2008 )

Und anlässlich dieses Musikfests wurde die Musikschule Marzahn-Hellersdorf 2008 feierlich in “Hans Werner Henze-Musikschule” umbenannt!

 

9) Juliane Klein, Jan Müller-Wieland, Detlev Glanert, Moritz Eggert, Helmut Oehring beim Musikfest

Juliane Klein

Ich führte mit allen ausgewählten Komponistinnen  und Komponisten für geplante Uraufführungen beim Musikfest Gespräche – mit Juliane Klein waren es die längsten und auch tiefschürfendsten. Wie passend, dass ihr wunderbares Werk für uns dann den Titel  „Tiefenbohrung 08“ bekam! Sie hatte sich in einer originellen Besetzung auf die Bedürfnisse der Musikschule speziell eingelassen, verwendete z.B. vier Saxofone und vier Akkordeons , Blockflöten und zwei Trompeten zu einem großen , vielfach geteilten Streicherapparat. Das Stück hat mich ungeheuer beeindruckt durch seine Verbindung von hochexpressivem, experimentellem Glissandospiel in den Streichern und massiven Akkorden in den Bläsern, beides durch und durch modern aus der Lachenmann-Schule kommend, mit Zwischenspielen, in denen sich das Orchester zu einer fast Tschaikowski-artigen h-Moll-Melodie emporschwang. Als besonderes Geschenk bekam ich von der Komponistin eine Ur-Form dieses Stückes als langen ausfaltbaren Leporello-Kunstdruck geschenkt.

Juliane Klein, Tiefenbohrung 08, 2008 (UA) Edition Juliane Klein

Jan Müller-Wieland

Mit Jan Müller-Wieland erlebte ich sozusagen den „Klassiker“ im Umgang mit Komponisten. Er rief mich einige Tage nach Ablauf der Frist an, er wisse nicht, ob er das Stück schaffe, er habe nichts, wie solle er das bloß hinbekommen. Drei Tage später bekam ich mit der Post die fertig geschriebene Partitur zugeschickt! Und tatsächlich, die Handschrift fließt darin quasi fieberhaft voran: „Ein Traum was sonst „ – frei nach Kafka und Kleist. Da Jan wusste, dass ich lange Zeit mit Einar Schleef gearbeitet hatte, hat er dem Orchester einen großen Sprechchor  gegeben, in dem der Anfang der „Verwandlung“ von Kafka in der Ich-Form erzählt wird, quasi als Text eines Jugendlichen, der morgens unwillig in seinem Bett aufwacht . Das brachte allen viel Spaß, und wurde auch richtig Berlinerisch dargeboten. Zuvor gibt es eine wunderschöne Traum-Musik, zu der das Stück auf eine gewisse anarchische Weise am Ende auch zurückkehrt. Ein packendes, lyrisch-dramatisches Werk mit Harfe, Mallets und schönen Horn-Soli. Wir haben es auch später noch gespielt, einmal sogar in Salzburg und einmal im Berliner Hauptbahnhof!

Jan Müller-Wieland, Ein Traum was sonst, 2008 (UA ) Sikorski Verlag/Boosey and Hawkes

Detlev Glanert

Detlev Glanert kenne ich nicht nur als arrivierten Komponisten von Opern und Orchesterwerken, mittlerweile ist er da einer von Deutschlands bekanntesten und aktivsten, sondern ich kenne ihn als Freund aus unserer gemeinsamen Zeit beim Hamburger Jugendorchester auch als begeisterten Anhänger und Aktivisten der Jugendorchesteridee. Sofort war er bereit, ein Stück für uns vorzubereiten, eine Art Traum-Musik „Nächtliche Flußfahrt mit Spottlied“ für ein großes Blasorchester. Die Blechbläser waren damals besonders aktiv im JSO, und sie sind hier groß besetzt: vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Tuba. Dazu in den Holzbläsern z.B. Saxofone, Englisch Horn, Bassklarinette. Es entstand ein ungeheuer schöner, weicher und reichhaltiger Klang in diesem Stück, der mich an die englischen Blasorchester denken ließ. Detlev kam aus seinem Komponierhäusl in Rheinsberg herübergefahren in unser Probenlager am Plauer See. Er war dort höchst begeistert von den polyphonen Hindemithchorälen aus dem „Plöner Musiktag“. Ich  spreche auch jetzt zwischendurch immer mal wieder mit ihm über die Fortschritte und Rückschläge in der Marzahner Arbeit und kann mich bei ihm immer auf Rückhalt verlassen.

Detlev Glanert, Nächtliche Flußfahrt mit Spottlied für Blasorchester, 2008 (UA),Boosey and Hawkes

Moritz Eggert

Ebenso mit meinem Freund Moritz Eggert, der sozusagen von Anbeginn in Marzahn-Hellersdorf immer wieder eingeschaltet war. Moritz steuerte für unser Musikfest voller Witz die „Symphonie 4.0 ( Fernsehballett )“ für 3 zappende Fernseher, E-Git, E-Bass und 10 köpfiges Ensemble bei. Bei diesem Stück wurden drei große Fernseher (damals noch analoge, schwerfällige, große Geräte!) von drei Spielerinnen und Spielern nach Partitur bedient. Dazu gab es viel Schlagwerk und auch weitere Besonderheiten wie eine große Mülltonne oder ein Flaschenspiel, das eigens nach Größe im Getränkemarkt zusammengestellt werden musste. Außerdem musste bei diesem Stück das Publikum am Ende mitsingen – auch eine Hommage an Hindemith.

Moritz Eggert, Symphonie 4.0. ( Fernsehballett ), 2008, (UA) Sikorski /Boosey and Hawkes

Vor der UA von „Symphonie 4.0“ von Moritz Eggert im Konzerthaus Berlin 2008 ( Foto: Jens Greif )

Helmut Oehring

Helmut Oehring kam zur ersten Probe und führte sich mit der Frage ein: „wie heißt Ihr denn so? –  Hein? Holm? das sind ja echt krasse Namen … na ja, Helmut ist auch nicht viel besser!“. Gezielte Herausforderungen, Überforderungen, Verwirrungen (…für das Violoncello notierte er mitten im Stück mal ein tiefes H, das man nur durch Runterstimmen der C-Saite erreichen konnte…) gab es einige in seinem wunderbaren Ensemblestück „MühsamsMusike“ für Sprecher und Ensemble. Hier spielten die Fortgeschrittenen des Jugendorchesters: einige Bläser, zwei Schlagzeuger und fünf Streicher. Mit einem Sprecher, dem Schauspieler Oliver Urbanski, der die Gedichte und Schüttelreime von Erich Mühsam rezitierte: „Otto, Otto, lerne dein Gedicht…“ so ging es los. Als Besonderheit hatte Helmut im Stück auch ein Zitat von dem alten DDR-Komponisten Kurt Schwaen eingebaut, den er bewunderte und der seit der DDR-Zeit weiterhin im Bezirk lebte. Ich habe seitdem auch noch andere tolle Projekte mit Helmut gemacht und freue mich immer, wenn ich ihn treffe!

Helmut Oehring, MühsamsMusike, 2008 (UA) Boosey and Hawkes

10 ) George Dreyfus

Meine persönliche und bis heute sehr innige Freundschaft mit George Dreyfus begann mit einem Brief aus Australien, der einige Zeit nach dem „Plöner Musiktag“ in der Musikschule auf den Tisch flatterte. George stammte aus Elberfeld, lebte auch einige Jahre in Berlin und konnte 1938 auf Veranlassung seiner Eltern nach Australien fliehen, um der Verfolgung zu entgehen. George hatte von unserer Unternehmung im Schott-Journal gelesen, und er empfahl mir in geschwungen-verschnörkelter Handschrift seine eigenen Stücke, die in dieselbe Richtung zielen würden: Kinderkantaten, Kinderopern, pädagogische Werke. Eine innere Stimme sagte mir: öffne dich für diese seine Ideen! Und schon im selben Jahr führten wir sein so sehr lustiges „Sebastian, der Fuchs“ beim Tag der Musikschulen in der Philharmonie auf. Und für eine zweite Aufführung in der Pappelhofschule war George sogar selbst aus Australien da! Er kam ganz selbstverständlich nach Marzahn, denn er war auch schon zu DDR-Zeiten auf Hanns Eislers Spuren in Ost-Berlin gewesen, hatte sogar damals einen eigenen Stasi-Mann als Überwachung, bei dem er dann später Trauzeuge wurde. George Musik hatte ab da großen Einfluss auf mich, denn sie zeigte mir, dass man mit Charme, Witz und großer Nostalgie auch heute künstlerisch überzeugend tonal komponieren kann.

George Dreyfus, The Adventures of Sebastian the Fox, Australian Music Centre

George im Park beim Haus der Kulturen der Welt , 2015

11) Tim Reckling, Hannah-Theresa Wappler, David Albrecht

Nicht nur ich selbst komponierte mittlerweile immer mehr für unser Orchester, sondern ich ermunterte auch die Jugendlichen, ganz im Sinne meiner Bauhausidee aktiv zu werden. Mein erster Kompositionsschüler in Marzahn war Tim Reckling. Er kam mit Orchesterpartituren zu mir, die stark von der Filmmusik beeinflusst waren, aber einen ganz eigenen Tonfall besaßen. Wir spielten als Uraufführung seine „Vier flüchtige Gedanken in einem Traum“ beim Classic Openair. Danach verschwand Tim irgendwie, kehrte nach Jahren nochmal kurz wieder, ich weiß nicht, was er jetzt macht. Hannah-Theresa Wappler war Oboistin im Orchester und mir von Anfang an als eine Person mit eigenem Willen aufgefallen. Sie schrieb aus eigener Initiative für uns das Stück „Safie pace e lume“, in dem sie ihre Erlebnisse als Helferin in einem rumänischen Kinderheim verarbeitete. David Albrecht war viele Jahre Geiger im Orchester. Er schrieb etwas ganz Besonderes, eine Neuvertonung des Georg Trakl -Gedichts „Täglich kommt die gelbe Sonne über den Hügel“ für den Kinderchor der Förderschule am Pappelhof, in deren Aula wir seit Beginn der Orchesterarbeit proben durften. Ich erinnere, wie ich David die Vertonung von Anton Webern zeigte mit der Bemerkung, für den Chor der Pappelhofschule sei das in der Art und Weise viel zu schwer, er solle das mal etwas leichter gestalten. Das ist ihm wunderbar gelungen. Als besonders poetischen Moment habe ich in Erinnerung, dass Helferinnen für den Chor zur Erinnerungsstütze immer Tafeln mit den gemalten Wörtern des Trakl-Gedichts („Trauben“, „Sonne“ usw.) in die Luft hielten.  PS. David setzt sich heute übrigens als Ortsbürgermeister für den Stadtteil Weimar-West ein, der wie Marzahn-Hellersdorf in Plattenbauweise errichtet worden ist!

– Fortsetzung folgt –

 

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