Wie ich Hänsel und Gretel auf der Bühne der Staatsoper dirigierte

Über Träume und Verwirklichungen in der Kunst.

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Ich glaube, jedes  bürgerliche Kind wächst in Deutschland mit dem Märchen von  Hänsel und Gretel auf. Wenn ich ehrlich zu Euch bin, Freunde der Kunst,  ich persönlich habe es immer gehasst. Hänsel sollte im Ofen gebraten werden. Vorher sollte er gemästet werden. Seine Schwester rettet ihn dann. Mitten im Wald. Und auch die Opernstimmen auf der Kinderplatte, die wir aus der DDR geschenkt bekamen, habe ich nicht so wirklich gemocht. Kunstvoll- künstliche, sirenenartige, vor allem aber  unverständliche  Klänge voller Vibrato drangen an mein Kinderohr zu diesem Märchen, das ich immer nur als grauenhaft und dramatisch erlebt hatte. Und dass die Hexe am Ende in den Ofen geschoben wurde, machte die Sache ja überhaupt nicht besser.

 

Zeitschnitt. Mein Studium in München. Ich als Student der Dirigierklasse. Teil der Ausbildung das Korrepetieren, das Begleiten von Sängern bei Opernproben am Klavier. Ich war eingeteilt für „Hänsel und Gretel“-Proben in einer alten Fabrikhalle. Es war Oktober/November 1996, und ich hatte aus anderen Gründen die schlimmste Zeit meines Lebens. Trotzdem saß ich dort jeden kalten Nachmittag an einem alten, maroden Flügel und spielte „Brüderlein, komm tanz mit mir“. Dazu hüpften und possierten zwei jungen Opernsängerinnen, unter ihnen die wunderbare Laura Aikin, um einen ärmlichen Tisch herum. Von mir dazu immer wieder dieselben Akkorde, immer wieder dasselbe deutsche Mittelmaß-Tempo, nicht zu schnell, nicht zu langsam, so wie bei Wagner eben, frisch gelernt. Zwischendurch war auch mal  Zeit zum Träumen von der Karriere. Und dann der Auftritt des Vaters „Trallalala, trallalala, heißa Mutter, ich bin da“.

 

Wieder Zeitschnitt. Ankunft in der Realität, Berlin 2024. Zwei meiner Jugendorchester, das Nachwuchsorchester und das Jugendsinfonieorchester der Hans-Werner-Henze-Musikschule sollen zusammen am „Tag der Berliner Musikschulen“ teilnehmen. In der Staatsoper! Mit „Hänsel und Gretel“! Der Auftritt soll aber leider nur einige Minuten umfassen. Wegen des großen Erfolgs im letzten Jahr mit „Karneval der Tiere“ soll wieder eine Zusammenarbeit mit einem Kindertanz-Projekt in einer Marzahner Grundschule damit verbunden werden. So ein Kindertanzprojekt müsst Ihr Euch, geehrte Artisten, ungefähr so vorstellen, dass die Schulklasse aufgereiht wie bei einem Klassenausflug  die Bühne betritt, und dann alle zusammen genau die Bewegungsänderungen ausführen, die ihnen gemeinsam möglich sind. Also kleine Drehungen wie beim Square-Dance oder etwas Klatschen oder solche Dinge eben. Aber es ist sehr niedlich natürlich, und es bringt mir eigentlich auch sehr viel Spaß.

 

Wegen des strikten Zeitlimits werden mir von der Musikschule zwei Nummern von „Hänsel und Gretel“ vorgegeben: „Brüderlein, komm tanz mit mir“ und der „Hexenritt“. Ich schmeiße mich zuerst  mit meinem Nachwuchsorchester, alle so etwa zwischen 7 und 12 Jahre alt, in die Erarbeitung hinein. Wie in fast allen Musikschulen spielen wir Stücke wie diese nur aus den soliden Arrangements eines süddeutschen Verlags. Es gibt da für alle Beteiligten variable C-Stimmen, B-Stimmen usw.- die F-Stimme für das eine Horn, das wir haben, muss ich schnell selbst schreiben, und dann kann es auch schon losgehen. Wir proben so einige Monate an den zwei Stückchen herum, später sollen die Größeren dazukommen. Ich lerne jede kontrapunktische Wendung in den beiden Stücken kennen. Bei jedem Staccato-Punkt die Frage: kriege ich das den Kindern noch beigebracht? Nicht zu vergessen auch die grundsätzlichen Fragen des Stils… und überhaupt: wie rustikal darf es klingen, was macht das Publikum noch mit? wie leise kann die Trompete überhaupt spielen, bis zu welchem Grad von hübschem Spiel kann ich die kleinen Geigen überhaupt motivieren?

 

Wir treffen auf die Kindertanzgruppe. Mit Klebebändern wird die Tanzfläche für sie abgegrenzt. „Brüderlein“ ist in unserer Version zu schnell für die Kindertanzgruppe. „Hexenritt“ dagegen zu langsam und massiv, es sind ja alles nur ganz kleine Hexchen, die da über die Bühne hoppeln. Okay, ich passe meine Tempi an. In zwei weiteren Proben versuche ich, das Nachwuchsorchester an diese neuen, den Erfordernissen der Kindertanzgruppe geschuldeten Tempi zu gewöhnen. „Hexenritt“ geht bereits leicht in Richtung einer Karikatur, aber sei´s drum, die Sache will´s.

 

Die Korrespondenz in meinem Email-Programm bezüglich unseres baldigen Auftritts nimmt jetzt ständig zu. Ein netter Koordinator der Berliner Musikschulen schreibt wiederholt flehentliche Mails, man möge bitte umgehend einen Orchestersitzplan  schicken. Nun ja, Sitzplan ist wohl nicht das richtige Wort dafür, denn durch die vielen Umbauten und Platzmangel wird bestimmt: das Orchester soll auf der Bühne der Berliner Staatsoper lieber stehen, die Celli natürlich ausgenommen. Das große Nachzählen beginnt: wer spielt denn überhaupt mit, wer steht jetzt an dem Wochenende dort, wer ist nicht gerade mit den Eltern verreist oder beim Sportfest oder woanders. Die Chancen auf rege Beteiligung sind eigentlich gut, denn wer möchte nicht auf die Bühne der Staatsoper. Einigen sind die Stücke aber noch zu schwer. Wir landen bei 55 Personen, darunter auch einige Lehrer, Erwachsene und eine Aushilfe am Kontrabass. Von dem Dirigenten der benachbarten Musikschule bekommen wir einen Stage-Plan. Als alter Hase lasse ich das Orchester bei der letzten Probe in der Aula schon in dieser etwas speziellen Aufstellung probieren.

 

Und ich tat gut daran! Hier kommt jetzt ein kleiner Exkurs in Dirigiertechnik. Ein Heiligtum in der sogenannten „alten Schule“ ist die Trennung von linker und rechter Hand. Die rechte Hand schlägt den Takt. Die linke gibt, sparsam dosiert oder lebhaft anfeuernd, unabhängig davon die Einsätze oder die Interpretationshinweise. Als Linkshänder ursprünglich hatte ich mit dieser Trennung immer meine Probleme.  Und, Freunde der Berge, auf der Bühne der Staatsoper hätte sie mir auch überhaupt nicht geholfen! Die Geigen nämlich standen links in meinem Rücken, die gesamte Cello-Bassgruppe stand in meinem Rücken rechts hinten, vor mir aufgereiht nur die Bläser. Ich musste also die beiden kleinen „Hänsel und Gretel“-Stücke nicht nur im eigens für die Kindertanzgruppe modifizierten Tempo, sondern auch noch mit sowohl links als auch rechts nach hinten abgewinkelten Armen in strikt symmetrischer Bewegung dirigieren! O holde Kunst!

 

Vor dem Auftritt – das war alles so geplant, damit die Nummern aufeinander zügig abfolgen konnten – standen wir übrigens alle eine halbe Stunde auf der Straße in der Sonne vor dem Seiteneingang der Oper. Super, konnten wir noch schnell unter einem Baum und auf der Vortreppe Orchesterfotos machen. Nach dem Auftritt ging´s wie in einem Schlauch zur anderen Seite aus der Oper raus auf den Bebelplatz.

 

Aber Leute: dieser APPLAUS! Dieses AUFRAUSCHEN aus den voll besetzen Rängen des Zuschauersaals der Staatsoper, dieser KLANG des Applauses! Meine Güte, daran werde ich mich noch lange erinnern.

 

Und insgesamt war es ein heiterer Vormittag! Frei nach Albert Camus: Ihr müsst euch Jobstiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen!

 

( Jobst Liebrecht, 4.8. 2024 )

 

PS. Das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf wird im Januar 2025 sein 20jähriges Bestehen feiern. Aus diesem Grund werde ich  ab September unter dem Titel „MADE IN MARZAHN“ hier in fünf Teilen eine persönliche Chronik von 20 Jahren Neuer Musik beim JSO Marzahn-Hellersdorf veröffentlichen , von 40 Begegnungen des Orchesters mit zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten  – jeden Monat einen Abschnitt.

 

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