Life During Wartime

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„This ain´t no party! this ain´t no disco! this ain´t no fooling around! “

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„Bali“ heißt das kleine Kino bei mir um die Ecke, und der Betreiber raunt mir beim Kartenabreißen mit ergriffener Stimme zu: „Vierte Reihe Mitte, da habe ich den Sound hin ausgepegelt“. Wir also dahin, versinken in den alten unbequemen Kinosesseln, außer uns höchstens 20 Leute im Saal, und dann geht´s los: der neu restaurierte und neu gemixte Konzertfilm „Stop Making Sense“ mit den Talking Heads! Gepflegte weiße Schuhe tappen über eine Bühne. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann im hellen Anzug, es ist David Byrne, stellt eine Beatbox auf den Boden, dreht sie auf, nimmt eine akustische  Gitarre und startet  mit einer zuckenden, zappelnden Performance von „Psycho Killer“, dem ersten großen Hit der Band.

Dann, ebenfalls noch pur akustisch, „Heaven“ – was für ein Lied:

„Everyone is trying to get to the bar

The name of the bar, the bar is called Heaven

The band in Heaven, they play my favourite song

Play it one more time, play it all night long…

Hier kommt die Bassistin Tina Weymouth auf die Bühne, in allem der Gegenpol zu David Byrne, man hört ihren unnachahmlich melodiösen und präzisen, ja fast klassischen Bass, der die Grundlage aller Talking Heads-Erfolge bildete. Dann wird von den Bühnenarbeitern das Schlagzeug reingeschoben, und Chris Frantz springt auf die Bühne. Jetzt geht es aber richtig los. Was für ein Drive! Auch der vierte Supermusiker, Jerry Harrison taucht mit einer zweiten Gitarre auf. Es wird  rockig, funkig. Und jetzt kommt  in den nächsten Songs nach und nach eine ganze zusätzliche schwarze Funk -Kapelle mit zwei wunderbaren Background-Sängerinnen auf die Bühne.  Und spätestens bei „Burning Down The House“ brennt dann wirklich der Saal förmlich lichterloh. (Es wird im Internet zu diesem Film bereits von tanzenden IMAX-Kinos berichtet…)

 

Ich werde in den Sessel gedrückt von der schieren Energie, die sich in Folge Song für Song weiter entfaltet, wie sie auch filmisch eingefangen  ist. Hier muss  ich einschalten, dass ich in meiner Jugend nie ein Talking Heads-Fan war. Sie waren mir wahrscheinlich damals zu bizarr und zu elementar, vielleicht auch zu intellektuell. Und auch jetzt habe ich innerlich dauernd zu kämpfen mit nervösen Anspannungen, denn wenn wir ehrlich sind: die künstlerische Person von David Byrne in seiner Jugend, wie sie hier auf mich optisch eindringt, beinhaltet auch einen ganzen Teil einer enormen Zumutung. Ungebremste Genialität, ausgelebte Verschrobenheit, düster-depressive Feuerzustände, bizarre Komik. Aber dazwischen auch immer wieder wunderbare lyrische Momente wie sein berühmter Tanz mit der Stehlampe oder der legendäre „Big Suit“, sein an das asiatische Theater gemahnende überdimensionierter Bühnenanzug, der seine Bewegungen noch spilleriger und artifizieller macht.

 

Dieser Konzertfilm wurde 1983 an drei Tagen im Pantages Theatre in Hollywood vor Publikum gefilmt von dem kommenden Regiemeister Jonathan Demme, der uns später unter anderem „Das Schweigen der Lämmer“ bescheren sollte. Neben der überwältigenden Bühnenpräsenz David Byrnes wird in jedem Moment deutlich, wie wichtig die übrigen Bandmitglieder waren mit ihren Beiträgen an Improvisation, Leichtigkeit, Erdung und nicht zuletzt Freude zu seinen bizarren Text- und Melodieideen.

 

Zusammen entstand ein einmaliger Groove, eine Sternstunde aller Live-Konzerte, der Film davon nach Meinung vieler der beste Konzertfilm aller Zeiten.

Wie sehr seine Themen in unsere heutige Zeit hineinreichen, wird mir klar an dem Song „Life During Wartime“ in der Mitte ihres Auftritts:

 

https://www.youtube.com/watch?v=v0DpBnUznd0

 

„This ain´t no party! this ain´t no disco! this ain´t no fooling around! “

ruft Byrne als Refrain ins Publikum und imitiert dabei die spastischen Bewegungen eines, der soeben erschossen wird. Er und das gesamte Ensemble sind ansonsten den ganzen Song über in pausenlos tanzender, springender Bewegung, als ob sie einen Aerobic-Kurs an der Front abhalten würden. Als Höhepunkt – woher hatte er bloß diese geniale Idee? – fängt Byrne plötzlich an, wie ein Hase den gesamten Bühnenaufbau der Band kreisförmig fluchtartig zu umlaufen. Auch hier greift die Band sofort die Idee auf, der Gitarrist feuert mit seiner Gitarre ihm hinterher.

Wer die hektische Bewegung unserer Gesellschaft vor dem steten Hintergrund von realen Kriegen künstlerisch dargestellt sehen will, sollte sich das mal angucken. Eben durchaus auch die elementare Spielfreude, die gegen die existenzielle Bedrohungslage gegen an kämpft. Ein Kommentator im Internet schreibt, genauso sei es in den 90er Jahren im Krieg in Jugoslawien gewesen. Eine andere Kommentatorin schreibt, so genau fühle sich das Leben inmitten gewalttätiger Ausbrüche in den schwarzen Ghettos Amerikas an. Und auch unsere eigene tiefe innere Irritation,. Angst und Unruhe mit dem Ukrainekrieg direkt vor unserer Tür kann sich in diesem Song wiederfinden.

 

Darüber hinaus ist der Song ein perfektes Beispiel für „less is more“: auf der Basis eines „talking blues“  etwa von Muddy Waters hat er lediglich seine zwei Akkorde A und E. Die fast gesprochene Melodie pendelt ebenfalls minimalistisch zwischen Grundton und Mollterz auf erster und dann fünfter Stufe hin und her. Mehr ist es nicht. Fünf Minuten künstlerischer Protest.

 

„This ain´t no party! this ain´t no disco! this ain´t no fooling around!“ – trotzdem tanzen alle.

 

( Jobst Liebrecht, 15. Juli 2024 – für Carola )

 

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