Eine kleine Sonnenmusik

( Myriam Marbe, Haarlem 7.2.1994, Copyright: Sophie-Drinker-Institut/ Camilla van Zuylen)

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Ein Wort für  Myriam Marbe am 9. April – heute wäre ihr 93. Geburtstag gewesen.

 

„Manchmal schreibe ich statt eines Violinschlüssels einen umgedrehten. Das heißt, Du kannst in der geschriebenen Art die Töne wählen, die Dir leichter, angenehmer zu spielen sind.“ (M.M.)

 

Vor 50 Jahren im Jahr 1974 wurde dieses zauberhafte zehnminütige Musikstück in Rumänien uraufgeführt:

Myriam Marbe, Serenata – eine kleine Sonnenmusik 

https://www.youtube.com/watch?v=Tr8TTNXN8aw

( Orchestra simfonica a Filharminij din Brasov, dirijor: Ilarion Ionescu-Galati )

 

Stellen wir uns vor, wir wären von Mendelssohns „Lied der Elfen / Lullaby“ aus dem „Sommernachtstraum“ in den verzauberten Schlaf gewiegt worden, so könnte Myriam Marbes Musik nicht nur für die Sommernacht, sondern auch für das frühe Erwachen am folgendem Morgen stehen. Vogelklänge und Klopfgeräusche in anarchischer Wildheit, sowohl von den Streichern imitiert als auch von kleinen Vogelpfeifen hervorgebracht. Darunter ein summender, an- und abschwellender Grundton, in den sich am Ende des Stückes rituelle Glocken mischen. Musikfetzen wie Gesprächsfetzen, die in einer morgendlich schräg grell erleuchteten, noch  leeren Straße von Haus zu Haus hin- und herfliegen. Ein wildes Klarinettensolo. Flirrende Klangaktionen. Ein erstes Mozart-Zitat –Kleine Nachtmusik. Triller. Ein kurzer wilder Bauerntanz, alle durcheinander. Trommeln, Kettenklänge. Wieder archaische Klopfgeräusche, diesmal auf einem großen Holzbrett, dem Toaca/ Semantron.  Immer wieder die Klarinette. Paukenglissandi. Kurze Bartok- und Sacre-Rhythmus-Aufrufe. Alles in einem freien, wellenartigen und assoziativen Wechsel. Glockenklänge . Und am Ende ein lächelndes  Zitat auf dem Glockenspielklavier „Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich“.

In wieviel Neue-Musik-Stücken wird denn Mozart überhaupt wörtlich zitiert? Ich weiß es nicht genau, schätze aber, da könnten wir bei Komponisten wie Kagel,  Berio oder Moritz Eggert landen. Ein Mut zum Collagieren, zum humorvoll Absurden muss schon vorhanden sein. Die Mehrheit greift eher zum strukturellen Johann Sebastian Bach, vorzugsweise zu dessen Tönen B-A-C-H.

Vielleicht wollte Myriam Marbe hier mit diesen Mozart-Zitaten einfach nur eine restlos positiv zugewandte, glückliche Stimmung in einem Musik-Zauberreich wiedergeben?

„Passen stilistisch alle zusammen? Meine Hoffnung ist: ja! Dies war der Zweck des Stückes: die Einheit, die alles, was schön ist, enthalten kann.“ (M.M.)

 

Dieses Stück wurde geschrieben in einer Diktatur, und es wurde uraufgeführt in einer Diktatur – in einer Nische 1974 beim Kammerensemble des Orchesters der alten Stadt Kronstadt/Braşov in Siebenbürgen/Transsylvanien. Zum Zustandekommen und der Inspiration schreibt die Komponistin selbst:

Es ist schon mehr als zehn Jahre her, dass ich auf der alten Weber-Bastei in Kronstadt bei einem Konzert dem Gesang einer Nachtigall im Kontrapunkt mit der ersten Violine eines Haydn-Quartetts lauschte. Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich immer die Sehnsucht nach jener Spontaneität  hatte, die in der Musik der alten Meister möglich war, und die prächtig und mit Freude klingen konnte – so wie in Händels „Feuerwerksmusik“ oder Mozarts „Kleiner Nachtmusik““

( Myriam Marbe )

 

Serenata – eine kleine Sonnenmusik“ kann für uns heute als Beispiel gelten, wie frei der menschliche Geist unter schlimmer Unterdrückung agieren kann. In der Kunst fallen mir spontan die schönen und verspielten Kunstwerke ein, die die Bauhaus-Weberinnen und -Künstlerinnen Otti Berger oder Friedl Dicker-Brandeis in der Verfolgung bis zu ihrer Ermordung in Auschwitz 1944 geschaffen haben. Oder die Collagen und Zeichnungen, die Sophie Taeuber-Arp bis zu ihrem tragischen Unfalltod auf der Flucht 1943 unaufhaltsam erarbeitete. Radikal poetische Gegenwelten hellsichtiger Künstlerinnen, über dem Abgrund balancierend.

In ihrer Musik schuf Myriam Marbe in vielerlei Hinsicht eine Gegenwelt zur staatlichen Doktrin der rumänischen Diktatur. Besonders klar erkenntlich in ihrer Notation der Takte. Nichts ist hier marschierend oder überhaupt nur rhythmisch gleichförmig. Sie löst die Takte zumeist völlig auf in gepunktete Hilfsstriche, die lediglich der Orientierung, aber nicht mehr der rhythmischen Zusammenfassung dienen.

„Diese Taktstriche stellen ANHALTSPUNKTE der Zusammenstellung dar und sind keineswegs starre Grenzen.“ (M.M.)

 Der Ablauf der Musik wird über viele Strecken  improvisatorisch den MusikerInnen in die Hand gegeben. Diese werden zu freien selbstbestimmten Subjekten. Es entsteht ein fließender Musikstrom, der assoziativ fortschreitet und nicht vorrangig über Themen gesteuert wird. Unterschwellig genauso stark äußert sich die Gegenwelt gegen alles Doktrinäre in der Tonbehandlung Myriam Marbes. Hier knüpft sie an archaische, uralte Traditionen der Ostkirche und der Volksmusik an. Sie entwickelt ein Verfahren, bei dem sich ein Anfangston über lange Zeitspannen aufsplittet in chromatische Entwicklungen.

„Die Musik entwickelt sich in „Wellen“, die einem einzigen Ton entspringen und danach immer weiter und weiter werden – gemäß dem Goldenen Schnitt.“ (M.M.)

 Sie ist dabei jederzeit in der Lage, die uralten Kirchengesänge oder auch jüdische Traditionen und Volksmusik direkt aufzurufen, ohne dass diese wie ein Fremdkörper wirken.

 

Myriam Marbe hat nach dem Fall der Mauer nur wenige Jahre des freien Reisens und der Anerkennung auch im westlichen Musikbetrieb genießen können. Sie verstarb früh im Jahr 1997. Ihre bekannteste Schülerin ist Violeta Dinescu. Zum ersten Mal dringend hingewiesen auf die Bedeutung dieser Musik wurde ich vor über zwanzig Jahren von niemand geringerem als Adriana Hölzsky, die in flammenden Worten zu mir sprach über Myriam Marbes Hauptwerk, das „Requiem

https://www.youtube.com/watch?v=OrCFQ4-L7cY

Marbes Werk wurde nach ihrem Tod von meinem zu früh verstorbenen Freund Thomas Beimel verwaltet. Myriam Marbes einzige Tochter Nausicaa Marbe ist eine bekannte Schriftstellerin und Publizistin in Holland. Das komplette Werk  Marbes wurde frei zugänglich gemacht beim Sophie-Drinker-Institut in Bremen. Dort können für Aufführungen und Forschungszwecke alle ihre Noten gesichtet und frei heruntergeladen werden

https://www.sophie-drinker-institut.de/werkverzeichnis-myriam-marbe

 

Allein der Anblick ihrer verspielt-verschlungenen Handschriften,

( hier als Beispiel die „Serenata“:

https://www.sophie-drinker-institut.de/files/Sammel-Ordner/marbe/MM1974_1.pdf )

die Myriam Marbe zumeist mit Vortragsangaben in mehreren Sprachen gleichzeitig versehen hat, gibt ein Beispiel für kreative Freiheit in jedem Augenblick ,  wie bei dem eingangs zitierten umgedrehten Notenschlüssel  , für diese rätselhafte Energie in uns Menschen, die keine künstliche Intelligenz je wird ersetzen können.

 

Möge das vielfältige, phantasievolle Musikschaffen dieser Komponistin von immer neuen abenteuerlustigen MusikerInnen jetzt und in Zukunft entdeckt und immer wieder zum Leben gebracht werden!

 

„Wie widersinnig ist es doch, dass man in einem Jahrhundert, in dem die ganze Technik der Informationsübermittlung dient, immer noch vom GLÜCK anhängig ist, um mit dem in Berührung zu kommen, was man geistig wirklich nötig hat.“ ( M.M.)

 

( Jobst Liebrecht, 9. April 2024 )

 

Alle Zitate von Myriam Marbe stammen aus dem umfassenden Buch-Porträt von Detlef Gojowy „MYRIAM MARBE – Neue Musik aus Rumänien“ aus der Reihe „Europäische Komponistinnen“, Böhlau Verlag 2007

 

 

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