Lebe wohl, Meister Péter

zum Tod von Péter Eötvös ein Nachruf von Jobst Liebrecht

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Mein verehrter Lehrer Péter Eötvös ist im Alter von 80 Jahren am Palmsonntag in Budapest gestorben. Ich will hier Zeugnis ablegen für ihn, und erinnere mich.

 

Unsere allererste Begegnung fand statt in der Münchner Musikhochschule, wo ich damals studierte, dem bekannten Nazi-Gebäude am Königsplatz und auch genau in jenem Saal, in dem das fatale Münchner Abkommen 1938 geschlossen wurde.

 

Du gabst dort im Rahmen der Münchner Biennale einen Dirigierkurs über zwei Stücke:  Strawinsky „Oktett“ und Varèse „Octandre“. Mit Deinem Auftreten, lieber Meister Péter, das darf ich sagen, bekam mein musikalisches Leben auf einen Schlag eine völlig neue Richtung.  Nicht nur lernte ich in wenigen Stunden, oder waren es sogar Minuten, von Dir die aus der Schule von Pierre Boulez stammende Dirigiertechnik aus der Hand heraus, die mich jetzt mein ganzes Leben beim Anleiten von Ensembles begleitet hat. Für mein jugendlich-unbeholfenes Sturm-und-Drang-Rudern zeigtest Du nur auf meine Hände und gabst den zentralen Rat: „Du musst nach vorn kommen!“ , und dann noch „im Arm nicht bremsen!“ und „steh schön gerade!“.

 

Alles an Dir war immer in höchstem  Maße  konzentriert, auf den Punkt gebracht. Und viel weitergehend war sofort die Begegnung mit Dir, denn als  Dirigent und Komponist in einer Person gabst Du mir endlich den Schlüssel, wie ich mich den fremden Partituren nähern kann: „Du musst jede Stelle im Stück den Musikern in der Probe vorsingen können!“. Ich weiß noch, wie glücklich ich in der nächsten Probe nach Deiner Abreise mit dem Hochschulorchester an Ravels „Le Tombeau de Couperin“ arbeitete und dafür endlich diesen Schlüssel hatte, der für mich funktionierte. Ich kam vorher aus der Karajan-Schule. Die perfekt erlernte Partitur wird in möglichst elegant-autoritative Bewegungen umgesetzt, die beim Orchester den gewünschten Klang auslösen. Giulini, Abbado, Kleiber waren unsere Heroen, der noch junge Christian Thielemann ein bereits hell leuchtender Stern. Du selbst, Meister Péter, sprachst voller Bewunderung von dem „Klangraum“ bei Carlo Maria Giulini, einem imaginären Punkt vor seinem Körper nah bei ihm oben in der Luft, in dem er den Orchesterklang durch seine Bewegungen quasi ansiedelte. Das Bild allerdings, das dort vom Dirigenten herrscht, konnte ich immer nur zeitweise erfüllen. Denn ich kämpfte gleichzeitig immer mit meinem Innenleben und meiner Phantasie.

 

Als Cellist habe ich von Anfang an sehr stark aus dem Schultergelenk dirigiert, und ich glaube, das mochtest Du trotz meiner Unbeholfenheiten irgendwie, denn Du erzähltest bei dem Kurs am nächsten Morgen, Du habest das im Hotelzimmer selbst ausprobiert, ob es denn möglich sei, einen weichen Klang nur aus dem Schultergelenk mit relativ festem Arm zu erzeugen, Du seiest da nach wie vor skeptisch. Es war also von Anfang an eine Begegnung zwischen uns. Du mit väterlicher Autorität, aber immer forschend, immer interessiert zugewandt. Ich damals hineinstürmend in die Noten: „die Führung ist immer sehr gut bei Dir!“ bemerktest Du dazu anerkennend. Und: „mit dem Musikalischen sehe ich keine Probleme bei Dir“ (in Klammern: mit anderen Dingen vielleicht…)

 

Nach diesem Schlüsselerlebnis – ich vergaß zu erwähnen, dass mit Strawinsky und Varése auch Klassizismus und romanische Klarheit in mein deutsches Musikerleben platzten – meldete ich mich zu Deinem Postgraduate-Programm für junge Dirigenten an und wurde auch prompt glücklich zugelassen.

 

Der erste Kurs fand in Wien statt, beim Klangforum. Es war mir damals und später jahrelang überhaupt nicht klar, was für einem Gipfeltreffen ich dort beiwohnen durfte. Du, Meister Péter, hast diesen Kurs zusammen geleitet mit dem großen Helmut, dem Lachenmann, so gegensätzlich zu Dir, so von Freundschaft erfüllt. Junge DirigentInnen trafen in dem Kurs auf junge KomponistInnen. Die merkte ich mir sofort alle , hatte dort höchstes Interesse für jede einzelne Person, was sie so machten. Allen voran Isabel Mundry, dann Matthias Pintscher, Konstanzia Gourzi, Stefano Gervasoni und Antonio Pileggi ( der dann später Priester wurde ). Sie brachten hoch komplexe Partituren mit, die mich an den Rand meiner Fähigkeiten führten. Ich sammelte aber beim Klangforum-Ensemble Punkte dadurch, dass ich in der Probenpause mit dem Fußball den „Cruyff-Trick“ anstandslos vorführen konnte. Es liegt in meiner Erinnerung die Heiterkeit der bedingungslosen Jugend über diesen Tagen in Wien. Wir, die TeilnehmerInnen, wohnten in einer alten Pension in der Mariahilfer Straße. Es war noch nicht lang nach der Wende, ein noch jüngerer ungarischer Dirigierstudent, den Du mitgebracht hattest, hatte sich sein gesamtes Essen aus Ungarn hergetragen, weil sein Geld fast nichts wert war in Wien. Im Konzert durfte ich Isabel Mundrys „Le Silence“ dirigieren.

 

Der zweite Kurs war in Stuttgart , und ein ebenso einschneidendes Erlebnis. Zum einen lernte ich das Ensemble Modern kennen, das dort ein Konzertprogramm erarbeitete. Besonders mit Peter Rundel quatschte ich auf dem Gang, sie waren  alle so voller Bewunderung für Dich. Zum anderen dirigierten fortgeschrittene Studenten Deines Kursprogramms beim Stuttgarter Orchester Werke Deines älteren Freundes György Kurtág. Und der war auch selbst dort. Ich konnte zuhören, wie er mit dem Ensemble Modern sein erstes Streichquartett erarbeitete und dann noch, aus Spaß, die Binnensätze aus Beethovens 8. Sinfonie. Was für ein Erlebnis. Ausrufezeichen. Im Orchester Kurtágs „Samuel Beckett: What is the Word“ und „Quasi una fantasia“. Besonders  letzteres ein bleibender unauslöschlicher Eindruck, ich durfte dieses Stück in Berlin später auch  selbst einmal dirigieren.

 

Bei diesem Kurs und diesen Konzerten in Stuttgart waren auch anwesend: Deine Mutter, Deine Kinder und Deine Frau Maria Mezei. Und ich lernte auch zum ersten Mal von Dir komponierte Musik kennen: ein Streichquartett über Mozart-Brief-Zitate und auch Dein Orchesterwerk „Psychokosmos“, das Du selbst geleitet hast. Es ist mir seitdem besonders lieb.

 

Ich wurde dann kurz darauf selbst eingeladen zum Ensemble Modern  – als Dirigent einer Uraufführung von Manos Tsangaris , denn: in diesem Stück konntest Du nicht selbst das Ensemble dirigieren, da Du selbst am Rande der Bühne als „Dirigier-Solist“ tätig warst. Ich hatte also die wahnsinnige Ehre, dass Du einmal selbst unter meiner Leitung aufgetreten bist! Auch das habe ich damals in jugendlichem Brasch überhaupt nicht entsprechend gewürdigt oder überhaupt so richtig wahrgenommen.

 

Es war aber auch zu viel los. Es passierten tragische Dinge in meinem Leben. Und auch in Deinem. Ich glaube, es warf uns beide fast aus der Bahn, wir haben einmal später darüber gesprochen.

 

Ich musste jedenfalls die Kurse in Szombathely und in Frankreich, für die ich mich bereits vollständig vorbereitet hatte und auch alles Weitere absagen. Und dann tauchte ich erstmal ab. Ich bekam Postkarten von Dir: „Aus Erfahrungen in unserer Familie können wir nur sagen, raten, Euer Gemüt auf das positivste zu halten, maximal kreativ bleiben, werden, das Leben – wie ein Gott – von oben lenken, nie zweifeln“. Ja, Du hast das immer wieder geschafft.

 

Als ich dann kurze Zeit später Assistent von Hans Werner Henze wurde, warst Du, glaube ich, erleichtert: der ist jetzt erstmal versorgt. Aber auch warnend: „Dir steht ein Balance-Akt bevor!“. Du hattest es selbst jahrelang bei Karlheinz Stockhausen gemacht. Einmal ein persönlicher Anruf von Dir in Henzes Villa  (das machte Eindruck!): ob ich Dirigent in Brasilien werden möchte, da gäbe es so eine Anfrage. Wurde dann leider oder zum Glück nichts draus.

 

Wir blieben dann immer in Kontakt. Ich habe Dich in Wien oder in Hamburg getroffen, und dann auch in Berlin. Anfang des Jahrtausends zum Beispiel, als Du Stockhausen dirigiert hast mit dem Meister selbst am Mischpult: „Peter, Peter, viel langsamer!“ Du, wie immer ruhig bleibend: „Aber Karlheinz, du hast hier Tempo 96 notiert!“ Oder jetzt noch vor ganz kurzem in der Philharmonie Dein wunderbares Geigenkonzert „Alhambra“ mit der wunderbaren Isabell Faust

https://www.youtube.com/watch?v=dbjJq0BQ5ak

Trotz Deines unglaublichen Arbeitspensums – was für ein Lebenswerk Du geschaffen hast! – hast Du  immer geantwortet. Du hast mich immer bestätigt, mir auch Zutrauen gegeben als Komponist, zuletzt: „Mensch Jobst! du bist ein richtiger Symphoniker!“

 

Sie haben Dich alle bewundert. Michael Gielen nannte Dich „wunderbarer Musiker und wunderbarer Mensch!“. Hans Werner Henze: „das ist ein sehr guter Komponist!“. Viel Berühmtere als ich werden Dich betrauern. Ich bin sicher, sie alle haben ähnlich aufleuchtende, bewegende Erinnerungen an Dich. Ich rufe Dir zu : „Lebe wohl, Meister Péter!“

 

Lebe wohl! Du lieber Freund !

Ziehe hin in fernes Land,

Nimm der Freundschaft trautes Band –

Und bewahr´s in treuer Hand!

 

Lebe wohl! Du lieber Freund!

Hör´ in diesem Trauersang

Meines Herzens innern Drang,

Tönt er doch so dumpf und bang.

 

Lebe wohl! Du lieber Freund!

Scheiden heißt das bitt´re Wort,

Weh, es ruft Dich von uns fort

Hin an den Bestimmungsort.“

 

(Gedicht von Franz Schubert: „Abschied von einem Freunde“)

 

 

 

 

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