Poröse Musik: Peter Michael Hamel – 70 Jahre

Peter Michael Hamel. Foto: Hufner
Peter Michael Hamel. Foto: Hufner

Es gibt wahrscheinlich keinen zweiten Komponisten, Musiker und Musikforscher der letzten Jahre, der so sehr offenohrig durch die musikalischen Welten gewandelt ist wie Peter Michael Hamel. Sein Denken und seine Musik sind porös: durchlässig und manifest zugleich. Er war und ist Zeit seines Lebens ein musikalischer Fährtenleser in unserem so umfassenden und chaotischen Lebensumfeld. Der Umstand, dass er weder einer musikalischen Schule zugehörig ist noch eine solche gegründet (oder begründet) hat, lässt ihn quer stehen im vergangenen wie aktuellen Musikleben – es macht frei zugleich. Es gestaltet zugleich den beschreibenden Zugang zu seiner Musik und zu ihm selbst etwas schwierig. Mit listiger Verschmitzheit taucht Hamel zwischen den Fängen diskursiver Annäherung immer ab und an anderer Stelle wieder auf. Darin nicht so fern einem Komponisten wie Josef Anton Riedl mit dem er in den 70er Jahren zusammenarbeitete oder Dieter Schnebel.

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Peter Michael Hamel. Foto: Hufner

Peter Michael Hamel. Foto: Hufner

Porösität und Durch-Lässigkeit

Die Geschichte der europäischen und amerikanischen Musik, insbesondere im 20. Jahrhundert sondiert Hamel nach Inhalten zugleich ganz praktischer Natur wie nach Einflüssen fremder Kulturen wie auch religiöser, mystischer Erfahrungsschichten. Da tauchen bunt Namen von Komponisten auf, deren Kombination musikalisch-ästhetischen Dogmatikern einigermaßen absurd vorkommen müsste. In seinem Buch „Durch Musik zum Selbst“ schaufelt er die neuere europäisch-amerikanische Musikgeschichte um, ergänzt um den Blick aus anderen Musikkulturen. Von Alexander Skrjabin über Anton Webern, von Carl Orff bis Cornelius Cardew, vom Jazz bis zu frei improvisierenden Komponistenkollektiven, von der Laien- bis zur Insidermusik. Bei der Lektüre fallen einem dann immer wieder Namen in die Hände, die man verloren glaubte wie Hans-Karsten Raecke mit seinem besonderen Instrumentenzoo oder Robert Morans „minimal art“.

Magischer Rationalismus

Hamel selbst aber wurde zugeordnet: Einer meditativen Musik (zur New-Age-Welle gehörend) oder einer Neuen Einfachheit. Damit verbunden wurde zugleich gerne der Vorwurf, eine vorrationalen Musik zu praktizieren, statt sich mit dem Material selbst (als sei es nur rational zu fassen) auseinanderzusetzen. Hamel hat das in einer autobiografischen Skizze resümiert:

„Das Denken in Kästchen und Sparten spielt(e) in Deutschland – mehr als in anderen europäischen Ländern – eine mächtige Rolle. Ich war damals nicht der einzige Komponist, der sich gegen diese Einordnungshierarchie auflehnte und keinesfalls als „Vertreter“ einer Kunstrichtung gelten wollte. ‚Musik zwischen den Welten‘ bezeichnete daher nicht nur eine Konzertreihe unserer Improvisationsgruppe Between beim Bayerischen Rundfunk zwischen 1976 und 1979. Vielmehr stand er für die programmatische Idee einer integralen oder konzentrischen Musikausübung, für die es keine elitären Ab- und Ausgrenzungen gab, sondern ein ‚inklusives Denken‘, wie es damals Wolfgang Rihm gefordert hatte.“ [Manuskript Hamel]

Aber da war Hamel schon abgeheftet – als ein musikalischer Auswanderer in die fremden Welten der außereuropäischen Musik – vielleicht als Ton-Guru. Damit war für viele die Sache durch (für mich damals übrigens auch).

Zeitlosigkeit

Ein bisschen spielte Hamel aber in der Musiksuppe der 80er Jahre durchaus mit. Zum Beispiel als Peter Pannke von Clarence Barlow im Rundfunk des nächtens ihre ziemlich genialen Einführungen in die „außerindische Musik“ gehalten hatten. Man darf die Position durchaus wechseln. Man sollte es sogar! Der Blick von außen offenbart noch etwas Weiteres. Bei außereuropäischer Musik zieht die Karte des „Fortschritts“ nicht. Der Musik eigen ist eine bestimmte Form der Zeitlosigkeit. Die Musik altert nicht nach Maßstäben eines Vorher und Nachher. Und so gibt es auch in der Musik von Hamel nicht ein stufenweises Weitersteigen, eine Entwicklung vom Differenzierten zum Nochmehrdifferenzierten oder umgekehrt.

Das Hören I

Musik als globale und universale Ausdrucksform von Menschen. Die aber ein Problem hat: Ihr hört kaum jemand zu. Zugleich aber wird die Musik auf ihre Nichthörer exakt angepasst. Denn auch das Nichtzuhören will gekonnt sein. Wer beim Nichthören gestört wird empfindet dies als Problem – nicht als sein Problem übrigens.

„Unsere Hörerfahrung ist konditioniert. Die Töne werden außerhalb des Ohres wahrgenommen, als Bilder oberflächlich registriert oder mit vorgeformten, bildungsmäßig vorfabrizierten Gefühls- und Stimmungsinhalten identifiziert.“ (Hamel: Durch Musik zum Selbst, München 1980, S. 16.)

Das schreibt Peter Michael Hamel in seinem Buch „Durch Musik zum Selbst“, welches in den frühen 80er-Jahren zahlreiche Auflagen erreicht hat. Eine Wandlung durch Musikerfahrungen bis hin zum Drogenkonsum, bis hin zu den Theorien von Hans Kayser (und darin sich mit Luigi Nono berührend – wie sowieso in vielen Bereichen des Denkens).

Beispiel Nono (hier ein Ausschnitt aus einem Vortrag Nono anlässlich der Aufführung des Diario polacco II – auf altem Kassettenmaterial gefunden, es dürfte aus den 80er Jahren stammen, gesendet über WDR 3).

In „Durch Musik zum Selbst“ geht es um eine sehr personal orientierte Beziehungssetzung zwischen Musik und Menschen. Es geht um die Wahrnehmungsveränderungen durch spezielle kompositorische Techniken. Die „Minimal Music“ und vor allem das, was man heute darunter subsumiert hat Hamel viel präziser als repetitive „periodic music“ erfasst, ein Vorschlag, der sich leider nicht durchgesetzt hat. Dass er beispielsweise gerade an den 50. Todestag von John Coltrane erinnert, erfreut mich außerordentlich. Improvisation und musikalische Magie – eben das Verwirklichen von Klang&Leben in seiner substantiellen Form – gehören zu seinem umfassenden Sprach-, Denken-, Lebens- und Ausdrucksvermögen. Musik ist ihm keine tongewordene Theoriekonzeption.

Das Hören II

Gemeinhin werden unter den Bedingungen des Musikmarktes die Hörergruppen separiert. Es geht um eine Differenzierung von Hörweisen und -formen – sie werden zu „musical targets“. Aber nicht mit dem Ziel, eine Vielfalt von Erfahrungen zu ermöglichen, sondern um Dinge voneinander zu trennen. Und da kommt Peter Michael Hamel erneut ins Spiel. Das ist sein Ding nämlich nicht. Er verbindet, er saugt auf oder besser er liest hörend die musikalischen Fährten und folgt ihnen ohne dabei sich selbst zu verlieren. Dazu muss man sich daran erinnern, wie sehr es, nicht nur musikalisch, in den 60er- und 70er-Jahren in Europa unter den Bedingungen des „kalten Krieges“ gebrodelt hat. Hamel hat auf diese Weise längst Musik für sich entdeckt, als die Szene sich in Aufteilungskämpfen verstrickt hatte. Aber auch in der Zeit, wo die neuen Einflüsse aus dem asiatischen und afrikanischen Kontinent in Modewellen gegossen worden sind.

Politik und Ich

Das führt noch einmal auch zu seiner Person zurück: So gut er selbst reden kann, so gut kann er aber auch zuhören. Sein im Grundsatz vollkommen friedliches Wesen teilt sich wohl jedem mit, der mit ihm in Berührung kommt. Und heißt nicht, dass man sich darum nicht gepflegt streiten könne. Gegenseitiger Respekt allein öffnet auch hier die Türen zum Zusammenleben. Das darf man ruhig in Analogie verstehen zum beklagten Zu-Hör-verlust. Das gilt ja auch für das Leben und das Mitleben – in vielen Verkehrsformen des Miteinanderlebens von Menschen findet sich narzisstischer Egoismus. Dabei darf man nicht vergessen, mit welcher Leichtigkeit Hamel dabei zeitweise auch verfährt. Bei allem Ernst (wie seinem großen Stück „Die Endlösung“ in den 90er Jahren) findet er auch immer wieder mal einen unbeleidigten Ton – nahe dem musikalischen Kabarett.

Beispiel Demonstrationsfuge

Güte

Doch ist das alles nicht im Larifari gefangen, in der Positionslosigkeit. Die Musik hat Haltung und die Musik hat das, was Eisler auch einmal besonders betonen musste: Freundlichkeit. Davon dürften sicher seiner Kompositionsschülerinnen und -schüler in Hamburg sowie das universitäre Umfeld sehr – über den institutionellen Widerstand und durch ihn hindurch – profitiert haben. Die Türen in alle Richtungen sind ausgehängt. Die Musik darf rein und sie darf raus. In der Mitte des Raumes steht man beweglich selbst, aber mit den entsprechenden persönlichen und institutionellen Nachteilen versehen. Der Halt kann allein aus der Konstellation heraus entstehen, durch unsichtbare, unfixierte Verbindungen. Durch Peter Michael Hamel zur Musik.

PS:

Eine persönliche Notiz: Es gibt vielleicht nur sehr wenige Menschen bei denen man sich sofort in jeder Form der Existenz so anerkannt fühlt wie bei Peter Michael Hamel. Bei all seiner Kenntnis von äußeren wie inneren Bedingungen der Musik habe ich nie das Gefühl empfunden, es liege ihm an einer Etablierung von Hierarchie. Die mir eigene Unwissenheit dient ihm nicht zur Machtdemonstration. Diese Uneitelkeit ist wahrscheinlich nicht häufig zu finden. Peter Michael Hamel hat dies über alle lokalen und ästhetischen Distanzen immer wie von selbst etabliert. Und so kann ich seine Musik auch heute immer mit „Gewinn“ hören – sie geht mich an, im doppelten Sinn.

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seit 1997 chefökonom der kritischen masse und netzbabysitter der nmz.