Der tote Winkel des Klangs
Die großartigste Musikerin bleibt irgendwie stumm, wenn das Musikinstrument fehlt. Gewiss, das ist eine überholte Ansicht, angesichts der ästhetischen Bewegungen der Gegenwart. Wer sagt denn eigentlich, dass man für irgend etwas eine Musikerin geschweige denn einen Schallerzeuger benötigt.
Viele der Töne unserer Umgebung, das muss man so sehr anerkennen wie es eben ist, sind für das menschliche Ohr ohnehin nicht hörbar. Höchstens wird man ihrer in dem Moment gewahr, wo sich Differenztöne bilden.
Das kann man unter anderem, je nach Aufnahme und Position bei György Ligetis Atmospheres durchaus hören.
Oder vielleicht noch besser bei Luigi Nonos „Como Una Ola De Fuerza Y Luz“.
https://youtu.be/8YV6FP28-FM?t=24m39s
Neulich wurde in einer Dokumentation auf einem Kultursender gezeigt, wie sich Fledermäuse orientieren. Nämlich mit Echoberechnungen bei sehr hohen und sehr lauten Tönen. Richtig lauten Tönen! Dänische Wissenschaftler gehen von einer Lautstärke von um die 100 Dezibel aus. Angeblich so laut wie ein Presslufthammer.
Bei den Sozialrufen sieht es schon besser aus. Hier von der Website fledermaus-bayern.de
Nun wird man einwenden, so viel Fledermäuse gibt es doch gar nicht direkt in meiner Umgebung. Das stimmt. Dafür nimmt die Hörfähigkeit mit dem Alter zunehmend ab. Vor allem bei den hohen Tönen. Da hat man seine Ruh.
Mir wurde einmal eine Geschichte von einem Tontechniker zugetragen, der ein Stück „Musik der Gegenwart“ (nach Mahnkopf) aufzunehmen hatte. Der Komponist, älteren Datums, saß neben ihm, um die Tonmischung zu überwachen. An einer bestimmten Stelle mahnte er dann an, dass man die Piccoloflöte kaum hören könne. Die müsse lauter aufgenommen werden. Schließlich war sie so laut, wie es der Komponist sich wünschte, aber für die Techniker an Board des Ü-Wagens wohl eher unangenehm – ich glaube „unerträglich“ war das verwendete Wort. Namen wurden nicht herausgerückt.
Vielleicht ist die Geschichte ja auch nur gut erfunden: Tontechnikergeflunker. Es bleibt jedoch ein mehr oder minder theoretisches wie praktisches Problem, dass man auch jenseits kognitiver Verarbeitung von Schall, allein die physikalische Problematik nicht auszublenden ist.
Richard Greene hat das in einem wunderbaren Cover seiner Platte „Duets“ großartig dargestellt. Er verzichtet hier ganz auf sein Instrument. So als ob es gar nicht da wäre, bzw. es schon da sei, aber nicht sichtbar für den Normalsichtigen. Man kann wohl erahnen, welches Instrument er spielt. Aber wissen tut man es mit der nötigen Entschiedenheit leider nicht.
Musik im toten Winkel des Klangs. Man könnte natürlich auch weiter gehen und daran die Forderung anknüpfen und fragen, wie könnte denn barrierefreie Musik „ausssehen“? Naja, vielleicht nur eine dumme Frage eines Schwerhörigen.
Esgab immerhin einmal einen Versuch, dies auch kompositorisch zur Geltung zu bringen – mehr oder minder gelungen. Mauricio Kagel hat es in seinem Film „Ludwig van“ 1970 probiert. Im Spiegel-Interview führte er dazu aus:
KAGEL: Na. Der Idealfall wäre, Beethoven so aufzuführen, wie er hörte. Also: „schlecht“. Das habe ich in der Filmfassung von „Ludwig van“ kompositorisch versucht. Der Hauptgedanke war, seine Musik so umzuinstrumentieren, daß gewisse Klangbereiche und Frequenzen, die ein Tauber kaum oder verzerrt wahrnimmt, dementsprechend behandelt werden. Die Klangfarbenverzerrungen bewirkten, daß uns bei den Aufnahmen nochmals klar wurde, was dies für eine wahrhaft großartige Musik ist. Alle beteiligten Musiker und ich selbst waren ständig ergriffen. So eine Situation habe ich noch nie erlebt.[Quelle]
https://youtu.be/7l8vPWFIgxI?t=1h1m59s
seit 1997 chefökonom der kritischen masse und netzbabysitter der nmz.