Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche, Teil 4 (Gastbeitrag von Harry Lehmann)
Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche, Teil 4
– Zur Debatte über Konzeptmusik und andere Ärgernisse –
Harry Lehmann
Ästhetische Gleichschaltung
Die ganze Debatte bekam einen merkwürdigen Tonfall, als Stefan Drees den Vorwurf der »ästhetischen Gleichschaltung«1 gegenüber Michael Rebhahn erhob: »Infolgedessen versucht Rebhahn erst gar nicht, die Vielfalt des heute Entstehenden im Kontext der Gegenwartskultur zu begreifen, sondern er unterstellt dem überwiegenden Teil davon gleich eine affirmative Anbiederung an die bestehenden Verhältnisse. Mit einer Reihe von Scheinargumenten redet er – dabei das Deckmäntelchen von Harry Lehmanns Theoriemodell der ›gehaltsästhetischen Wende‹ für sich nutzend2 – den Ausschluss entsprechender Arbeiten aus dem Diskurs herbei und befürwortet so eine ästhetische Gleichschaltung unter den angeblich objektiven Prämissen einer ›kritischen‹ neuen Musik.«3 Sprachkritik, die allzu sensibel auf Alltagsbegriffe wie ›Wende‹ oder ›freiheitlich‹ reagiert, wird schnell unproduktiv; doch wenn jemand in einer Diskussion über Neue Musik seine Opponenten mit Nazivokabular stigmatisiert, dann fragt man sich schon, ob der Autor weiß, wovon er eigentlich spricht.
Abgesehen von der leidigen Rhetorik, welche in dem Gleichschaltungs-Argument von Drees steckt, liegt diesem ein Fehlschluss zugrunde. Auch der oben zitierte Vorwurf von Bernd Künzig einer ›unfreiheitlichen Ausgrenzung‹ geht über reine Sprachkritik hinaus. Gordon Kampe wünscht sich zudem, dass ihm die Einführung einer »Geschmackspolizei«4 erspart bleiben würde, was Johannes Kreidler wiederum zu dem Kommentar veranlasste: »Die Theoretiker sind, mit wenigen Ausnahmen, nicht die Entscheidungsträger … die Macht liegt immer noch beim Geld.«5 Dieser Verweis auf die Ökonomie ist hilfreich, um jenen Fehlschluss besser zu verstehen.
Drees argumentiert mit dem Gegensatz von Gleichschaltung und Vielfalt: »was letzten Endes mehr zählt als jegliche ästhetische Gleichschaltung ist die Vielfalt als grunddemokratische Eigenschaft«.6 Das wesentliche Merkmal von »Gleichschaltung« war allerdings, dass unabhängige gesellschaftliche Organisationen und Vereine ab 1933 in Deutschland aufgelöst und durch NS-Organisationen ersetzt oder in sie überführt wurden. Abweichenden Meinungen wurde die Plattform entzogen, d. h. die Gleichschaltung hatte systematisch die wirtschaftlichen, organisatorischen und juristischen Bedingungen für Meinungsvielfalt in der Gesellschaft zerstört. Die NSDAP hat mit ihren Gegnern nicht disputiert.
Wenn Autoren wie Michael Rebhahn, Johannes Kreidler, Martin Schüttler, Patrick Frank oder ich ihre Plädoyers für eine Musik der ›Diesseitigkeit‹, des ›Neuen Konzeptualismus‹ oder der ›Gehaltsästhetik‹ halten, dann wird damit die Meinungsvielfalt weder eingeschränkt noch beschädigt, sondern genutzt. Der Argumentationsfigur liegt ein pluralistic fallacy, ein pluralistischer Fehlschluss, zugrunde, wo von dem demokratischen Grundwert der Meinungsfreiheit – und folglich auch der Meinungsvielfalt – abgeleitet wird, dass keine Meinung eine andere Meinung infrage stellen dürfe. Die Schlussfolgerung ist reichlich absurd, weil es gerade der Sinn und Zweck der in Demokratien garantierten Meinungsfreiheit ist, dass normative Geltungsansprüche erhoben und öffentlich diskutiert werden können – vor allem, wenn unvermeidliche Interessenkonflikte ins Spiel kommen. Auch die Neue Musik kennt solche Interessenkonflikte, es geht hier ständig um die Verteilung knapper Ressourcen wie Aufführungen, Stipendien und Preise. In der Populärkultur entscheiden primär Marktmechanismen und entsprechend quantitative Kriterien, wer erfolgreich ist und wer nicht. In einer ›Hochkulturkunst‹ wie der Neuen Musik müssen die Kriterien reflexiv ausgehandelt werden; weder Tradition, noch Geschmack, noch Mehrheiten können hier den Ausschlag geben.
Was die Kritiker nun so in Rage versetzt, ist die Tatsache, dass mit Konzeptualismus, Diesseitigkeit und Gehaltsästhetik der Geltungsanspruch verbunden ist, dass diese Strömungen in einem besonderen Maße neu und innovativ seien. Hinter diesem Anspruch stehen nicht nur Werke, sondern auch Theorien, die man diskutieren, hinterfragen und bestreiten kann. Wer aber statt dessen vor Gleichschaltung, Geschmackspolizei und Ausgrenzung warnt, der will nicht debattieren, sondern – im Namen von Freiheit und Vielfalt – eine Diskussion delegitimieren.
Zwischenbilanz
Wenn man die hier versammelten Kritikpunkte in einen Zusammenhang stellt, kann man verschiedene Typen der Kritik unterscheiden: es gibt die Fakten-, die Sprach-, die Methoden-, die Ideologie- und die Theoriekritik.
Der führende Experte für die Faktenkritik ist ohne Frage Frank Hilberg, der in seinem Lego-Text auch Johannes Kreidler belehrt: dass Beethoven für Cembalo komponiert habe, die Wagnertuba keine Tuba sei und der moderne Flügel keinen Stahlrahmen habe. Dieser Vorsprung durch Kompetenz verdankt sich allerdings der Tatsache, dass Hilberg die Sätze, die er kritisiert, nicht genau liest – zum Nachprüfen sei hier Kreidlers Replik »Gute Erholung!« empfohlen.7 Faktenkritisch argumentiert auch Helga de la Motte, wenn sie es als unstrittiges musikwissenschaftliches Basiswissen hinstellt, dass die Ursprünge des Fluxus nicht in der Musik lägen. Hilbergs Anmerkung, dass zuerst Frederic Rzewski einen Bezug zum Temperaturnullpunkt hergestellt habe, gehört ebenfalls zu diesem kritischen Genre – allerdings spricht hier die Tatsache nicht für seinen Einwand.
Typische Beispiele für Sprachkritik sind die Bedenken von Bernd Künzig und Helga de la Motte hinsichtlich einer »gehaltsästhetischen Wende« bzw. einer »relationalen Musik«. Entscheidend ist, dass in beiden Fällen nicht etwa die Idee kritisiert wird, die mit diesen Begriffen verbunden ist, sondern ausschließlich die Wortwahl.
Die Einwände, die Bernd Künzig gegenüber dem Terminus ›Konzeptmusik‹ vorbringt, richten sich nicht gegen den Begriff selbst, sondern kritisieren die Art und Weise, wie der Begriff von mir eingeführt wurde. Es handelt sich also um einen Fall von Methodenkritik.
Den ausgetretenen Pfad der Ideologiekritik betreten schließlich Drees, Kampe und Künzig, wenn sie missliebige künstlerische und theoretische Geltungsansprüche nicht offen diskutieren, sondern stattdessen die Alarmglocken läuten und vor den vermeintlich freiheitsfeindlichen Konsequenzen der Theorie warnen.
Schließlich gibt es auch noch Theoriekritik, welche versucht, die vorgebrachten Argumente in ihrem Zusammenhang nachzuvollziehen und ihre Schlüssigkeit zu prüfen. Tobias Schick hat mit seinem Aufsatz »Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus« eine solche anspruchsvolle Kritik vorgelegt. Sein Einwand war, dass die Unterscheidung zwischen Gehaltsästhetik und Konzeptualismus in meinen Texten nicht trennscharf genug sei.8 Ich habe die Theorie in dem Aufsatz »Konzeptmusik – Katalysator der gehaltsästhetischen Wende« an dieser Stelle präzisiert: Konzeptmusik ist nicht mit gehaltsästhetischen Kompositionen gleichzusetzen, sondern lässt sich als Umschlagpunkt zwischen einem materialästhetischen und einem gehaltsästhetischen Paradigma in der Neuen Musik verstehen.9
Die anderen Teile des Beitrags von Harry Lehmann:
Teil 1 + Teil 2 + Teil 3 + Teil 4
Im Windschatten der digitalen Revolution (Beitrag in der nmz 2015/02)
- Stefan Drees: »Musikjournalismus als Propagandamaschine«, in: NZfM 6/2013, S. 26. ↩
- vgl. Harry Lehmann: »Avantgarde heute. Ein Theoriemodell der ästhetischen Moderne«, in: Musik & Ästhetik 38/2006, S. 5–41. ↩
- Stefan Drees: »Musikjournalismus als Propagandamaschine«, in: NZfM 6/2013, S. 25. ↩
- Gordon Kampe: »Die Welt in der Schublade«, in: NZfM 6/2013, S. 35. ↩
- Johannes Kreidler: »Der erweiterte Musikbegriff«, in: Katalog zu den Donaueschinger Musiktage 2014, S. 86. ↩
- Stefan Drees: »Musikjournalismus als Propagandamaschine«, in: NZfM 6/2013, S. 27. ↩
- Johannes Kreidler: »Gute Erholung! Erwiderung auf Frank Hilbergs Text ›Sie spielen doch nur Lego …‹ «, in: MusikTexte 141/2014, S. 108; s. auch Stefan Hetzel: »Weder Lego noch fischertechnik«, Weltsicht aus der Nische 26/02/2014. ↩
- Tobias Eduard Schick: »Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus«, Musik & Ästhetik 66/2013, S. 47-65. ↩
- Harry Lehmann: »Konzeptmusik. Katalysator der gehaltsästhetischen Wende in der Neuen Musik«, in: NZfM 1/2014, in drei Teilen S. 22-25, 30-35, 40-43. ↩
Harry Lehmann
Harry Lehmann lebt und arbeitet als Philosoph in Berlin. Seine theoretischen Interessen liegen in den Bereichen Ästhetik, Kunstphilosophie, Musikphilosophie, Systemtheorie und Gesellschaftstheorie; er schreibt Bücher, Aufsätze, Essays, Kritiken und Katalogtexte über zeitgenössische Kunst, Literatur und Neue Musik – und bei Gelegenheit ›Libretti‹ für Musiktheater.
Harry Lehmanns ebenso originelle wie anspruchsvolle Thesen zu einer gesellschaftlichen Ortsbestimmung von Kunstmusik im 21. Jahrhundert (nach der ja gerade hier im BBoM immer mal wieder gerufen wird) wurden von der Neue-Musik-Szene im Großen und Ganzen nicht wirklich ernsthaft rezipiert (Ausnahme: Tobias Schick) .
Es gibt ja kaum eine Kunstszene, die sich so „intellektuell“ gibt, wie die Neue-Musik-Szene („Bauchmusiker“ sind hier eher selten zu finden). So hoffte Harry Lehmann wohl, hier theorie-interessierte Künstler und Musikwissenschaftler zu finden.
Die Hoffnung trog.
Kommt ein Philosoph daher und macht sich die gewaltige Mühe, die Lage zu sondieren, wird er als „fachfremd“ verscheucht. Dabei kommt raus, dass man sich größtenteils nicht die Mühe gemacht hat, Lehmanns äußerst anspruchsvolle Texte überhaupt sorgfältig zu lesen – was Lehmann hier in seiner Meta-Kritik detailliert darzulegen sich schließlich genötigt fühlte.
Das ist alles, Entschuldigung, ziemlich erbärmlich.
Wen’s interessiert, bereits im Februar des vergangenen Jahres habe die ganze Chose in meinem Blog „Weltsicht aus der Nische“ kommentiert: https://stefanhetzel.wordpress.com/2014/02/26/weder-lego-noch-fischertechnik/
„Kommt ein Philosoph daher und macht sich die gewaltige Mühe, die Lage zu sondieren, wird er als “fachfremd” verscheucht. “
Frei nach Kafka:
Die Patienten haben sich nicht gefreut,
dass sich der Arzt zu ihnen ins Bett gelegt hat.
Warum gibt es eigentlich ein so mageres Echo auf diese Beiträge von Harry Lehmann? Sie sollen doch angeblich wegweisend sein für die weitere Entwicklung der „neuen Musik“.
Die Crux ist vermutlich, abgesehen von der Leselangeweile, die sie verbreiten, dass es sich um eine Nischenideologie von einigen wenigen handelt, die sich von der musikalischen Realität abgekoppelt hat, aber meint, diese nachhaltig beeinflussen zu können. Harry Lehmann ist ein kluger und scharfsinniger Denker, und ich schätze seine begriffliche Klarheit. Aber er sieht offenbar nicht ein, dass es in der Musik nicht um Begriffsfelder geht, die gegeneinander abgegrenzt werden müssen, sondern um Klänge und um das, was sie mit den Hörern machen.
Irgendwie tut mir das leid. Die einzige Hoffnung für ihn und seine paar Anhänger besteht darin, dass sie langsam in die Veranstalterszene aufgenommen werden, von wo sie dann ihre Theorien und die sie explizierenden musikalischen Exempel mit mehr ökonomischem Rückhalt verbreiten können. In Darmstadt haben sie ja schon einen kleinen Stützpunkt gefunden.
Das führt aber meiner Meinung nach nur zu einer neuen Gettoisierung und wird nie ein größerers Publikum finden. Leider gibt es in Deutschland eine ungute Tradition des realitätsfremden Besserwissens auf hohem theoretischem Niveau. Und im Extremfall landet es dann beim wohl dotierten akademischen Leerlauf – ein intellektueller Parnass, aber Wissenschaft für die Katz.
Die heutigen Komponisten, die sich um ein gesellschaftliches Echo ihrer Musik bemühen, hätten Besseres verdient. Aber offenbar gibt es welche, die das gar nicht wollen. Sie träumen von Subversion gegen die bösen Verhältnisse (irgendwie verständlich, der Horizont verdüstert sich ja tatsächlich von Tag zu Tag, aber mit gut gemeinten künstlerischen Konzepten wird das nicht aufzuhalten sein) und möchten doch nur vom Publikum geliebt werden. Dieses finden sie dann leider nur unter ihresgleichen – das typische Merkmal von Sektierertum.
Klar, dass die Ästhetik des 19. Jh. im digitalen Zeitalter an ihre Grenzen gestoßen ist. Klar, dass auch ein Lachenmann konservativ ist. Man braucht kein Philosoph zu sein, um das zu merken. Aber erstens: Auch solche konservativen oder besser: traditionsorientierten Tendenzen sind wichtig, sie liefern uns eine Basis, auf der wir den Vorstoß ins digitale Neuland (vielleicht das neue „Fruchtland“, nach Boulez?) wagen können. Und zweitens: Wozu diese unsägliche Kategorisierungswut in einem Moment, in dem alles in Bewegung geraten ist? Das hat wirklich etwas legohaftes und ist selber extrem konservativ in seiner Denkstruktur: auf hegelianische Weise subjektbezogen, autoritär und mit unverkennbarem Trend zum Verwaltungsdenken. Mit solchen altpreußischen Vorgaben kommt man heute so wenig weiter wie mit einem kritiklosen Sich-Heranschmeißen an die Internet-Ästhetik. Nötig ist eine ungehinderte Freiheit des Denkens: Silikon Valley statt Begriffsbuchhaltung. Wie das künstlerisch zu vermitteln ist, weiß ich auch nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass genau davor die deutschen „Progressiven“ zurückschrecken, weil es ja amerikanisch und deshalb böse ist. Sie verkriechen sich lieber in ihre faustischen Bastelstuben, wo sie ihren ästhetischen Spekulationen frönen können, jammern über zuwenig Subventionen und konstatieren stolz, dass sie nicht zur contemporary classical music, sondern zur neuen Kunstmusik gehören, die nach theoretischen Vorgaben funktioniert. Das ist nicht gerade kreativ. Aber auch das wollen offenbar manche gar nicht sein. Nun denn.
Übrigens, nur zur Ergänzung: Vor 1 Jahr habe auch ich meinen Senf zu diesem frugalen Begriffsmenu gegeben: http://www.nmz.de/artikel/in-der-sackgasse Das war wohl zu „unwissenschaftlich“, um weiter kommentiert zu werden. Zugegeben: Eine Sache darin ist heute wohl bereits veraltet, nämlich das mit den goldenen Merkeljahren – diese gehen dank EZB und Ukrainekrieg nämlich gerade vorbei. Aber wenn ich jetzt diese Beiträge von Harry Lehmann und auch denjenigen von ihm in der aktuellen Printausgabe der NMZ (2/15) lese, so scheine ich zumindest in einem Punkt recht gehabt zu haben: Im Hinweis auf die Selbstreferenzialität dieser merkwürdigen Theorie, die sich vor allem in einer Anhäufung von Selbstzitaten und -verweisen (Fußnoten) ausdrückt. Bitte, lieber Harry Lehmann, liebe Komponisten, kommt raus aus der Wagenburg der Begriffe! Das Leben tickt anders!
Vielen Dank! Es war höchste Zeit, dass mit diesen kleinlichen, polemischen und an der eigentlichen Sache uninteressierten Kritiken mal abgerechnet wird. Man muss kein überzeugter „Gehaltsästhetiker“ sein, um in den Gedanken Lehmanns notwendige oder mindestens erfrischende Anstöße für eine heutige Neue Musik zu finden.
Er spricht rücksichtlos aus, was über die heutige Situation gesagt werden muss und stellt Überlegungen an, wie die weitere Entwicklung aussehen könnte. Dies ist ihm hoch anzurechnen. Seine Fachfremdheit ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits kann er Kritik äußern, die andere sich nicht erlauben könnten, um sich nicht selbst zu schaden, andererseits wird es als Totschlagargument gebraucht, um seine Gedanken zu entkräften.
Zumal der ganze Diskurs als eine Reaktion auf die Praxis der heutigen Neuen Musik zu verstehen ist und nicht als unabhängiges theoretisches Konstrukt. Es ist ein Versuch, diese Misere auf theoretischer Ebene (Lehmann u.a.) und praktischer Ebene (Kreidler u.a.) zu lösen.
Einige Autoren wettern mit solcher Leidenschaft gegen Lehmann, dass man sich ernsthaft Sorgen macht: Diese alteingesessenen Hasen der Neue Musik verteidigen (rational nachvollziehbar) ihr Revier vor den unangenehmen möglichen Folgen der Lehmannschen Gedanken. Sieht man auf diese Folgen (Entinstitutionalisierung, Demokratisierung…) so erahnt man, weshalb. Wer sägt schon gern am Ast, auf dem er sitzt?
Dabei wäre es ihre Pflicht, die doch realen Missstände in Produktion, Aufführung und Rezeption der ach so intellektuellen Neuen Musik zu thematisieren. Wenn nicht Lehmanns Theorie, dann sollten sie eine andere vorlegen, doch keinesfalls lediglich auf den bestehenden Verhältnissen verharren.
@Max Nyffeler
„Das Leben tickt anders!“ – Ja eben, und genau deshalb ist dieser Diskurs so wichtig. Die Komponisten leben und arbeiten im letzten (oder besser vorletzten) Jahrhundert und werden durch das Institutionsgeflecht in dieser Rolle bekräftigt. Die musikalische Realität ist nicht Gegensatz zur begriffsbasierten Auseinandersetzung, sondern Ursache.
Als Musikwissenschaftler und Neue-Musik-Begeisterter kann ich Lehmann, Kreidler und allen Beteiligten jedenfalls nur danken. Sie sprechen aus, was mir nach vielen Konzerten oft als vager Beigeschmack blieb; packen in aufschlussreiche Theorie, was bisher nur unvermittelt im Raum schwebte. Ich entschied mich deshalb, das alles in meiner Bachelorarbeit zu thematisieren.
In ihr behandle ich den Diskurs von den Anfängen bei Lehmann, Kreidler und Mahnkopf bis zum Artikel von de la Motte im Sommer letzten Jahres und versuche eine Bewertung des ganzen. Hier nachzulesen:
https://peterlell.wordpress.com/2015/02/04/neue-musik-durch-neue-medien-der-diskurs-uber-die-digitalisierung/
Die Ergebnisse einer „demokratisierten“ Produktion von Neuer Musik werden in einer „demokratisierten“ Rezeption dieser Musik Erfolg haben oder abgewählt werden:
Wenn mir ein Stück von – sagen wir mal – Kreidler auf youtube zusagt, klicke ich es vielleicht irgendwann nochmals an; wenn es mir nicht zusagt, klicke ich schon während des Anhörens/Ansehens weiter.
Ich habe mich zu Lells Bachelorarbeit hingeklickt, sie gelesen und sie des Überblicks wegen als hilfreich, der meist ohne Begründung abgegebenen und apodiktisch wirkenden Wertungen wegen jedoch als hörig empfunden.
Ich bin da ganz bei Max Nyffeler. Das ist ein typische Insiderdiskussion, deren Dynamik sich weitgehend in Eitelkeiten und Abrechnungen erschöpft. So sind die Texte Lehmanns in diesem blog ja leider auch nur Zurechtweisungen und Rechtfertigungen, die man kaum nachvollziehen kann, wenn man die Ausgangstexte nicht kennt.
Warum ich bei dieser Diskussion auch nur müde abwinke ist, dass das in den 60er und 70er Jahren ja schonmal alles durchgekaut wurde. Bei der elektronischen Musik und der Tonbandtechnik glaubte man damals auch, das ist jetzt das neue, das alles ablösen wird. Genauso ist das mit den heutigen technischen Errungenschaften, einiges praktikable wird sich durchsetzen, doch eine ästhetische Revoultion wird es genauso wenig geben wie damals.
Dasselbe gilt für den Anti-Institutionismus. Was damals jenseits oder zum Teil auch innerhalb der alten Institutionen neu etabliert wurde, ist heute seinerseits eingefahrene Institution. Ohne die Institutionen von Verlagen, Veranstaltern und Förderprogrammen, die alle an der Subventionsflasche hängen, gäbe es soetwas wie Neue Musik gar nicht mehr. Dass ein Komponist im radikalkapitalistischen Umfeld von YouTube eine Chance hätte, eine Öffentlichkeit und damit ein Auskommen zu erreichen, ist völlig utopisch.
Kunst wurde und wird auch in Zukunft von Künstlern gemacht und nicht in Theorieeintöpfen gekocht.
„Kunst wurde und wird auch in Zukunft von Künstlern gemacht und nicht in Theorieeintöpfen gekocht.“
Natürlich wird sie das. Man braucht kein Genie zu sein für diese Erkenntnis. Und sie widerspricht Lehmann ja auch gar nicht.
Aber es gibt auch Musikkritik und für eine selbsternannte „Kunstmusik“ ist diese essentiell, wenn sie den Anspruch bewahren will.
Statt einer am einzelnen Werk orientierten Kritik (die ohne weiteres möglich wäre), gibt Lehmann aber den Vorschlag, wie eine neue Ästhetik dieser Musik aussehen könnte und woran man sich orientiert. Statt am reinen Klang ist dies der Gehalt der Werke.
Wenn Komponisten diese Einsicht nicht teilen, ist das schön und gut. Man muss ja auch nicht zum selben Ziel kommen (gehaltsästhetische Wende) wie Lehmann. Nimmt man die zugrundeliegende Kritik jedoch nicht einmal ernst und beharrt auf einem „Wir sind die Komponisten und wir entscheiden!“, dann soll man sich bitte nicht mehr als Komponist einer Kunstmusik verstehen, sondern höchstens als einer der „zeitgenössischen Klassik“ (vgl. Lehmanns Beitrag in der NMZ online, „Im Windschatten der digitalen Revolution“)
Meine Arbeit als „apodiktisch“ oder „hörig“ zu bezeichnen offenbart weniger eine Absicht als folgendes: Es gibt (oder mindestens gab bis zu dem Zeitpunkt) wenige ernstzunehmende Kritiken von Lehmanns Gedanken. Die Meisten waren „am Thema vorbei“, wie es in der Schule geheißen hätte oder werten auf persönlicher Ebene. Dies ist wirklich schade, da es nicht mein Anliegen war, zugunsten einer der beiden Seiten zu werten, sondern den Verlauf und das Anliegen des Diskurses aufzuzeigen.
Hallo Peter Lell,
die Begriffe „apodiktisch“ und „hörig“ beziehen sich in meinem Beitrag nicht auf Ihre gesamte Arbeit, sondern eingeschränkt auf etliche Wertungen, die ich – auch das ist eine Einschränkung – so empfunden habe.
Beste Grüße
@Lell: „Wir sind die Komponisten und wir entscheiden.“ So ist es immer gewesen und so wird es auch immer sein. Es geht auch gar nicht anders. Ästhetische Diskurse waren immer nur Sekundärphänomene, die im Grunde nur beschrieben, was gerade passiert.
Finde Ihre Arbeit übrigens gar nicht übel. Gibt einen guten Überblick. Auch die beiden Interviews sind lesenswert.
„So ist es immer gewesen und so wird es auch immer sein. Es geht auch gar nicht anders. Ästhetische Diskurse waren immer nur Sekundärphänomene, die im Grunde nur beschrieben, was gerade passiert. “
Aurelianus Reomensis sagte im 9. Jahrhundert dazu:
Multo enim est maius scire quod quisque faciat, quam illud facere quod sciat.
(Es ist nämlich viel wichtiger zu wissen was irgendeiner tut, als zu tun was irgendeiner weiß)
Was e r wohl damit meinte? ;-)