Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche, Teil 1 (Gastbeitrag von Harry Lehmann)
„Konzeptmusik“. „Digitale Revolution“. „Neue Musik“. Diesen drei Begriffen kommt im Moment eine Schlüsselrolle zu. An „Konzeptmusik“ kommt man kaum vorbei, sorgen doch ihre kompositorischen Vertreter regelmäßig für Aufmerksamkeit und propagieren eine „ästhetische Wende“. Die „Digitale Revolution“ ist entweder sehr wichtig oder eher unwichtig, je nachdem wem man Glauben schenkt. Und aus der „Neuen Musik“ soll man austreten oder wieder eintreten oder ihr ein wenig Pickelcreme verabreichen, was auch immer.
Mittendrin in dieser Diskussion ist der Musikphilosoph Harry Lehmann, dem diese Diskussion wortgewandte Beiträge zu verdanken hat und der sich als einer der ganz wenigen in der Szene ernsthaft mit den ästhetischen Konsequenzen einer veränderten Wirklichkeit auseinandersetzt. Dass diese Diskussion immer virulenter wird, zeigt ein fast schon fundamentalistisch zu nennender Umgang mit einem Text Lehmanns von Seiten der MusikTexte, über den Lehmann in der nächsten Ausgabe der NMZ berichten wird. Begleitend hierzu freuen wir uns, eine ausführliche Replik Lehmanns zu den „Wutkommentaren“ von Frank Hilberg und Helga de la Motte hier im Blog zu veröffentlichen, und zwar in 4 Teilen, heute bis zum Sonntag.
Und nun übergebe ich gerne das Wort an unseren Gastblogger Harry Lehmann.
Moritz Eggert
Harry Lehmann kam hier indirekt schon oft im Bad Blog zu Wort, daher freue ich mich um so mehr, dass wir hier einen längeren Text von ihm veröffentlichen können, der Teil
Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche, Teil 1
– Zur Debatte über Konzeptmusik und andere Ärgernisse –
von Harry Lehmann
Im letzten Jahr habe ich zahlreiche Rückmeldungen zu meinen Texten bekommen, die ich längst einmal kommentieren wollte. Allerdings fielen die Einwände oft sehr kleinteilig aus, so dass es mir wenig produktiv erschien, auf sie verstreut in verschiedenen Journalen zu reagieren. In der folgenden Replik habe ich deshalb die wichtigsten Kritikpunkte zusammengetragen, was den Mehrwert hat, dass sich aus der Analyse der einzelnen Argumente eine Typologie von Kritikformen ableiten lässt, die etwas über die Kontroverse insgesamt auszusagen vermag.1 Den vorliegenden Beitrag hatte ich ursprünglich für die MusikTexte geschrieben, die mir allerdings das Angebot zum Ablehnen gemacht haben, den Text um 83% zu kürzen. Die Begründung war, dass ich mich auf Kritikpunkte bezöge, die nicht in den MusikTexten, sondern in der Neuen Zeitschrift für Musik publiziert wurden, so dass die MusikTexte nicht die richtige Adresse für weite Teile meiner Richtigstellung seien. Die Logik dieser Argumentation erschließt sich mir nicht, denn sowohl Helga de la Motte als auch Frank Hilberg haben nicht etwa in der Neuen Zeitschrift für Musik ihre Repliken veröffentlicht, sondern in den MusikTexten – obwohl die Beiträge von Kreidler, Rebhahn und mir, auf die sie Bezug nehmen, allesamt in der NZfM erschienen sind.
Freie Atonalität
Der Herausgeber der MusikTexte Frank Hilberg erinnert in seinem Pamphlet »Sie spielen doch nur Lego …« vehement an die harten musikwissenschaftlichen Fakten. So moniert er, wenn ich von ›freier Atonalität‹ spreche, »dass Werke vielleicht ›freitonal‹ oder ›atonal‹, aber kaum ›frei atonal‹ sind« und empfiehlt dem Autor, er »könnte sich endlich mal ein Musik-Lexikon zulegen und anfangen Vokabeln zu lernen.«2 Nun, lieber Frank Hilberg, es reicht nicht aus, wenn man die Lexika zu Hause im Bücherschrank stehen hat, man muss sie auch lesen: »Eine nachdrückliche Verwendung des Terminus freie Atonalität bzw. des Ausdrucks frei atonal in jenem Sinn, wie er dann für die Zeit nach 1950 verbindlich wurde, findet sich 1942 in vier von Adornos für ein Lexikon vorgesehenen Neunzehn Beitr. über neue Musik (in: Mus. Schriften V, Gesammelte Schriften XVIII, Ffm. 1984). … Da die Lexikonart. postum zur Publikation gelangten, ging von ihnen keine terminologisch-begriffsnormierende Wirkung aus, was allerdings von der Veröff. des zeitlich bereits vor den Lexikonbeitr. entstandenen Schönberg-Kap. aus der Philosophie d. neuen Musik behauptet werden kann. Wiewohl dort nur an peripheren Stellen (Gesammelte Schriften XII, Ffm. 1975, 41, Anm. 2 u. 93, Anm. 28) vorkommend und überdies mit dem Ausdruck ungebundene Atonalität (61) abwechselnd, hat sich der Terminus freie Atonalität durch die besondere Gewichtung dieser Phase Schönbergs in Adornos Buch und die spezifische Wirkungsgeschichte dieser Publ. in der dtsch. musikwissenschaftlichen Nachkriegsliteratur durchgesetzt (und teilweise auch in der angelsächsischen als ›free atonality‹ …«.3
Fluxus
Auf meinen Satz: »Fluxus war letztendlich aufgrund dieses Speichermedienproblems in die Bildenden Künste ausgewandert«,4 antwortet Helga de la Motte: »Nein, nein, Fluxus ist nicht in die, sondern im Gegenteil aus der bildenden Kunst ausgewandert. Philip Corner und Giuseppe Chiari gehören zu den wenigen Musikern, die an dieser Bewegung bildender Künstler teilnahmen.«5 Speichermedienprobleme interessieren de la Motte jedoch nicht, so dass sie meinen Satz auf die simple Aussage reduziert: »Fluxus war … in die Bildenden Künste ausgewandert«. Da der Wortlaut damit aus seinem Kontext gerissen wurde, möchte ich vorsichtshalber noch einmal betonen, dass in besagtem Satz eine medientheoretische Überlegung zusammengefasst wurde. Allerdings vertritt de la Motte mit ihrer Bemerkung nun selbst den Anspruch, Lehrbuchwissen zu verkünden, und dann stellt sich schon die Frage, ob diese Richtigstellung stimmt. In der englischsprachigen Literatur jedenfalls sieht man die Initialzündung von Fluxus in den Seminaren von John Cage, als dieser zwischen 1957 und 1959 an der New School for Social Research in New York City lehrte. Ich hatte darauf in meinem Konzeptmusik-Text hingewiesen: »Die ersten Beispiele für Fluxus ›event scores‹ reichen zurück zu John Cages berühmter Klasse an der New School, wo Künstler wie George Brecht, Al Hansen, Allan Kaprow und Alison Knowles damit begannen, Kunst und Performances zu schaffen, die eine musikalische Form besaßen.«6 John Cage war bekanntlich Komponist und kein bildender Künstler.7
Cage 4’33’’
»Ja, echt blöd. Cage hat nie an ein Nullpunktstück gedacht, hatte nie einen ›Akt der Musikverweigerung‹ geplant. Er selbst hat auch nie einen Bezug zum Temperaturnullpunkt hergestellt, das war Frederic Rzewski.«8 Dies wieder ein Zitat von Frank Hilberg, der offenbar glaubt, dass man, wenn man die Fakten kennt, nicht mehr über sie nachdenken muss. »Cage hat nie an ein Nullpunktstück gedacht« ist als Einwand formuliert, insofern ich 4’33’’ als das »perfekte Nullpunktstück« charakterisiert habe. Nun kann weder Hilberg noch irgendjemand anders wirklich wissen, was Cage ›gedacht‹ oder ›nicht gedacht‹ haben mag, man kann aber die Wahrscheinlichkeit solcher Aussagen abschätzen. Die Rechnung ist einfach aufgestellt, insofern 4’33’’ nur eine von vielen möglichen Realisierungen eines Konzepts ist, das in einer Schreibmaschinenpartitur von Cage beschrieben wurde. Hier kann man lesen: »Der Titel dieses Stücks ist die Aufführungsdauer in Minuten und Sekunden. In der Aufführung von Woodstock, N. Y., vom 29. August 1952 lautete der Titel 4’33’’ … das Stück kann jedoch mit einem Instrumentalisten oder einer Kombination von Instrumentalisten aufgeführt werden und eine beliebige Aufführungsdauer haben.«9 Eine Aufführung in einer Konzertsituation könnte realistischerweise zwischen wenigen Sekunden und, sagen wir einmal, 17 Minuten liegen. Damit hätte man in diesem siebenminütigen Zeitfenster die Auswahl zwischen mehr als 1000 verschiedenen Stücken. Wenn Cage nie an ein Nullpunktstück gedacht hätte und wenn es keinen guten Grund gegeben hätte, dass die Aufführung 4’33’’ und nicht etwa 4’32’’ oder 4’34’’ dauern soll, dann hätte man es mit einem Zufallstreffer zu tun. Cage hätte, wie es die Legende will, das I Ching als Zufallsgenerator benutzt. Wenn 4’33’’ aber bewusst ausgewählt wurde – weil diese Zeitangabe umgerechnet einer Dauer von 273 Sekunden entspricht und eine Anspielung auf den absoluten Temperaturnullpunkt von 0º Kelvin bzw. -273º Celsius enthält –, dann wäre überhaupt kein Zufall im Spiel gewesen. Insofern ist Hilbergs Behauptung »Cage hat nie an ein Nullpunktstück gedacht« 1000 Mal weniger wahrscheinlich als die Annahme, dass Cage die Naturkonstante gekannt, als Auswahlkriterium genutzt und ihre Entzifferung der Nachwelt überlassen hat. Die weitverbreitete Neigung, lieber an eine unwahrscheinliche Begebenheit wie Cages Nullpunkttreffer zu glauben, anstatt diesen Mythos mit simplem Einmaleins zu hinterfragen, hat vermutlich ihren Grund in der Genieästhetik der Klassischen Musik, deren Versatzstücke in der Neuen Musik fortleben: Hier zeugt das außergewöhnliche Ereignis von außergewöhnlicher künstlerischer Intuition, und im extremen Zufall zeigt sich das wahre Genie.10
Die anderen Teile des Beitrags von Harry Lehmann:
Teil 1 + Teil 2 + Teil 3 + Teil 4
Im Windschatten der digitalen Revolution (Beitrag in der nmz 2015/02)
- Ein kurzer Rückblick auf die der bisher gelaufenen Diskussion findet sich in Harry Lehmann: »Neue Musik – Kunstmusik oder Zeitgenössische Klassik?«, in: nmz 2/2015. ↩
- Frank Hilberg: »Sie spielen doch nur Lego …«, in: MusikTexte 140/2014, S. 3-5. http://musiktexte.de/.media/Kommentar_140.pdf. ↩
- Hartmuth Kinzler: »Atonalität«, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.): Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Franz Steiner Verlag 1995, S. 28f. ↩
- Harry Lehmann: »Konzeptmusik. Katalysator der gehaltsästhetischen Wende in der Neuen Musik«, in: NZfM 1/2014, S. 33. ↩
- Helga de la Motte: »Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?«, in: MusikTexte 141/2014, S. 43. ↩
- Ken Friedman, Owen Smith and Lauren Sawchyn (Ed.): The FluxusPerformanceWorkbook, Performance Research e-publication 2002, S. 1. ↩
- Zudem wäre Nam June Paik ein schönes Beispiel für einen Komponisten (er hat in Freiburg studiert), der nun buchstäblich in die Bildende Kunst ausgewandert ist. ↩
- Frank Hilberg: »Sie spielen doch nur Lego …«, in: MusikTexte 140/2014, S. 3-5. http://musiktexte.de/.media/Kommentar_140.pdf ↩
- John Cage: Tacet, Schreibmaschinenpartitur, Edition Peters No. 6777, (Übers. HL). ↩
- Nachbemerkung: Die MusikTexte haben die Nichtpublizierbarkeit dieses Cage-Abschnitts mit seiner offensichtlichen »Falschheit« begründet. Es gäbe klare Belege, die beweisen würden, dass die Länge von 4’33’’ über Zufallsverfahren generiert worden sei. Als Beweisquelle wurde mir Cages’ Werkverzeichnis zugeschickt, wo es heißt: »4’33’’ (1952) (tacet, any instrument or combination of instruments) This is a piece in three movements during all three of which no sounds are intentionally produced. The lengths of time were determined by chance operations but could be any others.« Die Rede ist im letzten Satz von den Längen (Plural) und nicht von der Länge (Singular), wie die MusikTexte den Satz offenbar gelesen haben. Eine adäquate Übersetzung wäre entsprechend: »Die Dauern der drei Teile des Stücks werden per Zufall ermittelt.« Die Gesamtlänge des Stücks bleibt mit 4’33’’ vorgegeben und wird nicht etwa durch Addition der drei Zeitdauern bestimmt. ↩
Harry Lehmann
Harry Lehmann lebt und arbeitet als Philosoph in Berlin. Seine theoretischen Interessen liegen in den Bereichen Ästhetik, Kunstphilosophie, Musikphilosophie, Systemtheorie und Gesellschaftstheorie; er schreibt Bücher, Aufsätze, Essays, Kritiken und Katalogtexte über zeitgenössische Kunst, Literatur und Neue Musik – und bei Gelegenheit ›Libretti‹ für Musiktheater.
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