Eine verspätete Kritik an einem erfolgreichen Stück
Es gibt Stücke, bei denen sich sowohl Publikum als auch Musiker einig sind, dass sie sie dufte finden. Was nicht bedeutet, dass Komponisten diese Stücke auch dufte finden.
Ein Paradebeispiel für diesen Umstand ist das Cellokonzert von Friedrich Gulda. Ach, wie oft habe ich schon von dynamischen jungen Cellisten gehört, wie toll dieses Stück doch sei. So unkonventionell, dabei doch so virtuos. Ein richtiges Paradestück eben. Und das Publikum ist doch dann auch begeistert! Wenn es mit diesem Rockteil losgeht! Die Blaskapelle! Big Band-Jazz! Und dazwischen doch eben auch die gute Klassik – Schubert, Vivaldi….alles kommt darin vor! Und toll, dass das Cello mal so frei und richtig groovy spielen kann! Und sogar die Neue-Musikfreaks bekommen noch ein paar Dissonanzen um die Ohren gehauen, in dem endlosen Soloteil. Der Gulda konnte einfach alles!
Wenn ich dann einwende, dass mir das Stück gar nicht gefalle, ja dass ich es sogar richtiggehend hasste und verachtete, verhärtet sich der Blick meines Gegenübers. Unmissverständlich gibt man mir dann zu verstehen, dass ich mit dieser Meinung nicht nur alleine sei, sondern dass es sich bei mir ganz sicher um einen neidischen/eifersüchtigen/missgünstigen/sonstirgendwas Kollegen handeln müsse.
Es gab eine Zeit als ich noch Student war, da spielte Bayern Klassik das Cellokonzert von Gulda quasi in Dauerschleife. War bei irgendeiner Sendung noch Platz hörte man irgendwann unvermeidlich: „Und jetzt ein Ausschnitt aus dem Gulda-Cellokonzert“, wahrscheinlich gespielt vom Uraufführungscellisten Heinrich Schiff.
Und ja, ich gebe gerne zu, dass das Stück beim ersten Hören bei mir eine positive Irritation auslöste. Erst wusste ich gar nicht, wer das komponiert hatte, so seltsam waren die Stilwechsel und Formbrüche. Gleichzeitig machte sich aber in mir das Gefühl breit, dass hier zwar jemand sympathisch durch alle Genres hindurch kombinierte und variierte, dass diese jeweiligen Pastiches aber jeweils immer wahnsinnig abgeschmackt und konventionell klangen, ohne jegliche wirkliche Originalität.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich muss hier wirklich betonen, dass ich vor dem exzentrischen und brillanten Musiker Friedrich Gulda nichts als höchsten Respekt habe. Er war ein Genie und ein Meister, und vor allem einer, der sich schon schnell äußerst erfolgreich von einem schon damals potzbiederen Konzertbetrieb innerlich befreien konnte. Als Pianist war er über jeden Zweifel erhaben, als Jazz-Improvisator oder Blockflötenvirtuose zumindest mutig und als Provokateur ohnehin erste Sahne. Aber als Komponist?
Natürlich ist es absolut sympathisch, dass Gulda auch komponiert hat. Und sicherlich ist das alles auch nicht ganz schlecht und bezeugt ein gutes Gespür für Stilimitate. Dass er auch komponierte, machte ihn zu einem wirklichen Vollblutmusiker, wie es sie ja nur wenige gibt. Sicherlich nahm er es auch nicht allzu ernst damit, oder vielleicht doch, ich weiß es nicht.
Dennoch ist sein Cellokonzert, dass ich neulich wieder in Hamburg hören durfte, in einer schönen und hervorragend musizierten Aufführung, mit Verlaub….einfach shit.
Es ist nicht shit, weil es sein Herz nicht am richtigen Platz trägt. Ganz im Gegenteil – das Cellokonzert will eigentlich das richtige: Es will die Transgression, die Grenzüberschreitung, die Provokation. All dies ist mir zutiefst sympathisch! Das Stilwirrwarr? Geht in Ordnung – Stillosigkeit ist der Beginn guten Komponierens. Der schlechte Geschmack? Geht in Ordnung – guter Geschmack resultiert meistens in dem langweiligen Murks, den man gemeinhin als „geschmackvolle Musik“ bezeichnet, und wer will das schon! Die Improvisationseinlagen, die Verstärkung des Cellos, die rotzigen Bläsereinwürfe? Gehen in Ordnung, gehen in Ordnung.
Das einzige Problem dabei: sie sind halt nicht gut komponiert. Im Stilimitat ist Gulda – und das ist ihm aufgrund mangelnder Komponiererfahrung gar nicht mal vorzuwerfen – erschreckend bieder. Imitiert er Schubert, reduziert er ihn auf alpenländische Hornquinten und Tonika und Dominante. Imitiert er Schumann, klaut er einfach die beste Akkordwendung der „Träumerei“, ohne einen Ton zu ändern. Imitiert er Jazz, so bringt er genau die Akkorde, die man von einer jazzigen Passage erwartet, quasi das, was einem als allererstes einfallen würde, wenn man sich ans Klavier setzte und den Auftrag „spiel mal was jazziges“ zu erfüllen hätte.
Und so weiter: die lange Cellokadenz nudelt sich an den typischen Neue-Musik-Dissonanzen ab, ohne diesen irgendeinen Mehrwert oder gar Originalität zu entlocken. Wenn ein Teil funktioniert, wird er einfach wörtlich wiederholt. Und schlimmer noch: es gibt überhaupt keine Übergänge, keine Entwicklungen, alles folgt blockartig aufeinander, ohne weitergehende thematische Verknüpfungen, die übergreifenden Sinn ergeben.
Ich bleibe dabei: Guldas Cellokonzert nervt. Zumindest mich. Ganz besonders dann, wenn – wie auch in Hamburg – frenetisch applaudiert wird, alle begeistert sind, weil Klassik ja doch mal so schön anders klingen kann. Tut sie aber gar nicht, sie klingt nur so wie halt leider oft in heutigen Klassikprogrammen: schön allein an der Oberfläche.
Aber vielleicht ärgert mich Guldas Cellokonzert vor allem deswegen, weil die Idee dahinter so gut ist, die Mittel für deren kompositorische Ausführung aber einfach nicht vorhanden waren. Das hat dann zum Beispiel ein Schnittke in seinen Concerti Grossi wesentlich raffinierter und abgründiger hingekriegt.
Aber wie man es dreht und wendet: knapp vorbei ist auch daneben.
Verzeih mir, Friedrich, ich liebe Dich trotzdem!
Moritz Eggert
Komponist
Dein „Trotzdem“, Moritz, möchte ich trotzdem unterstreichen… Ein kleines Video (aus einer Loft-Produktion), bei der es einem warm ums Herz wird:
http://youtu.be/rL7g4hBb9TE
Word! Schon nach den ersten Sekunden des Konzerts geht mir die Hutschnur asymmetrisch nach oben. Es ist kaum erträglich. Das ist das Prinzip „Bob Ross“ auf Musik angewandt, wobei der zumindest malen konnte, aber eben nicht künstlern. Die Drum-Parts sind so dumpf-bieder, dass ich abwechselnd an protestantische Gottesdienste und Samstagabend-Fernsehballett-Einlagen denken muss. Wenn Gulda dann Klassisches imitiert, wird es ganz uninspiriert. Was er da schrammeln lässt, ist die akustische Variante des röhrenden Hirschs über Plüschsofa. Das Konzert ist nicht Stilpluralistisch, sondern eine Ansammlung von musikalischen Imitationen. Man ist geneigt zu glauben, Gulda hätte das komponiert, um sich über die verschiedenen, zitierten Stile lustig zu machen.
Ich könnt‘ kotzen!
Au weia, jetzt habe ich mich glatt durch dieses Konzert gezappt. Ich kannte es bisher nur vom Hörensagen.
Wenn man nun ein Stück komponierte, in dem all das vorkommt, was bei Gulda nicht vorkommt, ergäbe sich ein wohltuend kurzes Stück und man begriffe wieder einmal, warum Webern so kurze Stücke komponiert hat.
@ erbe: dito. Nur eines: ob Gulda-Cellodingens oder Webern „um die fünf kurze Sätze Dingens“: beides schustert ein/e Komponist/in heute in etwa ähnlich schnell zusammen. Mit einiger Routine gar Kurtag-Stilkopien, die so was wie eine Synthese aus beiden Haltungen wäre, „Stillosigkeit“… als „Beginn guten Komponierens“ sublimierend in einem erweiterten Webernstil.
Der „Erfolg“ des Gulda-Stückes erklärt sich vielleicht auch ein wenig aus eigenartigen Vorlieben von cellospielenden, die eben nicht nur Bach-Suiten, Haydn-, Elgar- oder Dvorak-Konzerte oder Zimmermann-Studien oder Ligeti-Konzert die ganze Zeit spielen wollen. Irgendwie sind wir, ich spielte das Instrument auch einmal, zu kurz gekommen, begleiten selbst in den frühen Beethovensonaten eher als das wir wirklich von Cellosonaten sprechen könnten. Das führt dann zu seltsamen Werken, die berühmten Klassikern zugeordnet wurden und doch nicht von diesen sind, wie das „frühe“ kleine D-Dur-Konzert „von Haydn“ oder die Stamitz- statt Mozartkonzerte, von dem wir ausser einem Fagott-Cello-Duo und der fremden Bearbeitung eines Spieluhr-Solos nichts geschenkt bekamen. Wer dann nicht die Nerven für Schumann oder Brahms hat, spielt dann Goltermann oder Gulda. Ich fand das auch mal ganz „cool“, da es mein pubertäres und biederes Verständnis der sonst von mir ignorierten Rockmusik „ganz lustig“ einbaute. Da bleibt mir heute nur Fremdschämen. Aber irgendwie scheint es einige Cellospielenden-Seelchen heute immer noch in seinem zusammengeklebten Sammelsurium von all den Klischees „berühmter Momente“ zu begeistern. Man versteht dies nur aus der Perspektive eines Cellisten, wenn man sich dem professionell annähern will. So ergötzen sich gerne auch Schulmusik-Cellisten daran, die totalen Exoten unter den „Grossmutterkastenträger“-Exoten. Aus der Ecke ertappe ich mich, wie ich selbst heute all das mediokre Gestöpsel verachtend und sich doch irgendwie an die vergangene Sympathie ein wenig gerne erinnernd, den simplen Themenkomplexe umschaltenden Triller bei in etwas Minute zwei amüsant finde, wie aus Pseudo-Rock in Pseudo-Mondsee-Fagott-Akkordbrechungen und Klarinettenterzen gezappt wird. Das war’s dann aber auch. Geheilt! Danke, Moritz!!
Ja, ja, lieber AS, die Cellospieler tragen die Schuld an dieser Misere. ;-)
Sie wollen einfach nicht nur Unter- und Mittelstimmen spielen, sondern wollen hoch hinaus.
Dabei wissen wir heute doch, dass die Mittelstimmen den Darm fibrieren lassen, das Organ, dessen Zustand nach der Meinung meines Hausarztes das Gemüt des Menschen fest im Griff hat. Richard Wagner, dieser Schlingel, wusste das auch schon, denke ich.
Ja, Wagner wusste das: er führt im Tristan – Vorspiel T. 24 – 28 die Celli in hoher Lage
über die 1. und 2. Violine und über die Viola. In T. 57 – 60 über die 2. Violine und Viola
zum d2 hinauf. Aber Wagner hat kein Cello – Konzert mit einer schönen langen Kadenz und vielen Dreiklängen in G-Dur komponiert. Darum hassen ihn heute noch alle Cellisten…
Im Dritten Aufzug, zweite Szene, gehen die Celli ab T. 1298 auch über die Viola zum Es2, dann ab T. 1300 über 1. und 2. Violine und Viola hinaus – bei der Regieanweisung: „Isolde eilt atemlos herein. Tristan, seiner nicht mächtig, stürzt sich ihr schwankend entgegen. In der Mitte der Bühne begegnen sie sich; sie empfängt ihn in ihren Armen. Tristan sinkt langsam in ihren Armen zu Boden…“ Sie sehen, lieber Guntram, bei Wagner ist leider für die Celli nicht immer Unter-und Mittelstimme angesagt; sie dürfen durchaus „hoch hinaus“. Wagner ist dann wohl nichts für Darmleidende, denke ich.
Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt. Ich meinte keineswegs, dass Wagner den Celli nur Mittel- und Unterstimmen zugedacht hat, sondern, dass er es beherrscht hat, Mittelstimmen – wie von mir im zweiten Absatz angedeutet – einzusetzen.
Also ich finde dieses Cellokonzert gar nicht so furchbar, wie das hier z.T. anklingt. Diese österreichisch-alpine Jodelklub-Atmosphäre ist doch gut getroffen, sogar mit der Einkleidung in eine sinfonische Tracht. Der Jodelklub gehört zwar einem anderen sozialen Ort an als der urbane Neutönerklub, doch das ist nicht a priori schlechter. Und das Ganze finde ich grundehrlich und genau so ungeschützt wie dort, wo sich Gulda in der Performance mit Ursula Anders nackt hinstellt, in seine Flöte bläst und schreit: „Ich bin auch verrückt!“
Heute gibt es doch viele Alternativen. Wem Guldas Cellokonzert zu harmlos-harmonisch klingt, kann sich z.B. bei Lachenmanns „Pression“ satthören. Das macht auf andere Weise ja auch Spaß, und es ist sogar leichter zu hören, denn man braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man es gut findet. :-)
Ich kann aber verstehen, wenn ein Komponist gegen Gulda rebelliert. Da prallen eben verschiedene Ästhetiken aufeinander.
Nein, was Moritz geschrieben hat, hat mit Rebellion gegen Gulda (ist er ein Potentat oder was?) nichts zu tun, auch nicht explizit mit verschiedenen Ästhetiken. Er hat einfach die kompositorischen Schwächen des Cellokonzertes angedeutet. Die hätte er natürlich takt- oder minuten/sekundenweise belegen können. Er hat es uns erspart.
Zum obigen Video: Humor ist, wenn man trotzdem lacht (volkstümliche Dialektik)
Das würde mich aber jetzt interessieren, nach welchen Kriterien man kompositorische Schwächen Takt für Takt nachweisen kann. Gilt die Harmonielehre, der Palestrina-Kontrapunkt, die abzählbare Zwölftonreihe, die „fortschrittliche Materialbehandlung“, das Dekonstruktivitätspotenzial, der Komplexitätsfaktor? etc. etc. Das sind doch in der sogenannt Neuen Musik alles relative Begriffe geworden. Sogar die Unspielbarkeit ist zu einem positiv besetzten Begriff geworden, man muss nicht einmal mehr Berlioz‘ Instrumentationslehre in den Händen gehabt haben, um für Orchester zu schreiben, es läuft einfach unter „experimenteller Instrumentalbehandlung“. (Ob man das gut findet oder nicht, ist natürlich ebenfalls relativ…) Das heißt: Je nach kritischem Werkzeug kann man in jeder heutigen Komposition reihenweise kompositorische Schwächen entdecken. Genauso wie in einer Bossa-Nova-Nummer von Tom Jobim, die merkwürdigerweise aber trotzdem als gut empfunden wird…
Also es tut mir leid, aber objektive „Gewissheiten“ sind mir zunehmend abhanden gekommen. Ein halbwegs einleuchtendes Kriterium liegt vielleicht nur noch im Verhältnis von Absicht und Resultat (bezogen auf den Komponisten und sein Werk). Der Rest besteht aus subjektiven Meinungen und Vorlieben (die auch gruppenweise gelten können).
Wenn ich publikumswirksam komponieren möchte, verwende ich also am besten „Herzstücke“ eines Genres und baue sie in einem anderen Genre ein? Am besten so, dass die Erkennung direkt funktioniert?
Beispiele für solche erfolgreichen „Transplantationen“ fallen mir einige ein. Bluesrock lebt davon und wenn ich mir Keith Richards anschaue und anhören, ist er wohl der Vorzeigepatient.
@M.N.:
Da müsste nun Moritz Eggert antworten; denn ich will ihm ja nichts unterstellen.
Übrigens:
Mit „takt- oder minuten/sekundenweise“ meinte ich nicht „Takt für Takt“, sondern dass es möglich wäre, die Schwächen an einzeln benennbaren Takten und auf dem Video an zeitlich genau fixierbaren Stellen aufzuzeigen.
Mit kompositorischen Schwächen meine ich (vielleicht auch Moritz Eggert) die Machart und die Verarbeitung im Vergleich zu denen der kompilierten Stile; aber wie gesagt, dazu kann sich Moritz ja selbst äußern .
alles klar, danke.
Übrigens, noch ein Nachtrag zur Relativität der Kriterien: Wahrscheinlich ist das nur auf musikalisch-technische Aspekte zu beziehen, ein verhältnismäßig abgeschlossenes Spielfeld. In einer gesamtgesellschaftlichen Wertediskussion hat die Frage der Relativität m.E. eine gehörige Brisanz.
Zum Kommentar von Max Nyffeler, 26. Nov.11.24 Uhr.
Das würde in letzter Konsequenz aber bedeuten, dass heute keine Wertungen von Kompositionen mehr möglich sind. (?) Will sagen, dass es nur noch auf die jeweilige
Messlatte oder den Masstab ankommt, den ein Wertender nach seinem Gutdünken beliebt anzulegen und nicht mehr auf die Komposition selbst? Ein Klavierstück von Erik Satie, wäre nach den Kriterien der Zwölftontechnik eine Katastrophe; eine Zwölftonkomposition wäre eine Katastrophe, würde man die Regeln der Palestrina – Polyphonie anlegen…Hätte man zwei heute komponierte Stücke zu bewerten, das eine wäre eine vom Computer aufgezeichnete Improvisation von völlig frei ohne jede Regel angeschlagenen Tönen auf dem Klavier; das andere ein komplex ausgearbeitetes Klavierstück nach den Regeln der traditionellen Polyphonie, so könnte ein Wertender heute alles hineinlegen.
Er könnte sagen, das völlig freie Stück wäre eine Befreiung von allem tradierten Ballast, eine reine Freude am Experimentieren ohne jeden Zwang, eine Lust an der Provokation. Das andere aber sei ein reaktionäres Gebilde, welches mit Stilmittel der Vergangenheit arbeite. Er könnte aber auch sagen, das eine sie eine kunstvolle Komposition und es bedürfe viel Arbeit und Zeit die Regeln der Polyphonie zu erlernen, während das andere auch ohne jegliche musikalische Vorbildung möglich sei. Hat uns die totale Freiheit in die totale Wertlosigkeit , die totale Willkür geführt? Ein erschreckender Gedanke…
@Eberhard Klotz: Das ist gut auf den Punkt gebracht. So deutlich wollte ich ja eigentlich gar nicht werden. Damit die Beliebigkeit (oft mit „Individualität“ verwechselt) des meinenden Urteils nicht allzu offensichtlich ist, schließt sich der Meinende dann oft einer der gerade herrschenden Meinungskonjunkturen, Machtkonstellationen oder Gruppenideologien an. Das entlastet, denn in einer Gruppe (früher sprach man auch von „Schule“) ist man von Gleichgesinnten umgeben. Diese Kollektivität erzeugt den Schein von Relevanz und Objektivität, ist aber reine Selbsttäuschung. (Auch die „historischen Notwendigkeit“ oder „Fortschrittlichkeit“, das letzte vermeintlich objektive Kriteriensystem, ist so eine Selbsttäuschung und längst als technoide Ideologie entlarvt.) Nicht zu vergessen die Macht der Institutionen: Je mächtiger eine Institution ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie und desto eher werden die von ihr vertretenen Maßstäbe respektiert. Hier ist vermutlich eine der Quellen der Begriffskonstruktion „Objektivität des Urteils“.
Also ich finde, man sollte sich keine Illusionen über eine aus der Sache heraus begründbare Objektivität der ästhetischen Kriterien machen. Der ästhetische Wert eines Werks/eines Stils/einer Idee liegt nicht in der aufs Papier gebrachten Notenkonstellation, sondern entsteht erst durch das bestimmte Interesse, das ihr von einer gesellschaftlichen Gruppe, einer Institution oder einem Einzelnen entgegengebracht wird. Diese interessieren sich für die Notenkonstellation, weil sie sich darin symbolisch repräsentiert fühlen, also aus funktionalen Gründen. Die Notenkonstellation als solche interessiert die meisten nicht (die ist nur interessant für uns Insider).
Das war schon bei den Reinaissancefürsten so und ist auch heute noch so, nur sind es heute nicht mehr absolute Fürsten, die entscheiden. Und bei der heutigen gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit sind dann eben auch die ästhetischen Kritierien entsprechend orientierungslos und kleinteilig gegeneinander gerichtet.
„Das ist gut auf den Punkt gebracht.“
Was Moritz Eggert so geschrieben hat und was andere Leute dazu zu sagen haben (hatten) ist in unserer orientierungslosen Welt so viel wert wie das, was nicht geschrieben und gesagt worden ist; denn alles ist ja eh für irgendjemanden sowas von irrelevant; insgesamt ist eigentlich nur dem Ungesagten zuzustimmen, begäbe man sich damit nicht unbedenklich in einen bedenklichen Widerspruch zu sich selbst. Und das gilt es schließlich zu verhindern.
Soviel Kulturpessimismus wegen dieses „Spassetels“. „Hätten’s doch lieber Beethoven gspuit.“ So kreist es mir durch den Kopf. Der ganze Gulda’sche Zynismus, der sich hinter diesem „Konzertl“ verbirgt, der scheint das Konzept zu sein. Wenn also der Friedrich den Heinrich mit seinem Konzert von einem anstehendem Beethovenzyklus fernhalten wollte, ihm seinen hingeleimten Spass ans Bein band, mit dessen zunehmenden Erfolg der beethovensche Cellosonatenzyklusplan immer mehr abnahm, könnte man ja ob soviel Bösartigkeit und Häme in Blosslegung des schlechten Publikumsgeschmacks und Blossstellung des Cellosolisten seinen Frieden mit dem Machwerk finden, s. all dies im Video des ersten Kommentars von Hr. Nyffeler. Aber er verteidigt sein Werk als gehobenen Humor im Gegensatz zum niedrigen Spass des Publikums dabei. Wenn man die Stilanklänge als kleine Hommagen an die darin geliebten Musikvorbilder wiederum allein betrachtet, findet man im postulierten hohen Anspruch Guldas und den dann nur „realexistierenden“ stilistischen Allgemeinplätzen doch einen arg gewaltigen unauflösbaren Widerspruch des „konzeptuellen Gehalts“.
Allerdings muss man Gulda wohl auch nicht mit seinen Worten und Texten auf die Gulda-Waage legen. Wenn er das Konzert leitete, sah man den sich gewohnt abarbeitenden Schiff und per Gesichtsausdruck spassenden Gulda, der damit erst Recht den von ihm inkriminierten „Spassetl“-Charakter unterstrich. Das brächte es wieder ins rechte Lot. Aber dann gibt es noch das eine Problem: das des ersten Eindrucks, den einige hier beschrieben. Dass man durchaus erst einmal positiv auf das stilistisch Aufbrechen der Themenkomplexe eines ersten Konzertsatzes erlebte, dass jemand ungeniert Klassiker, Romantiker, Jazz und Rock samt Volksmusik nebeneinander stellt. Das ist für den Anfang vollkommen ausreichend. Aber auch für mehr nicht. Es sei denn, man überführt das Spassen der Interpreten und die dem Publikum häppchengerechten Allusionen ins Repertoire. Dann ist es nichts anderes als es heute die Blasmusikversionen von Eric Whitacrescher Chormusik sind. Also war das Provokation von Anfang im „best-neighbor-boy“-Stil, der in seinem gehobenem Milieu den badboy gibt. Und mehr Wert waren die Provokationen Guldas allesamt nicht! Klar, sein Jazz war nicht ungekonnt. Aber es war dann doch v.a. Jazz, wie er in die Mäulchen von Klassikliebhabern passte, die sich zwar über die Taftfrisuren der vorderen Reihen aufregten, aber mit ihren Vorlieben denen doch näherstanden als denen ihrer z.B. studentischen Gleichaltrigen. Das erklärt mir auch heute, warum mein damaliger Musiklehrer, erst kurz verbeamtet, immer auf Karajan schimpfend, aber ein Pedant in „Alter Musik“, „bestfriend“ aller SchülerInnen, mässig Bigband leitend, das Stück so toll fand: da trafen Ende der Achtziger hier im Süddeutschen viele alternativlose Altersnaive auf das richtige Stück des richtigen Solisten. Das erklärt aber nebenbei auch, warum nicht nur durch Stundenkürzungen die Qualität des gymnasialen Musikunterrichts sank, statt langweilig strikt geübtem Repertoire lässig in die Breite geschludert wurde. Aber nur nebenbei.
Eigentlich wäre es ziemlich egal, wie sich die Allusionen des Cello-Blasorchesterkonzerts für sich bewerten lassen, wenn eben diese nicht nebeneinandergestellt worden wären – was Gulda vielleicht mit seiner Liebe zu Schuberts fast übergangslosen Sonatenthemenkomplexe begründen könnte, sondern kombiniert, manche würden sagen „komponiert“, eine Art Synthese, zumindest ein, zweimal gezogen worden wäre. Stattdessen konventionelle Blockformen rauf und runter, ohne nennenswerte Varianten, es sei denn virtuose Spielfiguren für den Solisten bei der Wiederholung. Wie gesagt, mein erster Eindruck und bleibend in der Erinnerung meiner ersten irritierten Begeisterung war der non-chalante Übergangstriller in der „Ouvertüre“ zwischen erstem und zweitem Thema, zwischen Rock und Gassenschubertl. Beim zweiten Male trillert es sich in von einer in die gleiche Tonart – ganz scheusslich. Ich bin die Tage nun mit Anti-NLP dieser Erinnerung beschäftigt. Hätte er wenigstens im letzten Satz all seine Themen oder auch nur das ruhige des 2. Satzes und erste das 1. Satzes übereinandergelegt oder allein schon im ersten die Begleitfloskel des einen Teils im anderen weiterbenutzt, dann könnte man von Komposition sprechen. So ist es eine streng in klassischen Lehrbuchmustern aufgeschgeschriebene Klassikrockimpro eines klassisch begabten, durchschnittlichen Popularjazzers.
@ Guntram Erbe, das erinnert mich an folgenden Dialog:
POLONIUS
Was leset Ihr, mein Prinz?
HAMLET
Worte, Worte, Worte.
POLONIUS
Aber wovon handelt es?
HAMLET
Wer handelt?
Damit keine Missverständnisse aufkommen, liefere ich das vergessene Smiley zu meinem letzten Beitrag noch nach:
http://t1.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcQ3lslU4ScUfPSNd5XA-8-4WXgHSPbPxSGqD1c5xN0jfNgrfsgjbu1U2Lk
Apropos – wie wäre es mal einer Blasorchesterversion von Killmayers Cello-Klavier-Romanzen und Romanzen? Würde ggf. einiges darin nicht so gut zur Geltung bringen wie in der Klavierfassung. Aber es würde verdeutlichen, was wunderbares an Anspielungen mit klassisch-romantischen Material möglich ist. Mögen die Stücke evtl. auch schon vor dem Zerwürfnis Schiff/Gulda beauftragt worden sein, entstanden sie unmittelbar nach der anscheinend „never-ending“-Erfolgslinie des Guldakonzerts-UA-Duos…
@Guntram Erbe: Schon verstanden, auch ohne smiley. (Ich kriege diese verdammten Dinge hier auch nicht hin.) :-(
So viele Worte profunder Denker für ein musikalisches Nichts, über dessen Kreativ-Vakuum sich Gulda sicher am allermeisten bewusst war…
…man sollte dieses Werk einfach auch unter dem Aspekt seiner Entstehung sehen: Ein junger Cellist namens Heinrich Schiff möchte nichts lieber, als mit dem großen Meister Gulda die Beethoven-Sonaten zu spielen. Dieser, von seiner Zusammenarbeit mit Pierre Fournier geprägt, hat sich geschworen, diese Sonaten mit keinem anderen Cellisten mehr aufzuführen. Überlieferte Antwort auf Schiff´s Ansinnen: “ I kenn di ja goar ned, – I weiß bloß, dasd Cello spuisd und wahnsinnig schwitzt dabei“. Ende vom Lied: Schiff gelingt es letztlich, dem Meister eine Komposition abzuringen, eben jenes Cellokonzert. Der Erfolg war ihm (Gulda) zeitlebens unangenehm, da er sich eben genau wie im vorherigen Kommentar bemerkt „des Kreativ-Vakuums bewusst war“….
Lieber Moritz,
Herzlichen Dank für den erheiternden Kommentar zu Guldas Cellokonzert!
Als Ausführender und Schaffender (Cellist, Komponist) hat mich Guldas Stück immer mit aufgerissenen Augen und großen Fragezeichen zurückgelassen! Spielt man es, fetzt es tatsächlich weil man erstmal Lust hat all das Zitathafte zu entdecken. Bis zur Kadenz, unsäglich lang. Ist mal der erste Spaß weg muss man oftmals trotz Verstärkung rotzen und trotzen, man kann sich eigentlich nie auf das “Orchester“ draufsetzen. Ein schwitzender Heinrich Schiff ist eine beeindruckende Figur, ein großartiger Musiker der das Stück durch seine pure Präsenz schon zum Tragen bringt! Im Übrigen ist das bei vielen, noch fragwürdigeren Kompositionen die Schiff interpretierte, der Fall!
Aber jetzt, nach all den Jahren des Auf und Abs des Guldaschen Cellokonzerts gibt es so viele Cellisten die sich mit dem Stück mühen und dann fallen die kompositorischen Mängel noch mehr auf!
Der Laie, das ist nun mal fakt, wird das wohl nicht merken. Für diesen hat Gulda aber sein Werk wohl angelegt und somit zum Erfolg gebracht. In der Historie gibt es aber ja auch andere “Gulda-Komponisten“ die das Publikum mit halbgaren Stücken begeistert haben.
Das hat fast Tradition.
Mein Fazit: Ohne einen Schiff auf der Bühne ist Guldas Stück noch augenfälliger banal und arm an Kunst. Mit einem schwitzenden, engagierten und obendrein vielleicht wirklich Nicht-Klassischen Cellisten kann sich das Stück womöglich noch ein wenig länger halten. An der Kunst wird sich freilich nichts ändern.
Ich bin enttäuscht, dass ein Musikkritiker wie Max Nyffeler vor dem ästhetischen Urteil kapituliert, und es in der Macht von Gruppenideologien und Institutionen aufgehen lässt. Dass wir die Kriterien selber machen, heisst jedoch nicht, dass es keine Objektivität gibt. In der Naturwissenschaft ist das nämlich genau gleich wie bei den Kunstwerken: anhand von Formeln und Gesetzen, die wir selber entworfen haben, modellieren wir die Realität. Das ist der konstruktive Anteil. Doch wie der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking mit der Frage «The social construction of what?» andeutet, können wir nicht nur konstruieren, sondern da ist auch etwas, an dem wir uns reiben: die Materie, die Objekte, irgendein X. In der Kunst sind das die Kunstwerke. Und da meine ich, dass sich Qualitätsunterschiede feststellen lassen.
In einem bestimmten Stil (auch wenn es sich um einen Eklektizismus handelt) muss sich der Gegenstand bewähren können. Wie Moritz Eggert andeutet, gibt es einen Qualitätsunterschied zwischen dem Cellokonzert von Gulda und bspw. dem 1. von Schnittke. Ein weiteres Meisterwerk eines Eklektikers ist m.E. die «Mass» von Leonard Bernstein. Die Polystilistik ist dort absolut schlüssig eingesetzt und man hört trotz der Eklektik, dass es sich um Bernstein handelt. Es geht letztlich gar nicht darum, dass man einen Stil von einem anderen Stil aus kritisiert.
Man kann auch bei 12-Ton-Komponisten Qualitätsunterschiede feststellen. Vielleicht wird da jemand protestieren, aber Eislers «14 Arten, den Regen zu beschreiben» oder Schönbergs «Moses und Aron» sind für mich ungleich differenzierter als der späte Strawinsky oder Kreneks «Karl V.». Und die «Dialoghi» für Cello und Orchester von Dallapiccola sind ein Meisterwerk.
Wie auch immer dem sei, Qualitätsunterschiede lassen sich auch innerhalb eines Werkkatalogs der Komponisten selber festmachen. Wer will behaupten, dass alle Streichquartette von Mozart gleichrangig sind? Wer will die frühen Symphonien von Dvořák über seine späten stellen? Wer will behaupten, dass alle Spätwerke von Morton Feldman oder alle Konzerte von Vivaldi gleichermassen interessant sind? Wenn Relevanz und Objektivität gemäss Max Nyffeler nur eine Selbsttäuschung wären und Komponisten oder Interpreten nur dieselbe Machtkonstellation erfüllten wie Alphatiere im Tierreich, dann würden wir aus gewissen Werken und Interpretationen gar nicht die besondere Kraft spüren, die sie ausstrahlen, und könnten – wenigstens unter Menschen, die ihren Hörsinn auch aktiv gebrauchen – nicht mehr oder weniger in bestimmten Urteilen übereinstimmen.