Mythos Überalterung. Das vernachlässigte Publikum.

Ach, es ist wieder in alle Munde – das Publikum über 60, das Publikum ohne Zukunft (angeblich). Wie oft wurde es schon beschworen! Schon Paul Hindemith bemerkte in den 20er Jahren, dass das grauhaarige Publikum ja nicht mehr lange frisch bleiben würde und die klassische und moderne Musik damit dem Untergang geweiht sei. Immerhin hat dieses Publikum es bis heute, 2014, noch ganz gut geschafft, die 60jährigen von damals sind also jetzt 134 Jahre und aufwärts. Oder sind es überhaupt die selben 60jährigen? Natürlich nicht!

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Das große Paradoxon unserer Zeit ist, dass wir einerseits immer älter werden und unsere Lebenserwartung stetig steigt (während es zumindest in Europa immer weniger junge Menschen gibt, das Durchschnittsalter also rein statistisch stetig zunimmt)…und wir dennoch so tun, als sei mit 60 das Leben quasi gelaufen und nicht mehr lebenswert. Wer 60 wird, verschwindet plötzlich vom Radar des Interesses – 60jährige sind nicht hip, wahrscheinlich weil es relativ viele davon gibt. Dabei sind die meisten 60jährigen noch ziemlich gesund, und sie haben auch meistens mehr Zeit als die gehetzten 20-50jährigen, die noch ihrer Karriere hinterherrennen, mit der Familiengründung beschäftigt sind, ihre Bafög oder Kredite abzahlen und sich generell in der unerbittlichen Leistungsmühle unserer Gesellschaft abstrampeln.

60jährige haben nicht nur mehr Zeit, sie können sich auch oft mehr in die Dinge vertiefen. Sie entdecken plötzlich Sachen, für die sie sich vorher nicht interessiert haben. Zum Beispiel gehen sie ins Museum, ins Theater, oder – huch – in klassische Konzerte. Und da die 60jährigen im Schnitt noch 20 Jahre leben, haben sie dafür auch noch eine Menge Zeit. Und wer weiß, vielleicht sind die dann 80jährigen statistisch in 20 Jahren noch recht jung, weil dann die Lebenserwartung noch einmal gestiegen ist.

Das spießigste Publikum das ich kenne ist so um die 40. Dort begegnet man den meisten Vorurteilen, weil 40-jährige meistens das Gefühl haben, schon alles zu wissen. Das junge Publikum ist offener, das alte aber auch, denn die kennen im besten Fall einfach mehr und haben höchstwahrscheinlich noch von einer besseren Schulbildung profitiert, die den meisten heutigen Politikern komplett abzugehen scheint.

Wie wenig wert aber das ältere Publikum entgegen dieser doch recht simplen Einsichten ist, beweist die ganze Debatte um die drohende Digitalisierung von BR Klassik, die hier sehr gut zusammengefasst ist. . Da gibt es also ca. 260.000 (was eine Menge ist) Stammhörer, deren einziger „Makel“ es ist, meistens über 60 zu sein, und zum größten Teil noch das gute alte Radio über UKW bevorzugen. Gleichzeitig gibt es eine vollkommen unbekannte Zahl von jungen Hörern, die größtenteils ihre Inhalte über Internet beziehen, die man aber irgendwie locken will, da man Angst hat, dass die 60jährigen bald wegsterben. Was macht man also? Man nimmt den 60-jährigen ihr Radio weg, indem man es in ein Medium überführt, das sie nicht nutzen, und man erschafft einen Jugendsender, der wiederum ein Medium nutzt, das die Jugendlichen gar nicht mehr kennen. Super Idee!

Warum denkt man überhaupt, dass die 60jährigen jeden Moment wegsterben? Denn wenn die momentanen 60jährigen in vielen, vielen Jahren gestorben sind, sind sie schon längst durch die momentan 30-40jährigen ersetzt und es gibt wieder ganz viele 60-jährige. Wenn man es ganz genau nimmt, gibt es eigentlich immer 60jährige, und das Klassikpublikum war schon immer zu alt.

Schauen wir doch mal in die Vergangenheit – erst 1750 begann die durchschnittliche Lebenserwartung im zum Beispiel deutschen Sprachraum allmählich zu steigen. Bis dahin war das Durchschnittsalter bei Männern eher um die 35 Jahre, also kaum älter als Mozart wurde! Der ist also gar nicht tragisch „jung“ gestorben, sondern nur ein klein bisschen früher als die meisten seiner Mitmenschen.

Was wohl das Durchschnittsalter des damaligen Konzertbesuchers war? Schwer zu sagen, denn sicherlich lag die Lebenserwartung bei Reichen und Adeligen höher als die der Durchschnittsbevölkerung, insofern war wohl das Durchschnittsalter bei der Premiere der „Zauberflöte“ sicherlich niedriger als das bei der Premiere von „Idomeneo“. Wie auch immer aber das Durchschnittsalter war – ich nehme mal an so um die 30 – die Zuschauer befanden sich statistisch gesehen schon mit einem Bein im Grab und hatten nicht mehr lange zu leben! Sie waren älter als die 60jährigen heute!

Inwieweit ein Jugendsender wie der vom BR geplante „Puls“-Sender damals überhaupt eine Chance gehabt hätte, ist fraglich, war doch gerade die Sterblichkeit unter Kindern und Jugendlichen besonders hoch, da sie durch (heute oft leicht heilbare) Krankheiten in Scharen dahingerafft wurden. Hätte es damals Radio gegeben, wäre niemand auf die Idee gekommen, einen hippen und coolen Jugendsender zu gründen, denn auf das Überleben der Kinder und Jugendlichen konnte man sich kaum verlassen – lieber noch ein bisschen Musik für die 20-30jährigen bevor sie abnippeln! Klassik natürlich, gab ja nichts anderes damals!

Wir stellen also fest: das so genannte „junge“ Publikum von damals war in Wirklichkeit älter als das heutige, denn es hatte im Schnitt weniger lang zu leben als die heutigen 60jährigen, und weiße Haare hatten nicht nur einige sondern quasi alle, wegen der dämlichen Perücken, die damals so en vogue waren.

In Wirklichkeit hat die klassische Musik also heutzutage das vergleichsweise jüngste, hippeste und coolste Publikum, das es jemals in seiner Geschichte hatte. Und egal wie alt man sich selber mit 60 fühlt, eines weiß man doch sicher…

…dass man immer noch jünger als die Rolling Stones ist.

Moritz Eggert

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10 Antworten

  1. huffi sagt:

    Kann ich voll unterschreiben

  2. Fabian sagt:

    Lieber Herr Eggert,

    der Intension Ihres Blogs kann ich voll und ganz zustimmen und den Argumenten zu dieser auch zum größten Teil.
    Anzumerken bleibt jedoch, dass
    1. im Altersdurchschnitt vergangener Jahrhunderte die Kindersterblichkeit mit eingerechnet war. Wenn diese also hoch war, sind auch viele Menschen mit geringem Alter gestorben – demzufolge ist das Durchschnittsalter gering. Das heißt wiederum, dass die Menschen nicht tatsächlich nur kurz über 30 wurden, wenn sie aus dem schwierigsten Kinderjahren kamen, sondern sehr viel älter, nämlich 40 bis teils über 70 (im Durchschnitt, wenn man die Kindersterblichkeit außer Acht ließe). Von daher stimmt die Argumentation in den Punkten nicht, in denen Sie das Durchschnittsalter bspw. etwas höher als Mozarts Lebensalter ansetzen.
    2. es in dieser Zeit nicht nur klassische Musik gab. Das ist ein Trugschluss. Klassische Musik wurde notiert und ist deshalb bis heute erhalten. Bei Volkslieder ist das nur zum Teil der Fall und diese wurden oft auch nur mündlich weiter gegeben, bis sie zumeist im 19. Jahrhundert eine Verschriftlichung erfuhren. Noch schlechter sieht es bei andere Unterhaltungsmusik aus früheren Jahrhunderten aus. Es gab sie, sogar sehr verbreitet, nur ist sie uns heute kaum noch präsent, da die Tradierungslinie unterbrochen wurde.
    Ansonsten stimme ich Ihnen, wie schon voran gesagt vollkommen zu.

  3. Simon Albrecht sagt:

    Sehr geehrter Herr Eggert,

    was die Lebenserwartung im 18. Jahrhundert betrifft, teile ich Ihre Einschätzung nicht: In allen Durchschnittswerten ist immer eine sehr hohe Säuglings-/Kindersterblichkeit einbezogen, aber von denen, die das Erwachsenenalter erreicht haben, sind durchaus viele 60 oder 80 geworden. Auch wenn natürlich weitaus mehr Leute als heutzutage in den „besten” Jahren (also 20er, 30er, 40er) gestorben sind. Aber eine Mehrheit waren sie nach meinem Eindruck (der vor allem aus den Lebensdaten von Komponisten gespeist ist…) nicht.

  4. Robert Helmschrott sagt:

    Lieber Moritz Eggert,
    Sie sollten Ihren Blog unbedingt an alle Rundfunkräte schicken. Die Namen sind auf der hp des BR aufgelistet. Es ist wichtig, dass die RR vor dem 10. Juli noch weiter nachdenklich gemacht werden. Ober Sie schreiben Ihnen überhaupt, dass PULS auf UKW auch nicht mehr Erfolg haben wird. Die kritischen Interventionen müssen von mehreren Seiten kommen.
    Saluti arrabiati
    Robert Helmschrott

  5. Etienne Abelin sagt:

    Hier einige Artikel und Zahlen, die doch in eine andere Richtung weisen als der Artikel es sich wünscht: http://www.artsjournal.com/sandow/2011/03/age_of_the_audience.html und http://www.dasorchester.de/de_DE/journal/showarticle,9580.html

  6. @Etienne: Eigentlich weisen Ihre Beispiele (die meisten davon übrigens anekdotisch und nicht fundiert recherchiert) überhaupt nicht in eine andere Richtung – in meinem Artikel verleugne ich gar nicht einen steigenden Altersdurchschnitt, sondern argumentiere, dass das ältere Publikum ein ganz natürlicher demographischer Prozess ist und in Wirklichkeit sogar „jünger“ ist, als das Publikum früher.

  7. Etienne Abelin sagt:

    @Moritz: mir scheint aber, dass Hamann (Link 2) anhand von durchaus fundiert recherchierten Daten zeigt, dass der „Periodeneffekt“, den Du annimmst, in Realität nicht so stark wirkt, wie wir uns das wünschen. Er vermutet einen nicht unerheblichen „Kohorteneffekt“ in Bezug auf das Klassikpublikum. „Ein Kohorteneffekt liegt vor, wenn alle oder einige einer Kohorte zugehörigen Personen während einer bestimmten Lebensphase besondere (Verhaltens-)Merkmale angenommen haben, z. B. aufgrund
    prägender zeitgeschichtlicher Verhältnisse oder Ereignisse, und diese Charakteristika für das weitere Leben mit sich führen.“ (Hamann, S. 12) Ein solches Verhaltensmerkmal ist beispielsweise die Entwicklung einer grundlegenden musikgeschmacklichen Orientierung in groben Musikgenres (Klassik, Pop/Rock, Jazz etc.) während einer Sozialisationsphase in Kindheit und Adoleszenz. (s. Hamann S. 13).
    Kannst Du Hamann’s Analyse widerlegen oder durch eigene Daten korrigieren?

  8. Ich glaube, man muss da nicht viel widerlegen, außer, dass es sich nicht belegen lässt. Ein Blick in Klaus-Ernst Behnes Studie „Musikerleben im Jugendalter“ (http://www.conbrio.de/content/buch/musikerleben-im-jugendalter) könnte einen sehr schnell belehren, wie komplex die Zusammenhänge sind. In Hannover ist mit 12 alles erledigt. Musikgeschmacklich (http://www.nmz.de/artikel/je-mehr-probleme-desto-intensiver-das-erleben-von-musik). Das heißt also, wenn Radio Sinn macht, dann nur im Alter davor. Danach ist die Welt verloren.

    Allerdings nur zum Teil. Kohorten bilden sich dummerweise später auch noch. Die Kohorten, die ins Theater gehen, die Kohorten, die am Baggersee baggern, die Kohorten, die gerne Krach machen … (da muss man dann auch mal über seinen eigenen Schatten springen).

    Am Ende wissen wir dank der Aeronauten, dass man ab 30 sowieso Countrymusik hört. https://www.youtube.com/watch?v=lqLIEuNa8kI&feature=kp

  9. Der Punkt ist nicht, dass ich Hamanns Analyse fundiert wiederlegen möchte, auch bin ich kein echter Statistiker, der jetzt hier Tabellen aufstellen oder Doktorarbeiten erstellen will, das wäre vermessen von mir.
    Umgekehrt misstraue ich aber auch selbst den wohlgemeintesten „wissenschaftlichen“ Analysen, die aus einem Trend einen solitären Pfeil in die Zukunft basteln – denn letztlich gibt es dann immer Gegentrends, soziologische Entwicklungen sind NIE linear und absolut vorhersehbar.

    Tatsache ist: Die Menschen werden älter und haben mehr Zeit. Und das ist noch nicht so lange so, daher kann man es noch gar nicht fundiert als Phänomen untersuchen. Mein Vorredner hatte ja Recht – die Kindersterblichkeit zieht die Statistik hinunter, viele Menschen wurden dennoch 90, auch schon im Mittelalter. Dennoch: es gab wesentlich mehr junge Menschen als alte, das ist ein Fakt. Heute ist es aber zunehmend umgekehrt (in Europa) und auch das ist ein Fakt.
    Viele entdecken neue Interessenfelder heutzutage erst, wenn sie schon in Rente oder die Kinder aus dem Haus sind, dann aber um so leidenschaftlicher. Es ist gar nicht so selten, dass Menschen erst im Alter Zeit für Kunst und Kultur haben – das sollte man ernster nehmen und nicht heruntermachen, Punkt.

    Umgekehrt scheinen die „Kohortenmechanismen“ durchaus noch gut pro klassische Musik zu funktionieren – wenn ich mir jedes Jahr an unserer Hochschule anschaue, welche Massen von jungen Menschen klassische Musik studieren wollen und wie hoch dann jeweils das Niveau ist, mache ich mir ehrlich gesagt nicht so große Sorgen. Und es wird ja der allgemeinen Kulturverdummung auch durchaus immer wieder erfolgreich entgegengearbeitet, es entstehen also neue Kohorten von jungen Menschen, die heute bei Kinderopern mitmachen, in Jugendorchestern mitspielen (zum Beispiel in der neu gegründeten Jugendorchesterschule Berlin, der Bad Blog berichtete), mit klassischer Musik sozialisiert werden (wahrscheinlich heute mehr als z.B. in den 80er Jahren, wo man kein Problembewusstsein hierfür hatte).
    Und die Kohorten die momentan für klassische Musik in z.B. Asien (China!) entstehen, lassen mich ehrlich gesagt ruhig schlafen, auch wenn uns der Blick auf unsere Kultur von dort oft befremdet. Das heißt aber nicht, dass diese Kohorten keine zunehmende Rolle in der Zukunft spielen würde, ganz im Gegenteil. Und das Interesse für klassische Musik in zum Beispiel China kam gerade deswegen so massiv auf, weil diese lange Zeit verboten und unterdrückt wurde, ausgerottet wurde sie aber dennoch nicht, obwohl mehrere Generationen vor allem mit kommunistischen Arbeiterliedern und Propagandamusik aufwuchsen und auch so „sozialisiert“ wurden.

    Man sieht also schnell, wie schwierig absolutistisch negative Argumentationen aufrecht zu erhalten sind, vor allem weil inzwischen kein Land der Welt mehr vollkommen isoliert ist und sich alles in ständigem Austausch und Fluss befindet.

  1. 13. März 2015

    […] an dem sie glauben, jüngere Menschen erreichen zu können, die Gründe dafür sind bekannt. Gut, die älteren Menschen sind vielleicht gar nicht so alt und gebrechlich, wie wir immer glauben, aber das ist ein anderes Thema. Wie aber erreiche ich […]