„Ist Musik atonal …“

Als berufstätiger Mensch kriegt man oft viel zu wenig davon mit, wie seine Kinder aufwachsen. Allein der Sommer mit seiner menschlichen Errungenschaft namens Urlaub bietet einem Gelegenheit, in Ausschnitten nachzuholen, was man das ganze Jahr über versäumt hat. Nachdem man sein Kind unter Vorlage eines Gentests, des Personalausweises und von Kontoauszügen davon überzeugt hat, dass es sich bei der eigenen Person tatsächlich um den leiblichen Vater handelt, wird man mit etwas Glück eingelassen in die Realität der kindlichen Phantasie. Alles was man dafür tun muss, ist: sich beim Cowboyspielen totschießen , beim Piratenspielen vom Hai fressen lassen und beim Fußball spielen bei jedem Wetter in den Matsch werfen. (Zum Glück war der Sommer trocken, dann wird man nur staubig.)

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Zu den glücklichsten Momenten für einen Vater, dessen Beruf das mit der Musik aufs Innigste verwobene Wortemachen ist, zählen natürlich jene Augenblicke, in denen er gemeinsam mit seinem Nachwuchs die holde Kunst genießen kann. Es ist dabei wichtig, sein Kind nicht von vorne herein mit Wagner-Opern zu langweilen – an Christian Thielemann kann man ja sehen, wozu so etwas führt! – sondern sich auch auf die kindliche Vorstellungswelt einzulassen und sich vielleicht gar einmal ein Lied aus dem Kindergarten vorsingen lassen. Mit etwas Glück kann man dabei zugleich die Fortschritte des Nachwuchses in Fremdsprachen begutachten, etwa bei einer Interpretation des Gangnam Style.

Sollte einen dies dazu verführen, nostalgisch in den eigenen Kindheitserinnerungen zu wühlen, welche musikalischen Einflüsse neben der Kassette „Benjamin Blümchen bei der freiwilligen Feuerwehr Neustadt“ mit dem unvergesslichen Auftritt der Feuerwehrkapelle unter Brandrat Lichterloh prägend waren, so kommen mir auf Anhieb einige Disney-Filme in den Sinn, die durch ihre Verbindung von animiertem Bild und schmissiger Musik im kindlichen Wahrnehmungsapparat einen Rausch erzeugen konnten, wie heute höchstens noch eine Klanginstallation von Ryoji Ikeda mit einem Tröpfchen LSD unter der Zunge.

Neben dem „Dschungelbuch“ – „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ – war „Aristocats“ in meiner Erinnerung der Film mit der schmissigsten Musik, die „Hookline“ des Songs „Katzen brauchen furchtbar viel Musik“ fiel mir unmittelbar wieder ein, als ich mich fragte, wie ich meinem Kind einen Beweis meiner Zuneigung und zugleich eine große Freude machen könnte. Beides gelang mir auf Anhieb. Und die Kratz- und Beißspuren, die ich mir zugezogen habe, wenn ich auf den impertinenten Gedanken verfallen bin, bei eben jenem Film die Pausentaste zu drücken, um endlich einmal wieder als Cowboy erschossen, als Pirat ertränkt oder als Torwart staubig zu werden, sind verhältnismäßig schnell verheilt.

Als es mir gelungen war mit Hilfe einer Wochenration Eiskrem mein Kind vor die Haustür zu locken, um es auf dem Spielplatz mit anderen durch ihre Eltern vom Medienkonsum abgehaltenen Kindern zusammen zu bringen und gerade dabei war, mir von der Mutter einer Kindergartenfreundin meines Kindes die Jodtinktur auf eine schwer zugängliche Stelle in meinem Nacken träufeln zu lassen, streifte ein Chor von Kinderstimmen mein Ohr, der, angeführt von meinem Sohn, breakdancend über den Spielplatz marodierte und dabei sang:

„Katzen brauchen furchtbar viel Musik! Musik und ein ganz kleines Stück vom ganz großen Glück! […]
Ist Musik atonal, wird sie uns gleich zur Qual, das muss grausam sein.“

Einige Kinder, die den Text noch nicht richtig konnten, sangen immer nur die Worte „Katzen“, „Musik“, „Stück“ und „Ist Musik atonal, wird sie uns gleich zur Qual“ mit.

Ich zuckte unter der Pipette so heftig zusammen, dass die Mutter der Kindergartenfreundin meines Kindes sich für Ihre Unachtsamkeit entschuldigen wollte. Doch sie besann sich eines anderen und beschimpfte mich mit schlimmen Ausdrücken von denen ich sicher war, dass sie diese nur von Ihrer Tochter aus dem Kindergarten gelernt haben konnte, nachdem sie bemerkt hatte, dass ich beim Aufspringen meine Mass Bier in ihre Designerhandtasche, ohne die sie niemals zum Spielplatz gehen würde, gekippt hatte.

Mein Sohn war zu überrascht um zu protestieren als ich ihn mir unter den Arm klemmte und dabei versuchte, ihm den Mund zu zu halten, während es ihm mit seinem jungen, doch überraschend kräfitgen Tenor immer wieder gelang, die Worte „atonal“ und „Qual“ zwischen meinen Fingerritzen hindurch zu pressen.

Seit diesem Vorfall haben wir uns nicht mehr gesehen, denn seither verlässt mein Sohn sein Kinderzimmer nur noch zum Zähneputzen und um auf die Toilette zu gehen. Auf seinem ipad habe ich das Internet deaktiviert und einzig und allein meine Gesamtaufnahme des Werkes von Anton Webern unter Leitung von Pierre Boulez installiert. „Ist Musik atonal …“ Es ist nie zu spät, mit der Musikvermittlung zu beginnen.

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Musikjournalist, Dramaturg