Musikgeschichte – Mediengeschichte [4] Radiophone Musik des Radios

Am Ende der technischen Revolutionen der letzten Jahrzehnte steht einerseits das Internet – mit Podcasts, Blogs und mp3. Rundfunk als öffentlicher Nahverkehr. [Hier scheint Brechts Utopie wahr zu werden, dass Lautsprecher zu Mikrophonen und Mikrophone zu Lautsprechern werden.] Auf der anderen Seite – um im Bild zu bleiben – aufnahme- und wiedergabetechnische Formel 1-Technologie: 5.1 Surround-Sound.

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Zu den eigentümlichen Eigenarten der Musik, die für das Massenmedium Radio im Laufe der letzten Jahrzehnte entstanden ist, gehört es, dass sich die Produzenten recht wenig um die Möglichkeiten des Mediums zu scheren scheinen. Ja, die fürs Radio komponierte Musik scheint stellenweise gar proportional bedeutend im Verhältnis zu ihrer „Radiountauglichkeit“.

Medien sind nicht nur Ausweitungen unserer Sinnesorgane, sie verändern die Wahrnehmung unserer Welt. Wie schon angedeutet, ist mit einem neuen Medium eben nicht nur ein altes verändert, sondern etwas ganz neues da, was es ermöglicht, die Welt anders wahrzunehmen.

Hier ist nun zu sehen, wie das Radio Wahrnehmungsmöglichkeiten schafft, die auf die Ästhetik zurückwirken und wie ästhetische Produkte zur Voraussetzung technischer Entwicklungen werden.Es drängt sich geradezu auf, einige Wechselwirkungen in Form einer kleinen Geschichte des Missbrauchs zu erzählen. Friedrich Kittler beispielsweise hat uns gelehrt in Medientechnologie Radio ist entstanden als Missbrauch von Kriegstechnologie. Elektronische Musik ist „folgerichtig“ entstanden als Missbrauch von Rundfunktechnik.
Diese ganz neue Musik trat zunächst als Musik an, „die man nur am Lautsprecher hören kann.“ Eine Obsession der Klangfarbe, war die musikhistorische Folge: weil man nichts mehr sehen konnte, wurde Klangfarbenmusik zum Thema der Stunde. Durch die „Echtzeitübertragungen“ wurde Musik im Radio zum Medium der Zeiterfahrung. War die Zeit vor 1900 eine Zeit der Speichermedien, so wird die Zeit nach 1900 zum Zeitalter der Übertragungsmedien. Die Idee der Raummusik verwirklicht sich im Radio selbst: Radio ist Musik im Raum.
Auch andere Themen, die für Komponisten des 20. Jahrhunderts wichtig geworden sind, scheinen durch die Medienerfahrung präfiguriert. Zum Beispiel das Thema Simultanität. Durch die Vereinigung zu einer psychologischen Masse, durch die Gleichzeitigkeit, die das Radio zu schaffen in der Lage ist, wird die Wirklichkeit erst als eine in zahlreiche, simultan stattfindende fragmentierte Einzelereignisse erfahrbar. Das Radio schafft also die Voraussetzungen dafür, dass sich Komponisten im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Phänomen der Simultaneität beschäftigen.

Nicht anders verhält es sich mit der elektronischen Musik. An keinem anderen Ort als in einem Funkhaus hätte die elektronische Musik entstehen können. Hier stand in Form von Tonbandmaschinen, Sinus- und Rauschgeneratoren sowie Filtern das Instrumentarium bereit, mit dessen Hilfe die neuen Klangwelten generiert wurden. Zu Musikinstrumenten wurden diese Geräte jedoch erst durch ihre phantasievolle Zweckentfremdung. Nicht unter Zuhilfenahme teurer Instrumente wie des Trautoniums oder des Bode-Melochords sondern dank der kollegialen Leihgabe der Abteilung Messtechnik rückte die Musik die klingt, „wie nichts auf dieser Welt“ in greifbare Nähe. Doch vor dem Take-off in fremde Schallgalaxien stand die Suche.

Mit Stockhausens Gesang der Jünglinge begann sich die genuin radiofonische Musik bereits vom Rundfunk zu emanzipieren: während der Sendebetrieb erst ab 1964 auf Stereo umgestellt wurde, konzipierte Stockhausen seinen Gesang bereits als fünfkanalige Komposition.

Leider habe ich hier nur die Transkription einer historischen Unterhaltung zwischen dem damaligen Intendanten des Westdeutschen Rundfunks und dem Komponisten Karlheinz Stockhausen. In Ermangelung des O-Tons werde ich dieses Gespräch nun so lebendig wie möglich wiedergeben.

„Sagen Sie mal, Stockhausen, wozu brauchen wir im Rundfunk überhaupt ein elektronisches Studio? Es reicht doch überhaupt, wenn die Musikhochschule eins hat.“ Ich sag: „Wieso das denn? Ich dachte, wir machen radiofonische Musik. Wir wollen doch was Neues entdecken“ und so weiter. Sagt er: „Ja, aber entschuldigen Sie, Stockhausen, Sie sind ja naiv. Ein Rundfunk hat die Aufgabe zu unterhalten und gar nichts anderes und nicht zu forschen und nicht zu entdecken. Und das, was Sie da wollen, das ist ja ganz was anderes. Das können Sie irgendwo in einem Forschungsinstitut machen.“ Ich sag: „Was ist ‚irgendein‘? Gibt es nicht.“ Und wir hatten doch gedacht, der Rundfunk hätte ’ne ganz neue Funktion in der Menschheit. Genauso wie die neuen Medien uns doch eigentlich neue Räume und neue Welten öffnen sollen, die die alten uns nicht öffnen können. Sagt er: „Nein, nein, Stockhausen, Sie sind naiv.“ Na gut.

Mit dieser vermeintlichen „Naivität“ hat sich Köln an die Weltspitze gesetzt. Nach dem Vorbild im Funkhaus am Wallrafplatz wurden auf der ganzen Welt elektronische Studios gegründet: in Tokio, Mailand, München, Warschau, Brüssel und New York – diese Reihe setzte sich in den 60er Jahren weiter fort.

Der Missbrauch von Technologie scheint dem Medium also inhärent zu sein. Und wenn Komponisten nun Musik schreiben, die dem Medium zuwiderläuft, scheint es sich hier um nichts weiteres als eine Tradition des Missbrauchs zu handeln, die fortgeführt wird.

Oder anders: Die These drängt sich geradezu auf, dass die Ästhetik schlichtweg der Technik jeweils um einige Jahre voraus war. Die Investition in die Musik der Zeit ist eine Investition in die Zukunft des Radios. Denn noch wissen wir nicht, wann die Übertragungstechnik die Aufführungspraxis einholt. So lange dieser Punkt nicht erreicht ist, haben Auftragskompositionen im Rundfunk ihre Legitimation. Oder um es mit Karlheinz Stockhausen zu formulieren: „Irgendein – gibt es nicht.“

Was für Musik wird heute in Auftrag gegeben? Hier stehen erneut alle Zeichen darauf, die Fixierung auf das Ohr eines Tages aufzugeben – in Richtung einer integrativen Ästheti, auf die Einbindung aller Sinne.

Radiokunstkultur spiegelt insofern die Merkmale einer integrativen Ästhetik – Adorno sprach von einer „Verfransung der Künste“ – und wird somit zum Vorreiter einer integrativen Medienwirklichkeit. Wer sich darunter nichts vorstellen kann, der möge sein Mobiltelephon in die Hand nehmen….

Als Beleg für meine Hypothese mögen die angegebenen Beispiel nicht ausreichend sein. Doch die Tendenz belibt die selbst. Form follows function, dieser Leitsatz mag für Konsumforscher, Marketingstrategen und Designer interessant sein. Für das Radio der Zukunft muss er heißen: form follows fiction.

Für das Drehbuch zeichnet Aldous Huxley schon 1932 verantwortlich: „Gehst du heute Abend ins Fühlkino, Henry? Fragte der Prädestinationsassisten. ‚Der Film im Gloria-Palast soll prima sein. Es kommt eine Liebesszene auf einem Bärenfell darin vor. Einfach wundervoll, sagen die Leute. Man spürt jedes einzelne Bärenhaar. Unglaubliche Fühleffekte.“

[Fortsetzung folgt]

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Musikjournalist, Dramaturg