Unter Pasolini mach ich’s nicht
Oder: Wann verlässt uns der Schnee-Yeti?
Es gibt Tage, an denen geht alles schief. Der geplante Zug, der mich so rechtzeitig nach Berlin gebracht hätte, dass ich das frühe Aufstehen mit einem Nachmittagsschlaf hätte kompensieren können, fällt aus. Dies hat den Vorteil, dass ich noch die Post abfangen und damit den bereits erwarteten abschlägigen Bescheid nach dem letzten Vorstellungsgespräch aus dem Briefkasten fischen kann. Als ich im Begriff bin, zu gehen, ereilt mich ein Telefonanruf mit der Bitte, noch einige Dinge bis 14 Uhr zu verschicken. Auf der Strecke zwischen Köln und Bielefeld gibt es fast nie Netz – ich verspreche, den Termin einzuhalten, obwohl ich weiß, dass ich es nicht kann.
Der Koffer ist schnell gepackt, denn er war gar nicht ausgepackt, nur die schmutzigen Sachen und die liegen ohnehin gerade noch im Trockner, sauber jetzt. Also wieder ab in den Koffer. Der Regionalexpress hat Verspätung und vor meiner sprichwörtlichen Nase, fährt der ICE davon. Ick bin kein Berliner.
Im Zugrestaurant ab Hamm Nahkampf um einen Sitzplatz, psychisch zerrüttete Afghanistanheimkehrer oder Grundausbildungssoldaten, oder ist das inzwischen dasselbe, erklären den Zugflur zur Partyzone. „Ick will na Spandau.“ Ja, du, Ick auch.
Es wäre die Gelegenheit, sich auf das Wochenende stornographisch vorzubereiten. Gegenwartsstornographisch, um genau zu sein und das geht so: Man stenographiere einen Augenblick aus der Realität und überführe ihn damit ins Reich der Fiktion, lösche ihn mithin aus der Bilanz der Realität, was im guten Buchhalterdeutsch ein Storno ist. Das schöne an dieser Form des Stornographierens gegenüber der Buchhaltung ist der Umstand, dass mit einem erhöhten Stornoaufkommen in der Regel kein Verlust, sondern eine reziproke Steigerung des poetischen Mehrwerts einhergeht.
Doch im Zugrestaurant ist es still, zu still. Und das Schlimme an dieser Stille ist, dass sie immer von den Gespenstern genutzt wird, die in meinem unterbewussten hausen und nun wieder beginnen, mir ins Ohr zu säuseln:
Schopenhauer, Hegel, Kant,
Wittgenstein, Wittgenstein,
Pasolini, Sartre, Marx,
das muss sein, das muss sein.
So beginnt, fast immer auf dieselbe Art ihr Gesäuse. Und ich sage nun bewusst Gesäuse, denn ein l am Ende dieses Worts würde die Angelegenheit verniedlichen und das ist sie ganz und gar nicht.
Das erste Mal, dass sich meine Geister bemerkbar machten, war vor ungefähr zehn Jahren. Ich saß damals mit einem Freund inmitten eines großen Stapels Papier, selbstbeschriebenem und fremdbedrucktem, und wir übertrumpften uns mit Ideen, wie die Welt umzukrempeln wäre. Oder genauer gesagt: mein Freund übertrumpfte mich, nicht nur in der Fertigkeit, Zigaretten zu drehen, sondern auch darin, Kopernikus und Galilei zu Stümpern zu stempeln.
„Das Opfer des Verstandes ist die katastrophische Dimension des totalitären Terrorismus mit dem wir uns seit der Aufklärung in ihrer dialektischen Hinsicht…“
Jedesmal, wenn er dialektisch sagte, bekam ich einen Schluckauf und es wurde mir schwer, ihm zu folgen. Er lispelte unbeirrt mit leichtem fränkischen Akzent weiter und tat das in der Gewissheit, dass auch andere es mit Dialekt weit gebracht haben.
„… und darin auch liegt die artistisch-artifizielle Möglichkeit, im sacrificium intellectus …“
während dieser Worte fielen unablässig kleine Aschehäufchen von der Spitze seiner Selbstgedrehten in den ungespülten Kaffebecher, der ihm zur Einnahme jeglicher flüssiger Substanzen diente und mit dem er auch seine Blumen zu gießen pflegte. Ich beschloss, nichts zu sagen um das Erblühen der immergrünen Zimmerpflanzen und den Gang der Weltrevolution nicht zu gefährden. Mir nichts anmerken zu lassen, ließ ich meinen Blick über die offene Tür seines Nachtschränkchens schweifen, wo er Aktfotos all seiner verflossenen Geliebten bewahrte. Er nannte es, sein „Archiv des Es“.
„Meinst Du nicht, unterbrach ich ihn schließlich doch, dass das Fatale und Schwierige an der Angelegenheit ist, dass das Meiste von dem, was wir hier denken, schon von jemandem gedacht und gemacht worden ist? Dass es unglaublich schwer ist, zu einer eigenen Position zu kommen?“
„Unsinn!“ sagte er, während er sich eine ganze Banane mit einem Mal in den Mund schob. „Es ist unsere Aufgabe, uns an die Spitze der regressiven Moderne zu stellen und quasi solcherart die Fabrikation der Fiktionen zu multiplizieren, dass wir sie mit sich selbst hoch nehmen, multipliziert mit dem Faktor Gestern-heute-morgen, Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft! Kairos!“
Bei dem Wort Kairos warf er die Banenenschale in Richtung der überquellenden Einkaufstüte, die ihm als Müllsack diente. Er verfehlte sie nur knapp.
„Aber das ist ja genau unser Problem! Dass es so viel ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und dass ich mit der Gegenwart noch nicht einmal zurande komme. Es gibt so viel, was ich kennen müsste! Und es gibt so wenig, das ich weiß.“
„Ha!“ Mit einem verächtlichen Laut sprang er von seiner am Boden liegenden Matratze auf, die schon viele Formen der Ausschweifung gesehen hatte. „Du musst Dich darüber erheben. Sieh her!“ Er begann, sich auf der Stelle zu drehen, die Arme eng um seinen Körper geschlungen, murmelte Unverständliches und ging dabei immer weiter in die Hocke. Auf seinem tiefsten Punkt angekommen, streckte sich der gesamte Leib, kreiselte immer schneller und wuchs dabei förmlich über sich hinaus. Als nur noch seine Umrisse zu erkennen waren, löste sich mein Freund mit einer leisen Verpuffung auf. Es blieb nichts von ihm zurück, als sein fleckiges Unterhemd und die ausgebeulte Freizeithose. Eine Unterhose konnte man offenbar auch dort brauchen wohin er sich transsubstantiiert hatte.
Eine Weile wartete ich, ob er zurückkehrte und vertrieb mir die Zeit mit einer eingehenden Sichtung seines „Archiv des Es“. Darüber war es Abend geworden. C., so hieß mein Freund, war nicht wieder aufgetaucht. Ich goß seine Blumen ein letztes Mal, warf die Bananenschale in die Tüte und brachte sie zu den Tonnen im Hof, ohne mir die Mühe zu machen, den Müll zu trennen.
Bis heute habe ich seine Wohnung nicht mehr aufgesucht und habe auch nichts mehr von ihm gehört. Seither jedoch steigen jedes Mal, wenn ich vor einem leeren Papier sitze und sei es ein virtuelles, wie gerade in meinem Laptop, seither steigen, wenn es still wird, die Stimmen auf. Sie sagen:
Schopenhauer, Hegel, Kant,
Wittgenstein, Wittgenstein,
Pasolini, Sartre, Marx,
das muss sein, das muss sein.
Manchmal gelingt es mir, stärker zu sein als diese Stimmen. Meistens jedoch nicht. Man muss ihnen den Eindruck vermitteln, dass sie Teil dessen sind, was da die weiße Fläche verdrängt. Dann ist es gleich, wie ihr Refrain lautet. Marthalstorfpolleschlingenzekslotterdeuzederridada.
Und Berlin ist immer noch weit.
Musikjournalist, Dramaturg
Eine beeindrückend dransparente Sehnsuchtserklärung….