die entdeckung der nahsamkeit

„Die Welt rückt zusammen.“ Solche Formulierungen hat man bereits häufiger gehört. Nicht nur unter dem Gefühl der Bedrohung. Schon in der Welt vor dem Sündenfall – der Vorratsdatenspeicherung – drückte „das globale Dorf“ von Marshall McLuhan das eigentümliche Wechselverhältnis von Globalisierung und Provinzialisierung aus. Doch was steckt hinter der treffenden Metapher: die Diagnose? Oder die Sehnsucht nach der Kachelofenwärme der kleinen Gemeinschaft angesichts zunehmend funktionaler Kommunikation?

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Gesetzt, es wäre tatsächlich noch ein Hauch dran an der Vermutung, dass künstlerische Produktionen noch etwas anderes sind als die Verschwendung öffentlicher – häufiger – und privater – weniger häufig – Gelder; dass hier tatsächlich eine Gesellschaft, ja, auf einer Bühne, etwas über sich selbst verhandelt. Dann könnte man gegenwärtig ausgerechnet im zeitgenössischen Musiktheater Aufregendes entdecken. (Und zwar nicht nur im Fernsehen!) Auch auf einem Feld, das eher nicht im Verdacht steht, gesellschaftliche oder ästhetische Tendenzen zu antizipieren, scheint es, als solle Distanz, nicht anders als in der übrigen Welt, zum Verschwinden gebracht werden.

"Welt, bist Du mir abhanden gekommen?" - Probenfoto Autland / Ruhrtriennale / Michael Kneffel

„War das nicht schon immer so?“, könnte der berechtigte Einwand lauten. Zielte nicht auch schon die antike Tragödie darauf ab, Darsteller und Publikum in einem rauschhaften Zustand der Empathie miteinander zu vermählen? Die Grenzen des Ich einzureißen und sie in ein kollektives Ich übergehen zu lassen, in einen einzigen zitternden, katatonischen Leib? Auch hier schwindet doch die Distanz bis zur Selbstaufgabe. – Das mag sein. Doch der Weg dorthin ist ein anderer. Er pflegt einen anderen Umgang mit der Distanz. Beispielsweise zitiert Friedrich Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ein Wort Friedrich Schillers, nach dem der Chor „eine lebendige Mauer sei“, die die Tragödie um sich herum zieht, „um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.“

Die antike Tragödie hat, nach der Deutung Friedrich Schlegels, das Spiel mit der Distanz gar so weit getrieben, dass es dem Publikum nicht bloß eine Handlung als eine ihm äußerliche vorgestellt hat. Es hat auch noch das Publikum für sich selbst entäußert, indem es einen Chor als „idealischen“ Rezipienten – hier stockt dem Nietzsche-Leser das Wort im Mund –auf die Bühne gestellt hat; um es im entscheidenden Maß anzuleiten aus sich heraus zu gehen.

Mit einem Chor beginnt auch dieses Nachdenken über die Entdeckung der „Nahsamkeit“: Dem Chor in der Moses und Aron-Inszenierung des Ruhrtriennale-Intendanten Willy Decker, die für so viel Aufsehen gesorgt hat. Für einen magischen „Urmoment“ – nach denen er ja in diesem Jahr suchen lässt – verwandelt Decker das Publikum, das sich auf zwei steil aufragenden Tribünen gegenüber sitzt, in den brennenden Dornbusch, aus dem Gott selbst spricht. Die Choristen des Chorwerks Ruhr hatten sich unter die Zuschauer gemischt und sangen nun – als einzelne unter einzelnen – ihre Chorpartien. Und ließen diesen Musiktheaterabend gleichsam aus dem Nichts, das unsere Mitte war, entspringen. Greifbar, durch jede Pore spürbar, glomm vom Platz nebenan der Gesang auf. Und wer je so nah, so unziemlich nah, auf eine Entfernung die man sonst nur sehr vertrauten Personen zugesteht, einen Menschen hat singen hören, weiß, dass solch ein Augenblick von schier unfassbarer Intensität sein kann.

Im zeitgenössischen Musiktheater ist man mit solch intimen Momenten der Wahrnehmung von Musik bereits seit längerem vertraut. Vor allem Dank Manos Tsangaris, der seinen Hörern in immer wieder neuen, phantasievollen Miniaturen vor Augen und Ohren führt, dass einem die Dinge sehr nahe kommen können – beziehungsweise dass man sie sich sehr genau anschauen kann und dass sie dann anders aussehen. Tsangaris verzichtet dabei sehr häufig auf jene Distanz, die eine Bühne bedeutet. Auf die Rampe, auf der, in Rübensaft geschrieben, der große Vertrag steht: „ich weiß, dass dein Bühnentod nicht echt ist, darum nehme ich ihn für wahr.“ Doch bleibt diese Grenze vorhanden, sie bleibt gewahrt. Ein Zuschauer weiß bei Manos Tsangaris, dass er ein Zuschauer bleiben kann – selbst dann, wenn er beim Zuschauen feststellen muss, dass ihm beim Zuschauen Zuschauer zugesehen haben, so unterzieht er sich dem neu erfundenen Aufführungsritual wie ein uneingebildeter Patient, der von einem wohlgesinnten Schamanen einer kleinen Behandlung der Wahrnehmungsorgane unterzogen wird. (Oder wie ein Gast in einem ausgefallenen Restaurant, der sicher durch ein abenteuerliches Menü geleitet wird, bei dem er seine Wahrnehmung neu justiert – wo er jedoch keine Gefahr läuft, einen „falschen Weg“ zu nehmen. Es sei denn, dass er sich zu spät in die Schlange einreiht, die sich vor den meisten seiner oft für nur sehr wenige Personen konzipierten Stücke aufbaut.)

In Donaueschingen, in nur knapp 14 Tagen, wird Tsangaris vermutlich erneut etwas gelingen, was nur sehr wenige Künstler schaffen. (Darum ist er auch ein Großer.) Wenn er das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg in ein „mäanderndes Orchester“ verwandelt, so werden vermutlich zahlreiche Besucher ihre persönliche „musikalische Bespielung“ mit einem verschämten bis seligen Lächeln verlassen. Welcher andere zeitgenössische Komponist kann das schon von sich sagen? Ohne Gewalt anzuwenden, überschreitet Tsangaris die Grenzen zu seinem Zuschauer. Und das Wort Grenzüberschreitung hat er dafür gar nicht erst nötig.

Auf ganz andere Weise überschreitet auch Carola Bauckholt, gemeinsam mit Tsangaris der Kagel-Schule entwachsen, die Schwelle zu jedem Einzelnen ihrer Zuschauer. Wenn sie unsere Alltagsgegenstände als Musikinstrumente gebraucht, so entführt sie uns oberflächlich betrachtet in eine Welt, die uns aus der Kunst und der Musik des 20. Jahrhunderts vertraut ist: die Sphäre der Ready-Mades und Objets trouvés, der vorgefundenen Dinge, die ausgestellt ihren „Zeugcharakter“ ablegen und ihren „Werk-“ und damit ihren „Kunstcharakter“ offenbaren. Doch sie geht darüber hinaus, denn sie paart ungewöhnliche Klangerzeuger mit gewöhnlichen Instrumenten und schafft dadurch eine eigentümliche Klangwelt, in der sich Kunst und Natur gegenseitig infizieren. Es ist ein Reich voller Ambivalenzen, in dem unser Ohr wieder ganz zum „Organ der Furcht“ wird, als das wir es aus der Nacht kennen. Die Musik „wühlt sich hinein“ in Geräuschwelten und reißt den Hörer wie in einem Strudel in die Sphäre des Unterbewussten. Dorthin, wo die Erinnerungen liegen und sich in traumartigem Regredieren zu neuen Bildern vermischen, ablegen und fortleben.

Stärker noch als jede andere geräuschhafte Musik sucht solch ein Theater den Dialog mit der Hörbiographie des Einzelnen. Sicher: auch beim Hören eines Lachenmann spielt die gesamte Hörerinnerung hinein. Doch es fehlt solcher Musik das deiktische Moment der konkreten Hörobjekte von Carola Bauckholt. Ist das nicht der gleiche Effekt wie bei konkreter elektronischer Musik? Nein und das kann es auch nicht sein. Hinzu kommt, dass man sieht, auf welche besondere Weise die Klänge hervorgebracht werden, wie sich die Welten vermischen. Ein vielleicht unnötiger Beweis, dass der vermeintlich „alte Hund“ instrumentales Theater noch lange nicht tot ist. Georges Delnons Inszenierung des Musiktheaters hellhörig hat dies deutlich gemacht, indem sie der inhärenten Choreographie der Bauckholtschen Musik, keine weitere mächtige Bildebene übergestülpt hat. Im hölzernen „Resonanzkörper“, den Roland Aeschlimann als Bühne und Zuschauerraum zugleich gebaut hatte, wurde der Zuschauer nicht nur im metaphorischen Sinne in Schwingung versetzt. [In einer neuen Produktion kann man am Sonntag dieses Musiktheaterstück auf WDR 3 im 5.1 Surround-Sound hören.]

So rund wie der Raum dieses hellhörigen Musiktheaters von Carola Bauckholt, umfängt auch die Bühne Justyna Jaszczuks den Besucher von Autland, dem „Kanon für ein unersättliches Gehirn“, der am 2. Oktober bei der Ruhrtriennale Premiere hatte. Mit einem Unterschied: hier sitzt der Zuschauer im Zentrum, nicht am Rand. Im „Autland“ das die Regisseurin Beate Baron um einen vielstimmigen Kanon von Johannes Ockeghem entwickelte, ist die Grenze zwischen Akteur und Darsteller fließend – die 24 Stimmen, die diesen Musiktheaterabend vollkommen ohne instrumentale Unterstützung tragen, befinden sich unter den Zuschauern. Auch hier erlebt man neu und anders von seinem Drehstuhl aus, einen Urmoment.

Autland (Ausschnitt, Soundfile. Achtung: Beginn sehr leise und geräuschhaft. Probenmitschnitt der Ruhrtriennale mit VocaalLAB Nederland, Vocalensemble Kassel, Ltg. Titus Engel)

Sergej Newskis Musik führt gleichsam vor Ohren, wie vor sehr langer Zeit einmal Sprache entstanden sein könnte. Aus amorphen Lauten erwächst am Ende vielstimmiger Gesang. Neben uns, hinter uns, vor uns – und durch uns hindurch. Kein Zweifel: der Abstand zu den Nachbarn ringsum verringert sich nie, er wird auch nie größer. Allein die Musik weitet den Himmel über Autland – und lässt ihn uns auch gelegentlich auf den Kopf fallen. Hier wähnt man sich selbst tatsächlich „Choreut“, wie Nietzsche ihn beschreibt: „Der metaphysische Trost – mit welchem […] uns jede wahre Tragödie entlässt –, dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhaftiger Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Zivilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben. Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene […]. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“

"Verloren? Gerettet?" - Probenfoto Autland / Ruhrtriennale / Michael Kneffel

Dass das Musiktheater seinem Zuschauer heute „näher“ gekommen ist, vielleicht spricht sich das ja auch mal zu den Tanten und Onkeln vom Feuilleton herum, die ihren „Wahnfried“ offenbar nur noch zwischen Thielemann-Titeln und Wagner-Schwestern-Tratsch finden können. Doch solche Nähe muss man erst einmal zulassen können.

Termine Autland: 5., 6., 8., 9. Oktober, jeweils 20 Uhr, Jahrhunderthalle Bochum, Info unter www.ruhrtriennale.de

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Musikjournalist, Dramaturg

Eine Antwort

  1. 3. Oktober 2009

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