Es, es, es und es – ist das ein falscher Schluss? (Teil 3, Gastbeitrag von Wendelin Bitzan)
Was ist eigentlich mit den Tongeschlechtern? Diese Frage beantwortet uns Wendelin im dritten Teil seines Artikels…
Die Durlacher Mollkerei: Moll un Dur – wat is dit nur?
Nachdem mit dem pitch gender bereits vom Eigengeschlecht einzelner Töne die Rede war, verfolgen wir nun den Begriff des ›Tongeschlechts‹ noch ein wenig weiter. Der Terminus ist seit dem 18. Jahrhundert als Übersetzung des griechischen γενος bzw. des lateinischen genus in Gebrauch und bezeichnet die geschlechtliche Orientierung einer Gruppe von Tönen (Skala oder Akkord). Im historischen Rückblick werden etwa seit dem beginnenden Barockzeitalter, nachdem die Kirchentonarten an Bedeutung verloren haben, zwei Genera namens Dur und Moll unterschieden – wieder haben wir es mit einem polaren Gegensatzpaar zu tun. Traditionell finden wir als Vorläufer der heute geläufigen Bezeichnungen durus und mollis (hart und weich) das Adjektivpaar maior und minor (größer und kleiner), das sich auf die tonal distinktive Terz über dem Grundton bezieht. Der dritte Skalenton ist damit so etwas wie ein primäres Geschlechtsmerkmal für Skalen und Dreiklänge und identifiziert folglich das key gender eines Klanges.
Für die Genderforschung erscheinen die aus der taktilen Sinneswelt entlehnten Attribute der ›Härte‹ und ›Weichheit‹ ungleich interessanter als die schiere Größenbezeichnung der Terz, zumal die ersteren schon immer auch mit den humanen Geschlechtern in Verbindung gebracht worden sind: Dur = hart = männlich vs. Moll = weich = weiblich. An dieser Stelle, man ahnt es bereits, müssen unausweichlich einige Klischees der chauvinistischen Musikrezeption der Vergangenheit bemüht werden. Verzeihen wir aber unseren Vorvätern und musikalischen Hausgöttern: Die Verengung musikalischer diversity auf eine derartig platte Dialektik ist bei Beethoven (»die zwei Principe«) und Schumann (»Dur ist das handelnde männliche Prinzip, Moll das leidende weibliche«) klar dem patriarchalischen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts verpflichtet.1 In jüngerer Zeit hingegen, spätestens aber seit Adorno, geht man bei Strapazierung dieser oder ähnlicher Assoziationen das Risiko ein, umgehend von der versammelten Wissenschaftsgemeinde zerfleischt zu werden. Dass Härte- und Weichheitsgrade in der Musik wie in ihrer Darstellung ein höchst diffuses und subjektives Kriterium abgeben, wissen wir nicht erst seit dem Tag, da Conchita Wurst uns mit der skandalösen Divergenz von äußerer Erscheinung und Stimmklang brüskierte – bereits zur Blütezeit des Kastratentums (Männer mit weicher Stimme, weichen Bäuchen und weichen primären Geschlechtsorganen) konnten derartige Festlegungen schnell auf dünnes Eis führen. Selbstverständlich haben wir uns vor einer starren Zuordnung von Geschlecht und Tongeschlecht zu hüten! Ansonsten wären Gestalten wie a-Moll Schönberg und Peter Michael h-Moll tatsächlich Transgender-Komponisten, zumindest auf dem Papier, während die Herren As-Dur Piazzolla und A-Dur Honegger ihr tonales Rollenbild zur Genüge bedienen. Aber dennoch: Irgendetwas scheint doch dran zu sein an dieser scheinbar so oberflächlichen Polarisierung. Wir werden später noch darauf zurück kommen.
Eine auffällige Beobachtung darf hier nicht fehlen: Der Ton (tonos, tono, tone, sonus, son, som, zvuk, dzwiek) ist in den meisten indoeuropäischen Sprachen ein männliches Substantiv; die Tonart und die Tonleiter hingegen sind feminin (ebenso wie scala, escala, scale, škala bzw. gamma, gamme, gamut, klimaka, stupnice). Bezeichnen wir, horribile dictu, einen männlichen Dirigenten als einen ›Tonleiter‹ (also: einen autoritären Taktstockdespoten alter Schule, der immer großen Terz macht), gelangen wir im Folgeschluss zu einer Worthülse wie ›Tonleiter_innen‹ für Kapellmeisternde beiderlei Geschlechts. Schön ist das nicht, und zudem demonstriert man mit einer solchen Ausdrucksweise sprachästhetisches Vollversagen. Wenn wir allerdings schon einmal dabei sind, uns gegen etablierte Normen und ungeschriebene Gesetzmäßigkeiten der Musikkultur zu vergehen: Selbst wenn sich die hysterische Aufführungspraxis für die Realisierung ›alter‹ und ›älterer‹ Musik auf breiter Basis durchgesetzt hat und auch für die Interpretationsforschung quasi eine alternativlose Doktrin darstellt, erachte ich his-Dorisch, eine modale Tonart, die durch ihre kleine Terz zum ›schönen Tongeschlecht‹ tendiert, deren key gender aufgrund des maskulinen Grundtons his allerdings ambivalent bleibt (vgl. Abbildung 2), für die Aufführung als unpraktisch. Sowieso: wenn schon his, dann müsste es auch ein weibliches Äquivalent her-Dorisch geben.2 Aber wo soll das alles hinführen?
Am besten wird es sein, wir werfen alle diese pauschalen Zuordnungs- und Etikettierungsversuche ein für allemal über Bord. Musik war und ist stets ein raffiniertes Spiel mit den Tongeschlechtern, mit Erwartungshaltungen und enttäuschten Hoffnungen, mit zeitweiligen und permanenten tonalen Transformationen. Trugschlüsse und cadenze sfuggite stehen für die Abkehr vor der Konvention, für das stetige Bestreben der Klänge nach Abwechslung bei der Wahl ihrer harmonischen Partnerschaften. Ein konsonanter Dreiklang enthält sowohl eine Dur- als auch eine Mollterz, ist also per se androgyn; musikalische Kompositionen, die sich aus Dreiklängen zusammensetzen, sind folglich bunte und polymorphe Gebilde, und sie auf ein einseitiges Dur-Sein oder Moll-Sein festlegen zu wollen, hieße, ihre Vielseitigkeit und Wandelbarkeit zu leugnen. Auch unter Vierklängen herrscht keine tongeschlechtliche Eindeutigkeit: Fügt man einem Dur-Dreiklang eine große Sexte hinzu, kann dieser auch als erste Umkehrung eines Moll-Septakkords gedeutet werden; das sogenannte sexe ajouté entsteht, ein hochgradig ambivalentes Tongeschlecht, dessen Grundton und Gender im Auge der betrachtenden Person liegen.3
In der Spätromantik sind, als Resultat dieser widerstreitenden Energien, musikalische Ambiguitäten bis hin zur Koexistenz der Tongeschlechter (in Gestalt von harmonischen Zwittern mit gleichzeitig erklingenden Dur- und Molldreiklängen) zu beobachten. In letzter Konsequenz führen diese Entwicklungen jedoch zur völligen Preisgabe des musikalischen Gender – es folgt schließlich die Hinwendung zur Atonalität. Nachdem uns Queerness, Transgendertum und Transsexualität durch die Musikgeschichte begleitet haben, wählen Komponierende ab dem frühen 20. Jahrhundert regelmäßig die Möglichkeit, völlige Geschlechtslosigkeit auf tonsetzerischer Ebene darzustellen. Wenn ein Tongeschlecht nicht mehr objektiv feststellbar ist, so ist Geschlechtsneutralität zumindest formell erreicht; wenn sich außerdem Hoch- und Tiefalterationen die Waage halten, wie es in dodekaphonen Kompositionen angestrebt wird, so ist der gender equality in besonderem Maße Genüge getan. Was fängt man aber mit Zwölftonwerken an, wenn sie dann doch Tongeschlechter ausprägen? Müssen wir Alban Bergs Violinkonzert, dessen Reihe beständig zwischen Dur- und Moll-Dreiklängen oszilliert, als anachronistisches Gender-Hybrid verurteilen? Findet hier mehrfache, also ›reihenweise‹ Geschlechtsumwandlung statt? Oder verfolgt der Komponist einfach nur ein ›Terzensanliegen‹? Fragen über Fragen, auf die weder die traditionelle Genderforschung noch unser musikimmanenter Ansatz eine befriedigende Antwort zu geben vermag.
(Fortsetzung in Teil 4)
- Robert Schumann, »Charakteristik der Tonarten« (1842), in: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Wiesbaden 1979, S. 65. Der Beethoven-Aphorismus ist nicht schriftlich belegt und wurde vor allem durch dessen ersten Biographen Anton Schindler kolportiert. ↩
- So weit her-geholt, wie es scheint, ist diese Idee gar nicht: Im Kontext feministischer Forschung und der queer theory dient der Begriff herstory als Schlagwort für eine Geschichtsbetrachtung aus weiblicher Sicht. So erscheint es nur folgerichtig, dass ein genderbezogenes Musikforschungsprojekt der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie eine daraus hervorgegangene Publikation (History / Herstory. Alternative Musikgeschichten, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben, Wien 2009) auf diesen Namen hört. Aber warum fällt niemandem auf, dass das Wort eigentlich ›hertory‹ lauten müsste? ↩
- Den Hinweis auf die gendertheoretische Relevanz des sexe ajouté verdanke ich Hartmut Fladt. Ein Problembewusstsein für die irritierende Ambivalenz dieses Klangs existierte allerdings bereits im 18. Jahrhundert, dessen Janusköpfigkeit von Jean-Philippe Rameau als double emploi bezeichnet wurde. ↩